1960 begann Jane Goodall ihre Beobachtung von Schimpansen im Gombe-Stream-Nationalpark in Tansania und veränderte damit die Wissenschaft.

Foto: the Jane Goodall Institute/Judy Goodall

Ihre Forschungsergebnisse wurden wegweisend für die Wahrnehmung dieser Tiere. Sie beschrieb ihre Charaktere, ihre Emotionen, ihre Fähigkeit, komplexe Probleme zu lösen, und zeigte damit, wie ähnlich sie uns Menschen sind.

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In dieser Woche war sie in Wien zu Besuch.

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Mit 23 Jahren und ohne Universitätsabschluss in der Tasche zog Jane Goodall los, um Schimpansen im Gombe-Stream-Nationalpark im Westen Tansanias zu erforschen. Das Budget kam von dem Paläoanthropologen Louis Leakey, der auch die Arbeit von Dian Fossey mit Gorillas und Birutė Galdikas mit Orang-Utans unterstützte. "Zu der Zeit waren wir alle sehr naiv in dem Alter", sagt die Britin. Dennoch konnte sie bald erste Erfolge vorweisen: Schon im ersten halben Jahr sammelte sie bahnbrechende Erkenntnisse. So beobachtete sie etwa, wie Schimpansen mit Ästen nach Termiten fischten und mit Steinen Nüsse knackten. Den Gebrauch von Werkzeugen trauten sich die Menschen bis dahin nur selbst zu. der STANDARD traf die 83-Jährige am Donnerstag vor ihrem Vortrag in der ausverkauften Expedithalle in der Ankerbrotfabrik.

STANDARD: Ihre Arbeit Anfang der 1960er-Jahre wurde von Kollegen als unkonventionell bewertet: Sie gaben den Schimpansen Namen anstatt Nummern und betrachteten sie als Individuen mit eigenständigen Persönlichkeiten. War diese Herangehensweise ohne die Scheuklappen der damaligen wissenschaftlichen Regeln ein Vorteil?

Goodall: Mein Mentor Louis Leakey war überzeugt, dass diese Denkweise nicht durch die wissenschaftlichen Theorien jener Zeit eingeschränkt war. Ich weiß nicht, wie sehr mich ein akademischer Grad verändert hätte.

STANDARD: Sie beobachteten Schimpansen etwa beim Gebrauch von Werkzeugen. Wie war die Reaktion anderer Wissenschafter?

Goodall: Mir wurde nicht geglaubt. Ich hatte ja noch keine wissenschaftlichen Referenzen. Mir wurde sogar vorgeworfen, dass ich den Affen beigebracht hätte, die Werkzeuge zu verwenden. Wie sollte man das komplett wilde Tiere lehren? Das wäre doch ein brillanter Erfolg gewesen. (lacht)

STANDARD: Heute würde man Ihre Herangehensweise "Networken" nennen. Wie hat ein einzelner Schimpanse Ihre Arbeit erleichtert?

Goodall: Das war David Greybeard. Ich sage nur spaßhalber, dass er mich den anderen vorgestellt hat. Aber weil er seine Furcht vor mir abgelegt hat, haben sich die anderen Schimpansen ebenfalls beruhigt.

STANDARD: Doch Sie konnten nicht nur Eigenschaften wie Fürsorge und Selbstlosigkeit beobachten. Wie ähneln uns Schimpansen noch?

Goodall: So wie wir haben sie eine brutale und aggressive Seite. Aus einer größeren Gemeinschaft haben sich zum Beispiel einmal sieben Männchen und einige Weibchen absentiert. Nach ein paar Jahren beanspruchte diese kleine Gruppe wieder ein Areal, zu dem ihre ursprüngliche Gemeinschaft Zugang hatte. Es war wie ein Bürgerkrieg. Es attackierten sich Tiere, die miteinander aufgewachsen waren.

STANDARD: Wie ist dieser Konflikt ausgegangen?

Goodall: Die größere Gruppe kontrollierte die Grenzen des Territoriums und attackierte alle Männchen, die sie überschritten. Einer nach dem anderen wurde getötet. Es war furchtbar, denn ich kannte diese Tiere, ihre Persönlichkeiten, hatte sie als Jungtiere miteinander spielen sehen.

STANDARD: Wie stehen Sie zum Thema Menschenrechte für Menschenaffen?

