Die Trude Pritzi war ja nicht auf den Kopf gefallen. Sie wusste, dass Ruth Aarons im Finale der Tischtennis-Weltmeisterschaft 1937 mit offensiven Schlägen nicht beizukommen war. Also schupfte die 17-jährige Wienerin beharrlich den Ball zurück. Mit frechem Schnitt zwang sie die US-amerikanische Titelverteidigerin zu Fehlern und gewann in der Trinkhalle zu Baden, dem heutigen Casino, den ersten Satz. Aarons stellte ihr Spiel um, es ergaben sich Ballwechsel von erschöpfender Länge. Die Jury kannte kein Pardon, versetzte das Endspiel zunächst auf einen Nebentisch und brachte schließlich die Zeitregel zur Anwendung. Das Match wurde nach 105 Minuten beim Stand von 21:12, 8:21, 19:16 abgebrochen, der Titel nicht vergeben. Ein einzigartiges Kuriosum in der Geschichte des Tischtennissports.
Achtzig Jahre später spricht Rudolf Sporrer, Generalsekretär des österreichischen Tischtennisverbandes ÖTTV, über jenen ruhmlosen Abschluss der Weltmeisterschaft: "Die Funktionäre sahen das Ansehen des Sports durch die Schupferei in Gefahr. Ein Jahr zuvor in Prag hatte ein Ballwechsel zwischen Aloizy Ehrlich und Farkas Paneth über zwei Stunden gedauert. Man wollte derartiges unterbinden."
Sporrer sitzt am Schreibtisch seines Büros, umringt von Memorabilia in Sachen Tischtennis, der 64-jährige Wiener ist eine wandelnde Enzyklopädie. "Die Entscheidung in Baden fiel, und das ist doch bemerkenswert, unter dem Vorsitz eines Österreichers, Eugen Grabscheid." Grabscheid war Präsident des österreichischen Verbandes, in der Badener Zeitung vom 10. Februar 1937 erläutert er den umstrittenen Beschluss: "Beide Damen haben durch ihr Spiel bewiesen, dass sie die Würde einer Weltmeisterschaft nicht verdienen." Ein Tiefschlag gegen die entmachtete Aarons, die auf Silber pfeift, erzürnt aus dem Saal stürmt und ihre Karriere beendet.
Skeptische Kiebitze
Die durch den Finaleinzug ermutigte Pritzi hatte indessen Großes vor. "Das kleine Fräulein Trude ist ein lieber Kerl. Die nächste Weltmeisterschaft soll ihr nicht mehr wegen Zeitmangels entgehen. Sie will ordentlich schlagen lernen", schrieb das Wiener Sport-Tagblatt. Aber Pritzi ließ sich von den skeptischen Kiebitzen und Journalisten nicht beirren, stärkte nicht die Offensive, sondern perfektionierte ihre Defensivkünste.
"Ein Foto zeigt sie in Angriffsposition, das kann nur gestellt sein", sagt Sporrer und schmunzelt dabei. "Ihre defensive Vorhand hatte einen starken Unterschnitt, eine neue Dimension bei den Damen. Sie sah nicht immer flink aus, aber ihr Stellungsspiel war einzigartig." Sporrer spricht aus Erfahrung, in den Sechzigerjahren schlug er mit Pritzi Bälle in der Tischtennishalle Lange Gasse: "Wir haben alle zu ihr aufgeschaut, ehrfürchtig zugehört. Sie war sich auch für schwächere Spieler nie zu schade, etwas burschikos, ein Kumpel. Geraucht hat sie auch, das galt als mondän, Jonny war ihre Marke."
Die Wiener Josefstadt, insbesondere die Lange Gasse, war Pritzis Revier. Auf Nummer 50 war sie wohnhaft, auf der 69 erlernte sie das Spiel im Souterrain. In der Kleinen Volks-Zeitung beschrieb Pritzi später den ersten Kontakt: "Schon immer wollte ich wissen, was sich in der großen Halle abspielt. Einmal überwand ich dann endlich meine Scheu und schlich klopfenden Herzens die vielen Stufen hinab. Es ging rasch vorwärts mit mir, aber viele Schulaufgaben blieben unerledigt. Das gestehe ich zu meiner Schande, aber ohne Reue ein."
