Der Morgen zeigt sich noch immer stürmisch und mit hoher Wolkenbedeckung. Umso ausgesetzter fühlen wir uns beim Verstauen des Gepäcks auf die beiden vier Meter langen Schlitten. Alles muss für die zwölf Expeditionstage mitgeführt werden. Nur nicht das Wasser, das Ooqe und Arqalo täglich aus dem omnipräsenten Schnee schmelzen werden. Keine Körperpflege wird in dieser Zeit möglich sein, dafür völlige Hingabe an den arktischen Winter, mit vollem Vertrauen auf die beiden Inuitjäger und ihre Hundeteams und viel Zeit zum Beobachten und Meditieren der eisigen Berg- und Fjordlandschaft.

Bizarre Presseishügel bedecken eine Bucht des Scorsby Sund.
Foto: Christoph Ruhsam
Bleierne Wolken über den Sandsteinabhängen von Jameson Land.
Foto: Christoph Ruhsam

Martin und mich verbindet eine jahrzehntelange Freundschaft, die uns schon gemeinsam mit Ursi vor dreißig Jahren in den arktischen Sommer nach Grönland geführt hat. Ergänzt wird das Team durch Aud, die als eine von wenigen Norwegerinnen immer wieder auf den wirklich hohen Gipfeln des Himalayas und der Anden steht. Sie ist am besten von uns allen mit der Kälte vertraut und liebt die Schlittenhunde auf einer tiefen Gefühlsebene, denkt und fühlt wie sie und hat nach langen, anstrengenden Etappen immer ein Leckerli für sie bereit.

Verbunden mit den Hunden auf einer tieferen Gefühlsebene.
Foto: Christoph Ruhsam

Christian ist mit seinem rötlichen Vollbart unser Nordlandbär, der selbst Tagesmärsche bis zu 40 Kilometer auf seinen Schneeschuhen zurücklegt und damit in der Ebene uns Skifahrern den Rang abläuft. An den Bergtagen sucht er sich eigene Routen und erlebt die Einsamkeit als solitärer Punkt in der weißen Weite von Liverpool Land. Ooqe und Arqalo aus Ittoqqortoormiit sind die Ruhepole der Expedition: Ihrer Erfahrung von Kindesbeinen an in der arktischen Weite zu leben und zu überleben ist der Garant für das Gelingen unseres Unternehmens. Wir schließen sie in unsere Herzen, trotz der Sprachbarrieren und kulturellen Unterschiede, die wir in den zwölf Tagen ausmachen.

Spiegelglattes Flusseis ist für die Hunde ein Herausforderung.
Foto: Christoph Ruhsam
Auf dem zugefrorenen Flussdelta im Gubbedal.
Foto: Christoph Ruhsam

Nun ziehen wir durch Landschaften aus Urgestein, erodierten Sandsteinfelsen, tiefen Tälern mit wüstenhaften Schotterflächen, Permafrostpolygonen und frosterstarrten, mäandernden Flüssen, aber auch heiße Quellen, tiefe Fjorde, durchzogen von eiszeitlichen Gletschern, entspringend aus mächtigen inlandeisähnlichen Eiskappen. Liverpool Land verdichtet die Formen von ganz Grönland auf einer Nord-Süd-Distanz von 200 Kilometer und einer West-Ost-Breite von 50 Kilometer: Grönland en petit.

Die beiden Schlitten sind oft viele Kilometer voneinander entfernt. Bei glatter, harter Bahn geht es zügig dahin. Bergauf oder in tiefem Schnee springen wir ab und schieben an den Schlitten, um den Hunden die harte Arbeit zu erleichtern. Mit den Winteroveralls läuft man wie ein träger Bär und kommt rasch ins Schwitzen und völlig außer Atem. Bergab springt Arqalo auf die Bremsen am Schlittenende und gräbt sie tief in den Schnee ein. Zusätzlich werden bei langen Abfahrten Bremsseile um die vorderen Schlittenkufen geworfen, die sich unter die Kufen schieben und so genügend Widerstand für den schweren Schlitten bieten, um nicht den Hunden über die Läufe zu fahren. Eisglatte Flächen bei Flussmündungen oder unter artesischem Druck quellenden Wasserstellen lassen die Schlitten in hoher Geschwindigkeit unkontrolliert dahingleiten. Die Hundepfoten haben dabei keinen Halt und wir erfahren die Gefährlichkeiten des Hundeschlittenreisens.

