Früher gab es "Ohrenreiberln" am Heumarkt, heute bricht die Erregung aus, wenn man das Projekt erwähnt. Jeder bastelt seine eigene Vision.

Foto: Felix Grütsch

Ältere Semester können sich noch an die legendären Heumarkt-Catcher und ihre schmerzhaften "Ohrenreiberln" erinnern. Am sogenannten Damentag hatten die Besucherinnen freien Eintritt und Gelegenheit, ihre Contenance zu verlieren: Bis heute sind einige wienerische "Bonmots" dieser aufmunternden Zurufe geläufig: "Schurli, sauf eam a Aug' aus, des andere lass eam zum Wanen!" Gemeint war Publikumsliebling Georg "Schurli" Blemenschütz. Oder "Reiß eam die Brust auf und scheiß eam ins Herz", zitierte sogar Der Spiegel in einer Reportage eine beliebte Handlungsanleitung. Bis heute gibt es daher noch in Wien bei schlechtem Benehmen die Ermahnung: "Wir sind nicht am Heumarkt!"

Wagt man es dieser Tage, sich für das Heumarkt-Projekt auszusprechen, wird man gleich niedergebrüllt, als hätte man sich für die Todesstrafe ausgesprochen. Wie kannst du nur? Auf Nachfrage höre ich zu meiner mäßigen Überraschung auf die Gegenfrage "Kennst du das Projekt?" die selbstbewusste Antwort: Nein, aber der Turm verschandelt alles, und außerdem verliert Wien das Unesco-Kulturerbe.

Das große Schweigen

Etliche Gegner haben bei der Grünen-Abstimmung teilgenommen, ohne auch nur ein Detail des Projektes zu kennen. Nicht dass viele Gegner mit dem Wiener Kulturerbe etwas am Hut hätten. Sie schweigen, wenn die Kaffeehauskultur mit Tourismusfüßen getreten wird oder der Naschmarkt in ein Ghetto für Touristen verwandelt wird, in das diese busweise von den Donaukreuzfahrtschiffen gekarrt werden. Die Causa Heumarkt ist zur "literarischen Polemik" à la Alfred Polgar geworden. "Fünfundneunzig Prozent aller solcher Händel sind persönlicher Natur, die übrigen fünf hingegen sind es auch." Ich frage mich, was der vielzitierte Canaletto mit dem Unesco-Kulturerbe zu tun hat. Gibt es eine Auflage, dass dieser Blick genau so erhalten werden muss?

Wikipedia weiß: "Beim sogenannten Canaletto-Blick auf Wien handelt es sich um eine Perspektive der Wiener Innenstadt vom oberen Schloss Belvedere aus, die von Bernardo Bellotto, genannt Canaletto, populär gemacht wurde."

Ich frage mich, wo die Diskussion um den Canaletto-Blick beim Bau des in die Höhe ragenden Beton-Glas-Sarges von Wien Mitte war. Oder des ländlich-sittlichen Raiffeisen-Hochhauses neben dem Hilton-Hotel.

Dazu ergänzt Wikipedia zum Canaletto-Blick: "Auch der Bau des Hotels Intercontinental führte hier nur zu marginalen Veränderungen. Die wiederholt auftretenden Pläne, nahe dem historischen Zentrum Wiens Hochhäuser zu errichten, wurden und werden allerdings stets im Zusammenhang mit dem Canaletto-Blick diskutiert (Umgebungsschutz). Deshalb spielt er auch im Wiener Hochhauskonzept eine Rolle."

Ich frage mich, wieso ausgerechnet bei diesem Projekt die Wogen derart hochgehen. Wo waren die Heumarkt-Diskutanten beim Ufo-Landeplatz Flugfeld Schwarzenbergplatz? Ja, Flugfeld ist das nächste Stichwort. Der neue Flughafen Wien, ein Bau, der jeder Beschreibung und erst recht Benutzung spottet, ein Gebäude öffentlichen Interesses und öffentlicher Beteiligung, wurde sang- und klanglos hingerotzt. Korruptionsvorwürfe inklusive. Gab es irgendwelche Einwände? Höchstens Spott in den Medien über den Belag, der nach der Eröffnung Blasen warf, über die ich immer wieder stolpern durfte.

Wenn es Wien an einem mangelt, so sind dies öffentliche Plätze, urbane Begegnungsorte, im Sinne der Agora (Parks sind etwas anderes). Letztlich ist nur das Museumsquartier ein wirklich öffentlicher Platz. Der hintere Teil des Karlsplatzes mit dem Brunnen vor der Karlskirche harrt auch einer Sanierung. "Eine Verbesserung wäre wünschenswert. Für uns ist es wichtig, dass das Museum in einem funktionierenden, schönen Umfeld ist", sagte der Direktor des Wien-Museums, Matti Bunzl, kürzlich in der Presse. Das schöne und funktionierende Umfeld gilt im selben Maße für das Konzerthaus, den Eislaufplatz und den gesamten Heumarkt-Bereich.

Kaum jemand erwähnte in den zahlreichen Streitbeiträgen, welche positive Veränderung die Neugestaltung des Heumarktes für das Wiener Konzerthaus und die Wiener Musikfreunde hat. Das Konzerthaus erhält einen zweiten Eingang.

Vom Müll befreite Gstätten

Endlich darf der von den Theaterarchitekten Ferdinand Fellner und Hermann Gottlieb Helmer in Zusammenarbeit mit Ludwig Baumann gestaltete Musiktempel vom Müll befreit dastehen. Jetzt blicken die Besucher aus den Fenstern der Pausenfoyers in das, was man in Wien "a Gstätten" nennt. Die Musikfreunde haben endlich die Möglichkeit, vor das Haus zu treten, ohne von der Rennbahn belästigt zu werden.

Markus Lust, Chefredakteur des Magazins Vice, begründete in einer Polemik, warum Wien die beschissenste Stadt der Welt ist: "Wer mit Vernunft argumentiert, hat die Seele von Wien und die Mentalität seiner Bewohner bereits grundlegend missverstanden. Unser großer Franz Grillparzer hat einmal gesagt: 'Es muss was geschehen, aber es darf nix passieren.'"

Jammern über den Status quo

Kaum ein Satz hat die Gemütslage unseres Landes, die sich praktischerweise seit dem 19. Jahrhundert nicht mehr geändert hat, besser beschrieben. "Wiener haben gleichzeitig panische Angst vor Veränderung, aber auch einen wahnsinnigen Drang, über den Status quo zu jammern." Zwar lässt sich das Zitat nicht bei Grillparzer belegen, doch ist es deswegen nicht weniger gültig. (Ernst Grandits, 26.5.2017)