Vater Wilhelm war Direktor bei den Semperit Gummiwerken, ein guter Ruderer, er verstarb als das Kind sechs Jahre alt war. Mutter Anna unterstützte die sportlichen Aktivitäten ihrer Trude. Der Gschropp ging schwimmen, turnen, fechten, skifahren und eislaufen. Das Talent an der Tischtennisplatte war aber nicht zu übersehen.
Bis dahin hatte Gertrude Wildam in Österreich dominiert, sie war quasi unschlagbar und gewann zwischen 1924 und 1935 zehnmal die heimische Meisterschaft. Sporrer: "Als die Pritzi mit ihren 15 Lenzen auftauchte, war die Dominanz vorbei. Da wurde qualitativ ein neues Kapitel aufgeschlagen." Die Mutter sah die Erfolge mit Stolz, wünschte sich in einem Gespräch mit der Illustrierten Kronen-Zeitung aber auch "einen Posten für ihr Mädel."
Den Posten fand Pritzi bei der Post. "Es war ein Bürojob, es ging um Ferntelegramme. Sie war eine Art Staatsprofi und spielte für den Post SV". Die Arbeit sei zwar mehr schlecht als recht bezahlt gewesen, "ließ ihr aber Zeit für den Sport. Und der hatte immer Priorität, sie wollte viel und hart trainieren. Ihr Ziel war Gold bei der Weltmeisterschaft."
Ohne Satzverlust zu WM-Gold
Wembley 1938, die nächste Chance. Aarons ist nicht mehr dabei, Trude Pritzi gilt als Favoritin. Und sie wird dieser Rolle gerecht. Keine Gegnerin kommt mit den bösartigen Schnittbällen der Wienerin zurecht, allesamt verzweifeln sie an den defensiven Fähigkeiten der nun 18-Jährigen, die am Weg zu Gold keinen einzigen Satz verliert. Im Endspiel schlägt sie in langer Hose die Tschechin Vlasta Depetrisová mit 21:13, 21:13, 21:17.
Nebenbei gewinnt Pritzi in der Wembley-Hall Bronze im Team und mit dem Wiener Alfred Liebster Bronze im Mixed, sie ist auf dem Höhepunkt ihrer Tischtenniskunst angelangt. Keine Rede mehr von Zeitüberschreitung.
Nur einen Monat später folgt der Anschluss an das Deutsche Reich. Sporrer kramt ein Foto aus der Schublade hervor, es zeigt Pritzi auf einer deutschen Luftwaffenbasis. Sie führt dem interessiert wirkenden Publikum ihren Sport vor, ein Offizier macht sich hinter ihr breit, Dolch an der Hose. Hat sich Pritzi von den Nationalsozialisten instrumentalisieren lassen? "Das ist denkbar, sie war in den Kriegsjahren oft in Deutschland und hatte dort die Möglichkeit, den Sport weiterhin auszuüben."
Die Salzburger Nachrichten schrieben am 21. Jänner 1946, Pritzi hätte in der Nazizeit wie die meisten österreichischen Spitzensportler "unter allen möglichen Schikanen zu leiden gehabt, die darauf abzielten, sie fertig zu machen." Allerdings wurde die Wienerin bis zum Ende der Naziherrschaft ohne Unterbrechung deutsche Meisterin. Passt das alles zusammen?
"Nein", sagt der österreichische Sporthistoriker Matthias Marschik und führt aus: "Das Deutsche Reich wollte seine Überlegenheit demonstrieren, also mit den Besten antreten. Da hätte es schon einen Funktionär geben müssen, der Pritzi absolut nicht mochte. Prinzipiell wäre das möglich, weil die Handlungsspielräume groß waren. Wahrscheinlich ist es nicht."