Aufstieg zu namenlosen Bergen: wir geben unserem Ziel am Palmsonntag den Namen "Palm Sunday Höyde".
Foto: Christoph Ruhsam
Ein Wetterumschwung bringt Schnee und White Out.
Foto: Christoph Ruhsam

In einem Nebental des Gubbedals verlassen wir die Schlitten und steigen mit unseren Skiern in das Skaldal auf. Der Schnee ist hart, aber auch wieder weich und tief, und die Sicht durch die hohe Wolkendecke ist diffus. Wir erkennen nicht, wo der Felsgrund aufhört und der Gletscher beginnt. Die Sonne verbirgt sich mehr und mehr hinter den immer dichteren Wolken – es sieht nach Schneefall aus, der dann auch langsam mit etwas Wind einsetzt. Die Sichtverhältnisse sind miserabel: White Out in allen Richtungen. In dem hoch gelegenen Gletscherbecken verschwinden die zackigen Bergkämme und der herabsinkende Schneenebel lässt jede Kontur verschwinden. Bergauf? Bergab? Geradeaus?

Langsam tasten wir uns wieder bergab, verlieren aber jegliches Gefühl für oben und unten und sind froh, wenn immer wieder ein anderer als erster vorangeht. Sein dunkler Umriss lässt etwas besser die unmittelbar vor einem liegende Geländeform erahnen. Wir schaffen es gerade noch vor dem völligen Nebeleinfall zurück zum Grete-Gletscher, wo die Hundeschlitten auf uns wartend in der Kälte ausharren. Überhitzt durch die Anstrengungen des langsamen Bergabtastens sitzen wir auf den Schlitten und fangen im Fahrtwind gegen den Sturm bald zu frösteln an. Die 10 Kilometer zurück zum Camp an der Mündung in den Hurry Fjord hätten wir auf den Skiern erst bei beginnender Nacht gemeistert.

Auf den Hundeschlitten schaffen wir es aber vor Einbruch der Dunkelheit. Dafür werden unsere Füße in den verschwitzten Skischuhen kalt und Unbehagen kommt auf. Da erst erkenne ich, dass die für mitteleuropäisch-alpine Klimazonen gebauten Skischuhe durch die Kälte ihre Festigkeit verloren haben: Zwei Schrauben sind ausgerissen. Später bricht bei Martins baugleichen Schuhen eine der obersten Schnallen einfach ab. Dauerhafte Kälte bei Tag und Nacht zwischen minus zehn bis fast minus dreißig Grad, dazu immer wieder Stürme, verlangen jedem Material alles ab. Die Zelte bieten auch im warmen Winterschlafsack erst Schutz und Geborgenheit, als wir alle nassen Unterkleider durch trockenes Gewand getauscht haben – bei minus 18 Grad lernen wir das sehr rasch zu tun.

Camp Dombrava am Hurry Fjord.
Foto: Christoph Ruhsam

Im Nörredal ersteigen wir einige der hoch gelegenen Gletschertäler und bekommen sozusagen als Ostersonntagsgeschenk die Sagrada Familia von Liverpool Land präsentiert: die felszackigen Gipfel von Kirken. Unterhalb des Gletscherbeckens erkennen wir eine ungewöhnliche Tierspur im tiefen Schnee: Wir realisieren wieder einmal, dass wir uns im Eisbärenland befinden. Ooqe und Arqalo nehmen nicht an den Touren teil und so sind wir ohne Schutz unterwegs.

Die Sagrada Familia von Liverpool Land: Kirken.
Foto: Christoph Ruhsam

Unsere Route folgt den Geländeformen der alpinen Landschaft. Bis zum Bauch graben sich die Hunde in den frisch gefallenen Schnee. Dieser ist heute so luftig und besteht aus großen Kristallen, die auch noch in der Luft hängen und um die Sonne große Haloerscheinungen erzeugen.

