Die Diskussion ist ein ganz alter Hut. Eigentlich. Schon Anfang des Jahrtausends gerieten sich Akademiker der noch jungen Disziplin der Game Studies in die Haare, was denn genau ein Spiel sei: eher eine Erzählung, oder doch eher ein System von Regeln? Die Antwort, die man außerhalb akademischer Zirkel bedeutend schneller gefunden hätte, ist allen Spielerinnen und Spielern einleuchtend: beides – mal mehr, mal weniger.

Spiele haben als einziges Medium die Fähigkeit, ihren Konsumenten Interaktion zu bieten. Manchmal – bei Spielen wie "Tetris", "Super Mario Kart" oder "Dota" – spielen Erzählung und Story gar keine oder nur eine untergeordnete Rolle, in anderen Spielen – Adventures wie Telltales "Walking Dead", der "Uncharted"-Reihe oder Rollenspielen wie "Deus Ex" – sind sie wichtige Elemente oder gar die Hauptsache.

(Der erwähnte Part startet bei 1:05)
Comedy - BBC Scotland

Erzählhäppchen

Aber schöpfen Spiele ihr Potenzial, interaktiv zu erzählen, voll aus? Das schottische Comedy-Duo der BBC-YouTube-Serie "Video Gaiden" hat ein treffendes Bild für das Problem gefunden: In einem Segment zum Erzählen im für seine Story hochgelobten First-Person-Abenteuer "Firewatch" spaziert Robert Florence mit einem Taschenbuch durch die Landschaft – er liest eine Seite im Stehen, schleudert es ein paar Meter weit weg, geht hin und liest dann weiter.

Genau so erzählen die meisten, auch innovative Spiele: Die spielerische Interaktion unterbricht die Erzählung – und umgekehrt. Am krassesten zeigt sich das im klassischen Cutscene-Format, wenn den Spielerinnen und Spielern die Steuerung über ihre Figur aus der Hand genommen wird: Das Spiel wird zum Film. Oder in Spielen wie aktuell "Prey", in dem Audiologs und Emails den Großteil des "environmental storytellings" erledigen: Erzählt wird als Hörspiel oder Text, gespielt wird abseits davon.

Alte Diskussion, reloaded

Vor kurzem sorgte ein Artikel des Games-Denkers Ian Bogost für ein Wiederaufflackern dieser Diskussion. "Video Games are Better without Stories", ist der provokante Titel des Textes, in dem der US-Autor und Uniprofessor für Game Design anhand des aktuellen Titels "What Remains of Edith Finch" dem Erzählen im Spiel ein auf den ersten Blick schlechtes Zeugnis ausstellt.

Videospiele, so Bogost, verschwenden viel zu viel Energie darauf, linearen Erzählformen wie Literatur und Film nachzueifern, ohne jemals die Qualität dieser Vorbilder zu erreichen. Das können sie schon deshalb nicht, so das Argument, weil ihr Alleinstellungsmerkmal, die Möglichkeit zur Interaktion, dem Erzählen, wie es in klassischen Medien existiert, als Hindernis im Weg steht. Filme und Bücher leben vom kontrollierten Blick ihrer Schöpfer – weil sie nicht interaktiv sind, können sie ihre Leser und Zuseher an der Hand nehmen, gezielt Spannungsbögen aufbauen und müssen nicht befürchten, durch "falsche" oder absichtlich störende Interaktionen in ihrer Wirkung beeinträchtigt zu werden.

Videospiele seien "besessen" von der Idee, zu erzählen – obwohl sie anderes viel besser könnten: Systeme erfahrbar machen und zum Experimentieren mit ihren Elementen einladen. "Spiele fürs Erzählen zu verwenden ist schon ein feines Ziel, nehme ich an, aber letztlich ist es auch anspruchslos", trollt der Games-Professor. "Ja, klar, man kann eine Story in einem Spiel erzählen. Aber wie viel Aufwand das ist, wenn es zugleich so viel einfacher wäre, sich diese Geschichte im Fernsehen anzusehen oder sie zu lesen!"

Campo Santo Productions

Innovation auf dem Holzweg?