Gibt es keine Berichte von Schikanen gegen österreichische Sportler? "Doch", sagt Marschik, "im Skisport etwa war Christl Cranz aus Bayern der Star und Österreicherinnen wurden mitunter nicht zu den Rennen geschickt, obwohl sie besser waren." Nichteinberufung ins Nationalteam trotz guter Leistungen oder Verweigerung der Teilnahme an Wettkämpfen seien die gängigsten Schikanen gewesen.
Vier WM-Medaillen für das Deutsche Reich
Aber Pritzi wurde einberufen, sogar mehr als das. In Ägypten eroberte sie 1939 für Nazi-Deutschland vier WM-Medaillen, darunter Silber im Einzel – Depetrisová hatte entscheidend dazugelernt – und Gold im Doppel mit der Düsseldorferin Hilde Bussmann. "Sie hat sich als Profisportlerin gefühlt und weitergemacht. Mit dem System ist sie zumindest im Nachhinein hart ins Gericht gegangen", sagt Sporrer. Zeit ihres Lebens sei Pritzi "völlig fertig gewesen, dass viele ihrer Kollegen flüchten mussten."
Richard Bergmann zum Beispiel. Auch er galt als Stammgast in der Lange Gasse. Die Tischtennis-Ikone wurde in Wien geboren und krönte sich 1937 in Baden für Österreich zum Weltmeister. Als Jude floh er 1938 nach London und holte für England noch drei weitere Einzeltitel. "Bergmann war der bekannteste Fall, er war einer von vielen, Tischtennis war ein jüdisch geprägter Sport, er kam aus dem Kaffeehaus." Der Ausschluss jüdischer Sportler, ihre Emigration oder Ermordung beraubte den ÖTTV vieler herausragender Spieler.
Die Weltmeisterin Pritzi war in Kairo also entthront worden. "Sie hat die Cheops-Pyramide erklettert oder wenigstens teilweise erklettert, denn man steigt jetzt nicht mehr ganz hinauf, das ist nicht vornehm, sondern bemüht sich nur einige Stufen hoch", schrieb die Illustrierte Kronen-Zeitung nach dem Turnier. "Ich bin überzeugt, dass ich im nächsten Jahre wieder an der Reihe sein werde", wird Pritzi in dem Artikel zitiert. Ein Irrtum. In den folgenden Kriegsjahren wurde die Weltmeisterschaft ausgesetzt.
Eindrucksvolle WM-Bilanz
Erst 1947 kam es in Paris wieder zu internationalen Wettkämpfen, Pritzi gewann – nun wieder für Österreich – Bronze im Einzel und mit der Ungarin Gizella Farkas Gold im Doppel. Es sollte ihr letzter Titelgewinn bei einer WM bleiben, das letzte Gold für Österreich bis zum Triumph von Werner Schlager im Jahr 2003.
Ihre 13. und letzte WM-Teilnahme absolvierte Pritzi 1955 in Utrecht. Die eindrucksvolle Bilanz: Fünf Gold-, zwei Silber- und sieben Bronzemedaillen. Und das obwohl ihr der Krieg in den besten Jahren in die Quere kam.
Aber wie muss man diese Erfolge einordnen? Und war Trude Pritzi in Österreich ein Star? Die Konkurrenz im Tischtennissport war zu jener Zeit überschaubar, beschränkte sich auf Europa und die USA, rund zwanzig Nationen mischten um die Medaillen mit. China spielte noch keine Rolle, Japan kam erst in den Fünfzigerjahren auf.
Pritzi war laut Sporrer "beliebt und wurde erkannt. Ein Superstar war sie nicht, die Menschen hatten damals auch andere Sorgen." Zudem seien Fußball und Boxsport in der Berichterstattung dominant gewesen. "Aber die Erfolge der Trude Pritzi haben einiges bewirkt, sie hatte sogar einen eigenen Schläger kreiert und unzählige Modelle verkauft", sagt Sporrer, "vielleicht finden Sie ja noch einen im Tischtenniscenter Lange Gasse".
