Worüber nicht gesprochen wird: In Österreich pflegen und betreuen rund 42.000 Kinder ein krankes Familienmitglied.

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Martin Nagl-Cupal, Pflegewissenschafter, beschäftigt sich seit fünf Jahren mit der Lebenswelt von pflegenden Kindern und Jugendlichen.

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STANDARD: Als Sie vor vier Jahren bei einer Prävalenzstudie herausfanden, dass 3,5 Prozent aller Minderjährigen Krankenpflege leisten, war das niemandem bewusst. Wie konnte das unentdeckt bleiben?

Nagl-Cupal: Pflegende Kinder – diese zwei Wörter passen für viele nicht zusammen. Dass Kinder Verantwortung für chronisch kranke Erwachsene oder andere Familienmitglieder übernehmen, war lange Zeit kein Thema. Wir haben mit unserer Studie viel Aufmerksamkeit erzeugt – und sind von vielen Stellen kritisch kommentiert worden.

STANDARD: Inwiefern?

Nagl-Cupal: Man sagte uns, dass es so etwas in Österreich nicht geben könne, weil unser Sozialsystem zu sensibel dafür sei. Und dass die Daten nicht stimmen könnten, weil die meisten Pflegegeldbeziehenden in Österreich keine Kinder hätten. Wir waren damals die Ersten, die so eine Erhebung auf diese Art und Weise gemacht haben. Verglichen mit neu erhobenen Daten aus anderen Ländern haben wir sehr konservativ gerechnet. Heute gehen wir davon aus, dass es in Österreich deutlich mehr pflegende Kinder gibt.

STANDARD: Wie wird ein Kind zu einem pflegenden Kind?

Nagl-Cupal: Der Anlass ist immer derselbe: Es gibt einen familiären Bedarf, und die meisten Kinder rutschen da so rein. Eine chronische Krankheit fängt langsam an. Aber es können auch akute Ereignisse sein, wenn etwa ein Elternteil einen Schlaganfall hat. Pflege ist meist eine Familienaufgabe, und die Kinder sind Teil davon. Sie selbst sehen sich nicht als pflegende Kinder. Denn: Wir sind alle so sozialisiert, dass wir zusammenhalten, wenn jemand in der Familie krank wird. Aber nicht alle Kinder, bei denen Krankheit in der Familie vorkommt, sind pflegende Kinder.

STANDARD: Wann wird familiäre Pflege zum Problem?

Nagl-Cupal: Problematisch wird es dann, wenn Kinder Tätigkeiten verrichten, die dem Alter und Entwicklungsstand nicht angemessen sind. Das sind etwa die klassischen Pflegetätigkeiten wie Heben, Tragen, alles in Zusammenhang mit Ausscheidung, Medikamenteverabreichen. Für viele pflegende Kinder ist das Teil ihres normalen Alltags. Familiäre Pflege wird dann zum Problem, wenn Kinder Dinge machen müssen, die sie nicht machen wollen. Wenn es den Kindern zu viel wird, wenn sie an einem kinder- oder jugendlichengerechten Alltag nicht mehr partizipieren oder in der Schule ihre Leistungen nicht mehr erbringen können – bis hin zu körperlichen oder psychischen Auswirkungen.

STANDARD: Wie unterscheiden sich pflegende Kinder von nichtpflegenden Kindern?

Nagl-Cupal: Eine deutsche Kollegin, die zu diesem Thema forscht, hat diese Frage einmal so beantwortet: Wenn ich als Elternteil zu einem "nichtpflegenden" Kind sage: "Bitte, mäh den Rasen oder geh einkaufen", und das Kind macht es nicht, werde ich als Elternteil murren und es dann selber machen. Wenn ein pflegendes Kind das nicht macht und niemand anderer da ist, dann bleibt der Rasen ungemäht und der Kühlschrank leer. Statistisch zeigen sich die Unterschiede aber auch in sozialen, körperlichen und psychischen Bereichen. Sie haben mehr Schlafprobleme, sie sorgen sich mehr, sie verbringen weniger Zeit mit Freunden. Und: Sie fühlen sich oft mehr belastet als nichtpflegende Kinder und Jugendliche – ohne dass sie ihre Belastung in Zusammenhang mit ihrer Pflegetätigkeit bringen würden.

STANDARD: Gibt es denn nicht ausreichend Möglichkeiten, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen?