Es ist kein Zufall, dass Bogosts Text anlässlich des Indie-Abenteuers "What Remains of Edith Finch" erschienen ist. Auf den ersten Blick erscheint das paradox: Das auch von mir in meiner Rezension für sein innovatives Erzählen gelobte melancholische Abenteuer lebt von einer berührenden Familiengeschichte, die man sich durch die Bewegung durch das verlassene Haus "erspielt". Die zwölf kurzen Episoden, die die Geschichte der unglückseligen Vorfahren erzählen, sind fantasievolle und überaus originelle Experimente mit dem Erzählen, die dem klassischen Cutscene-Modell weit voraus sind.

Und dennoch demonstriert genau diese Ambition den Holzweg, auf dem sich das Medium laut Ian Bogost befindet: Obwohl oder gerade weil sich das Spiel so bemüht, neue Wege zum interaktiven Erzählen zu beschreiten, treten die Unterschiede zu den großen Vorbildern Film und Literatur umso augenscheinlicher zu Tage.

Die Film-Tragikomödien von Wes Anderson (u.a. "The Royal Tennenbaums", "Darjeeling Limited", Grand Budapest Hotel"), die das Spiel atmosphärisch zitiert, erzählen gerade wegen ihrer Nicht-Interaktivität immer noch weitaus pointierter, witziger und prägnanter; und an die Tiefe großer Familienromane wie jenen aus der Feder John Irvings ("Das Hotel New Hampshire", "Gottes Werk und Teufels Beitrag"), denen "What Remains of Edith Finch" inhaltlich verwandt ist, kommt das Spiel nie und nimmer heran. Den Vergleich mit diesen Riesen in anderen Medien sucht das Spiel allerdings selbst; und an diesem Vergleich wird die Absurdität des Vorhabens, mit ihnen ausgerechnet in dieser Form konkurrieren zu wollen, besonders deutlich.

Telltale Games

Können Spiele erzählen? Klar!

Wer sich nun – wie viele Leserinnen und Leser des Bogost-Artikels – erbost und nachdrücklich für Videospiele als erzählendes Medium einsetzen will, geht einer Provokation auf den Leim. Der Befund, dass Videospiele das aus Film und Literatur bekannte lineare Erzählen immer nur weniger gut als diese nicht-interaktiven Medien zuwege bringen werden, sollte kein Grund zur Aufregung sein.

Statt diesem Ziel nachzueifern, könnte man sich ja auf das riesige, noch fast unerforschte Gebiet eines Erzählens vorwagen, das eben nur in diesem Medium existieren kann: in einer Interaktion mit einer AI, die direkt auf uns reagiert, wie im Indie-Abenteuer "Event[0]". Oder in den unendlichen Story-Generatoren prozeduraler Spiele wie "Rimworld" oder "Dwarf Fortress", die durch ihre System immer neue Narrative generieren. Oder aber in den sich ausschließlich aus Spieler-Interaktionen ergebenden epischen Sagas eines "EVE Online". Und, und, und. Die Möglichkeiten sind ebenso endlos wie kaum erforscht – weil sich viele Entwickler immer noch mit gewaltigem Aufwand lieber darauf konzentrieren, den "Film zum Spielen" erschaffen zu wollen.

Event[0]

Spiele – no na – können erzählen, und das in vielerlei Form. Dass sie sich dabei allzu oft noch immer an die großen Brüder Film und Literatur klammern, macht sie ja auch nicht von Vornherein schlecht – wer "Half-Life", "Uncharted", "Heavy Rain" oder unzählige andere Titel liebt, die sich dieser Art des Erzählens verschrieben haben, weiß, dass sie großartige unterhalten können. Doch es gäbe ein großes Potenzial, als interaktives Medium völlig andere Geschichten zu erzählen, mit nie zuvor dagewesenen, außergewöhnlichen Mitteln, von denen Autoren und Filmemacher nicht zu träumen wagten. Dieses Potenzial verschenken die meisten Spiele, indem sie einem Ziel nacheifern, das eigentlich, wie Ian Bogost sagt, angesichts ihrer einzigartigen Möglichkeiten "anspruchslos" ist.

Das große Versprechen, so zu erzählen, wie das nur ein Spiel tun kann, muss das Medium erst noch einlösen. Optimisten wie ich sind überzeugt: Es geht voran. (Rainer Sigl, 16.05.2017)