Ebendort, in der Lange Gasse 69, duftet es nach jahrzehntelangem Einsatz an der Platte. Hier wird nicht nur der Tischtennissport, sondern auch der Retrocharme zelebriert. Als würde die Pritzi oder der Bergmann jeden Moment die Holztreppe hinunterstolzieren, um sich einen Schläger zu schnappen. Und tatsächlich, hinter der Glasvitrine im Hauptsaal verbergen sich die Spielgeräte der beiden Weltmeister. Die Farben schick, die Noppen da, man hätte sich die Pracker der alten Schule doch antiquierter vorgestellt.
Eine kurz gefasste Chronologie in der Vitrine verweist auf die Geschichte der Sportstätte. Zwischen 1932 und 1948 wurde der Tischtennisraum von einem Herrn Heizmann im Alleingang betrieben, dann stieg die Pritzi ein und 1969 übernahm schließlich die Familie Bolena die Geschäfte.
Hans Bolena jr. führt die Tradition des Kellers mittlerweile im Sinne seiner Eltern weiter. Der Vater, einst Verbandskapitän der Nationalmannschaft, ist verstorben, die Mutter hat sich zurückgezogen. "Ich will das nicht aufgeben", sagt er. Verlockenden Ablösesummen zum Trotz. 1000 Quadratmeter in bester Lage beflügeln die Phantasie der Investoren.
Die einen kommen hierher in professioneller Tischtennis-Montur, die anderen in Jeans und Straßenschuhen. Strenge Regeln gibt es nicht. Dort wo früher, als man den Center noch "Salon" nannte, oft auch um Geld gespielt wurde, steht die Freude am Spiel uneingeschränkt im Vordergrund.
Auf Pritzis Schoß
Mitunter dringt ein Jubelschrei aus einem der hinteren Räume bis zur Rezeption durch. Die Räumlichkeiten sind verwinkelt. Hinter jeder Tür, hinter jedem Vorhang kommt ein neuer Tisch zum Vorschein, 13 sind es ingesamt. "Die einen spielen gerne in der Auslage, die anderen mögen es diskreter", sagt Bolena. Die helle Beleuchtung macht die Menschen nicht unbedingt schöner, dafür treffen sie die Bälle. Ping Pong!
Und die Pritzi? "Ich bin selbst noch auf ihrem Schoß gesessen". Bis sie dann 48-jährig an Krebs gestorben ist. Es soll alles sehr schnell gegangen sein, bis zuletzt sah man sie in der Lange Gasse. Aber plötzlich war sie weg.
Der Grabstein der Familie Pritzi am Döblinger Friedhof überragt die umliegenden. Die Stiefmütterchen sind gepflegt, der Rasen frisch. Die Inschrift hat über die Jahre ihre goldene Farbe verloren. Bei Vater Wilhelm wird auf seine Tätigkeit bei Semperit verwiesen, bei Tochter Trude findet sich kein Hinweis auf zwei Einzel-Weltmeistertitel im Tischtennis.
Späte Anerkennung
Ja, zwei Weltmeistertitel. Pritzi hat nicht nur Wembley 1938, sondern auch Baden 1937 im Palmares stehen. Anno 2001, also ganze 64 Jahre nach dem Turnier und 33 Jahre nach Pritzis Tod, hat die International Table Tennis Federation ITTF die Finaldisqualifikation auf Bestreben des US-Verbandes aufgehoben. Pritzi und ihre Gegnerin Aarons werden seither als "Co-Weltmeisterinnen" geführt.
Noch spätere Anerkennung erhielt das Wunderkind aus der Josefstadt 2010 mit der Aufnahme in die Hall of Fame der ITTF. Dort scheint Pritzi als eine von acht europäischen Frauen auf. Die Urkunde hängt in Sporrers Büro, direkt neben der Tür. Gertrude Pritzi, so steht es zu lesen, sei für ihre herausragenden Leistungen weltweit anerkannt und bewundert worden. "So war es auch", sagt der Generalsekretär, "sie war eine faszinierende Frau." (Philip Bauer, 23.5.2017)