Halo über dem Nörredal.
Foto: Christoph Ruhsam
Kirken thront über einem Seitendal des Nörredales.
Foto: Christoph Ruhsam

Durch ein namenloses Tal mit zwei lang gestreckten, tief verschneiten Seen kämpfen wir uns zu Fuß weiter und folgen der Schlittenspur. Das Tal öffnet sich im Westen und gibt den Blick nach Norden in den unglaublichen Carlsbergfjord frei: Eisberge stecken im Festeis des Fjordes, umgeben von Bergen mit steilen Felsflanken. Über allem thront ein spitzer, namenloser Berg am Eingang zum nächsten mächtigen Fjordsystem, dem Kong Oscar Fjord.

Tiefer Schnee liegt im Herzen von Liverpool Land.
Foto: Christoph Ruhsam
Carlsbergfjord mit Macknight und Nordenskjöld Bjergen.
Foto: Christoph Ruhsam

Wir erleben so viele großartige, unberührte Landschaften, gehüllt in winterweiße Gewänder, die in wunderschönen Falten und Schattennuancen alles bedecken. Der dänische Schriftsteller Jörn Riel hat ein derartiges Erleben in seinen Fangstman-Romanen in Worte gefasst, die im Reisegepäck durch diese Landschaft mitgeführt werden.

In den alpinen Tälern des Liverpool Landes.
Foto: Christoph Ruhsam
Durch das "Zwei Seen Tal".
Foto: Christoph Ruhsam

Wo wir die nächste Nacht verbringen werden, ist nicht immer klar. Wenn eine der Jagdhütten – einfachste, Jahrzehnte alte Holzverschläge zum Schutz gegen die Widerwärtigkeiten arktischer Witterung – angesteuert wird, sorgt deren Aussehen und Zustand für Spannung.

Hingegen ist die Auswahl eines Zeltcamps mit viel mehr Unvorhersehbarkeiten versehen: Wo ist ein geeigneter Zeltplatz? Am Meereis? Am Ufer eines zugefrorenen Fjordes, Sees oder Flusses? Oder auf der windverwehten Hügellandschaft des Gletschervorlandes, zum Beispiel von Istorvet, der größten Vergletscherung von Liverpool Land, die an das "große Eis", das grönländische Inlandeis erinnert?

Camp am Ostufer des Hurry Fjordes.
Foto: Christoph Ruhsam
Das Innere einer Inuit Jagdhütte – der Schnee am Boden hält sich wacker, während Kondenswasser vom Kochen von der Decke auf die Schlafsäcke tropft und friert.
Foto: Christian Mastnak
Camp "Dry Valleys" im nördlichen Klitdalen.
Foto: Christoph Ruhsam

Immer sind wir über die Plätze erstaunt, an denen Ooqe und Arqalo die Hunde mit dem eindringlich gerufenen beziehungsweise geschrienen "aii, aiiii" zum Stillstand bringen. Mit den mitgebrachten Lawinenschaufeln graben wir dann rasch den Schnee circa 20 Zentimeter tief ab, stellen die Zelte in die so geschaffene Wanne und schaufeln sofort Schnee auf den Überzeltabschluss, damit der Wind nicht darunter fahren kann und die im Schnee schlecht verankerbaren Zelte wieder losreißt. Mitten am Storefjord passiert es dann mit einem der Zelte aber doch, und ich laufe dem treibenden, leeren Zelt hinterher, bis es sich mit den Sturmverspannungsschnüren in den angeketteten Hunden verfängt. Die Entwirrung aus dem Hunderudel, das sich durch die wehenden Zeltplanen bedrängt fühlt, ist keine einfache Aufgabe.

Vom Sturm leer gefegte "Dry Valleys" im nördlichen Liverpool Land.
Foto: Christoph Ruhsam
Grönland Hunde sind keine Spielgefährten.
Foto: Christoph Ruhsam

Ein anderes Mal ziehen die Schlitten hoch über den Sandsteinklippen des Klitdals entlang und die Umgebung sieht schutzlos und abschüssig aus. Doch auch da erklingt das unerwartete "aii, aiiii" und zeigt uns an, dass hier ein guter Platz zum Campen ist. Der Wind wirbelt bei tief stehender Abendsonne Treibschnee über die Hügel und, sobald die Zelte stehen, auch in die Zelte hinein. Aber er wird nicht schmelzen und keine Nässe verursachen. Er ist wie trockener Sand und kann am Morgen einfach ausgeschüttelt werden. (Christoph Ruhsam, 5.5.2017)

Fortsetzung folgt.