Goodall: Ich denke, es ist schon gut, wenn Tiere Rechte bekommen. Aber das kann nur ein Sprungbrett sein. Denn es haben auch Menschen Rechte, diese werden aber jeden Tag überall auf der ganzen Welt verletzt. Ich plädiere viel mehr für eine Bewusstseinsänderung. Ich erzähle meine Geschichten über die Tiere, damit die Menschen sie von selbst mit Respekt behandeln wollen und nicht einem Gesetz gehorchen.

STANDARD: Was sind die großen Herausforderungen im Naturschutz?

Goodall: Drei Punkte. Wir müssen extreme Armut beseitigen: Wer auf dem Land wirklich arm ist, wird auch die letzten Bäume fällen, um mehr Nahrung anbauen oder um Kohle gewinnen zu können. Wer in der Stadt lebt, wird das billigste Essen kaufen und sich keine Gedanken darüber machen können, unter welchen Bedingungen es produziert wurde. Ein zweiter Punkt ist der gierige, materialistische Lebensstil, den so viele von uns führen. Erfolg wird daran gemessen, wie viel Geld, welches Auto, welche Möbel wir haben, anstatt daran, ob wir glücklich sind, unsere Kinder eine gute Bildung bekommen, wir Zeit haben, in der Natur zu sein – ob wir ganz einfach schon genug haben. Und drittens: Wir brauchen die natürlichen Ressourcen schneller auf, als sie uns die Natur wieder zur Verfügung stellen kann. Alle drei Punkte bedingen Klimawandel, Desertifikation, schrumpfende Trinkwasserreserven, Vergiftung von Ozeanen und Luft.

STANDARD: Welche Ergebnisse Ihrer Arbeit ermutigen Sie, trotzdem voller Energie weiterzumachen?

Goodall: Im Gombe-Stream-Nationalpark arbeiten wir zum Beispiel mit Dorfbewohnern zusammen. Gombe-Schimpansen haben inzwischen dreimal so viel Wald zur Verfügung wie vor 15 Jahren. Die Bäume kommen zurück, es entstehen neue Waldkorridore. Im vergangenen Jahr siedelten sich sogar zwei Weibchen von außerhalb an und haben dadurch den Genpool erweitert. Das ist sehr ermutigend. Die Dorfbewohner benutzen iPads und Smartphones, um den Zustand der Wälder zu dokumentieren. Sie machen Aufnahmen, die auf eine Seite namens globalforestwatch.org geladen werden, wo sie jeder fast in Echtzeit ansehen kann.

STANDARD: In Tansania werden hingegen auch ganze Dörfer unfreiwillig abgesiedelt, da Nationalparks erweitert werden – auch um mehr Platz für Jagdtourismus zu schaffen. Ist diese Diskrepanz zwischen Menschenrechten und Naturschutz ein Problem, das Ihnen oft begegnet?

Goodall: Das verursacht Zorn. Man würde es den Menschen dann nicht verübeln, wenn sie wildern. Sie wurden von ihrem Land vertrieben. Wir arbeiten hingegen mit den Leuten zusammen. Die Menschen helfen uns beim Naturschutz, und wir haben ihnen dabei geholfen, ihre Lebenssituation zu verbessern.

STANDARD: Wie helfen Sie den Menschen vor Ort?

Goodall: Wir haben etwa Programme mit jungen Mädchen in Tansania, Uganda, der Demokratischen Republik Kongo und im Senegal. Denn wenn die Bildung der Frauen besser wird, schrumpft die Größe der Familien, was Konflikte um Fläche verringert. Wir unterstützen sie dabei, die Geburten von Kindern zu planen, und wir bieten Mädchen in der Pubertät Hygieneartikel an, damit sie weiterhin die Schule besuchen. Wichtig sind zudem verschließbare Toiletten, um ihre Privatsphäre zu wahren. Manche Menschen verstehen nicht, dass das alles zusammenhängt. Sie fragen, warum wir Geld sammeln, um Toiletten zu errichten, und nicht direkt für den Schutz von Schimpansen.

STANDARD: Wie kann man Landkonflikte zwischen Schimpansen und Menschen vermeiden?

Goodall: Je weiter die Menschen in die Wälder vordringen, desto weniger Nahrung haben die Schimpansen. Also fressen sie natürlich die Ernte. Ein Beispiel, um zu zeigen, wie schlau die Schimpansen sind: Einige haben gelernt, die Früchte in der Nacht zu holen, wenn sie nicht gesehen werden können. Eine simple Lösung ist es, rund um die Wälder Nahrung anzubauen, die den Schimpansen nicht schmeckt. (Julia Schilly, 20.5.2017)