Nagl-Cupal: Doch, es gibt Möglichkeiten und Angebote. Aber diese Familien sagen "Wir schaffen das schon" und "Wir brauchen niemanden". Es gibt große Hemmungen, jemand Dritten ins Haus zu lassen. Finanzielle Gründe spielen eher eine untergeordnete Rolle.

STANDARD: Es betrifft also nicht vermehrt einkommensschwache Familien?

Nagl-Cupal: Das war unsere Hypothese. Das geht aber nicht deutlich aus den Daten hervor. Es gibt wohl einen Trend, aber es gibt viele Familien, die Geld hätten, und dennoch sind es die Kinder, die Verantwortung für ein krankes Familienmitglied übernehmen und mithelfen.

STANDARD: Pflegen mehr Mädchen oder mehr Buben kranke Angehörige?

Nagl-Cupal: Das ist sehr, sehr eindeutig: Es sind viel mehr Mädchen, die in der Pflege beteiligt sind, als Buben. Pflege ist ja ohnedies ganz stark weiblich besetzt. Es ist schon sehr bedenklich, dass das schon so früh bei Mädchen beginnt.

STANDARD: Wie sehen Erwachsene, die einmal pflegende Kinder waren, ihre Situation im Nachhinein?

Nagl-Cupal: Viele deuten ihre Situation im Nachhinein als positiv, weil sie sagen, es habe ihnen schon sehr früh Verantwortungsgefühl und Reife gegeben. Aber das ist nicht immer der Fall. Viele teilen die Erinnerung an das Gefühl der Hilflosigkeit. Etwa wenn der Vater einen epileptischen Anfall hatte und sie allein damit konfrontiert waren. Manchmal sind die Erlebnisse derart belastend, dass sie daran zerbrechen – das kommt aber auf den Krankheitskontext an und darauf, wie sich die Hilfe innerhalb der Familie verteilt hat.

STANDARD: Kommt es auch auf das Alter an?

Nagl-Cupal: Ja. In unserer qualitativen Forschung haben wir erfahren, dass sich manche Menschen erinnern, dass sie im Alter von drei Jahren begonnen haben, sich für ein krankes Familienmitglied verantwortlich zu fühlen.

STANDARD: Pflegende Kinder sprechen wenig über ihre Familiensituation. Aus welchen Gründen?

Nagl-Cupal: Sie sprechen nicht darüber, weil sie sich selbst nicht als pflegende Kinder sehen. Pflege und Kind – diese Begriffe passen nicht zusammen. "Young Carers", dieser Kunstbegriff, wurde in den späten 1980er-Jahren in England geprägt. Wenn wir auf der Suche nach Interviewpartnern fragen "Bist du ein pflegendes Kind?", dann würden sich die betroffenen Kinder nicht angesprochen fühlen. Der Begriff ist für den wissenschaftlichen Gebrauch gut gewählt, aber um Betroffene anzusprechen, ist das völlig verfehlt. Niemand identifiziert sich damit. Zudem ist das Thema mit Scham und Stigma verbunden. Pflegende Kinder bleiben im Schatten.

STANDARD: Wo müsste man ansetzen?

Nagl-Cupal: Man müsste unendlich viel Bewusstseinsbildung machen. Und man müsste den Kindern und Familien vermitteln, dass es nichts Schlechtes ist, wenn man sich Hilfe holt. Es ist nichts Böses, Unterstützung für die Familie in Anspruch zu nehmen. Es gibt Angebote.

STANDARD: In ihrem neuen Projekt beschäftigen Sie sich mit Resilienz, also mit der Frage, warum Kinder trotz aller Herausforderungen ihre Gesundheit bewahren.

Nagl-Cupal: In dem Projekt Resilcare fragen wir, warum es für manche leicht und für andere schwer ist. Welche Lebensumstände und Sichtweisen ermöglichen es Kindern und Jugendlichen, derart widerstandsfähig zu sein? Im Moment suchen wir pflegende Kinder und Jugendliche, die für unser Projekt Fotos von ihrem Alltag machen lassen möchten. Es geht uns darum aufzuzeigen, wie die Lebenswelt von pflegenden Jugendlichen aussieht. Über Fotos fällt der Zugang oft leichter als in der unmittelbaren Kommunikation. Wir erwarten uns niederschwellige Daten, die wir gemeinsam mit den Kindern und Jugendlichen auswerten. Dazu gibt es auch eine Facebook-Seite. (Christine Tragler, 18.5.2017)