Die Erwartungshaltung nach der Einnahme von Placebos führt zu neurobiologischen Veränderungen im Gehirn.

Foto: iStock

Der Mensch ist eine ziemlich erstaunliche Maschine, konkret sein Gehirn, das Medizinern in Aufbau und Funktionsweise zu weiten Teilen immer noch unbekannt ist. "Ohne Zauberspruch hat die Medizin keine Wirkung", formulierte es einst der griechische Philosoph Platon 400 vor Christi Geburt – und meinte damit, dass jede Art von Medizin wesentlich besser wirkt, wenn sie mit einem gewissen Ritual verabreicht wird. Und nicht nur das: Selbst wenn statt eines Medikaments nur ein Scheinwirkstoff, also etwa ein Zuckerkügelchen verabreicht wird, kann es sein, dass die Beschwerden eines Leidenden gelindert werden. Als Placeboeffekt (vom Lateinischen "placebo", "ich werde gefallen") ist dieses Phänomen heute ein fix etablierter Faktor medizinischer Forschung.

"Wir beginnen gerade erst, die physiologischen Auswirkungen der Vorstellungskraft zu verstehen", sagt Neurobiologe Marcus Täuber, der den Placeboeffekt in pharmazeutischen Studien beobachtet hat und ihn faszinierend fand.

Medikamente, die heute zugelassen werden, müssen ihre Wirkung in doppelt verblindeten, placebokontrollierten Studien unter Beweis stellen. Dabei werden Probanden in zwei Gruppen aufgeteilt. Eine Gruppe bekommt den echten Wirkstoff, das Verum, die anderen ein Scheinmedikament, ein Placebo eben. Dabei kennen weder Arzt noch Patient die genaue Aufteilung.

Sich besser fühlen wollen

Das Erstaunliche daran: Bei nahezu allen, nach den strengen Kriterien der Objektivität durchgeführten Studien, zeigen sich immer auch in der Placebogruppe positive Effekte, die folglich allein durch die reine Vorstellungskraft der betroffenen Probanden hervorgerufen worden sind.

Besonders eindrücklich zeigt sich der Placeboeffekt in Studien zu Antidepressiva. Durchschnittlich bei 30 bis 40 Prozent der depressiven Probanden verbesserte sich die Lebensqualität durch die Einnahme eines Scheinmedikaments. "Wenn die subjektive Selbstwahrnehmung in Mitleidenschaft gezogen ist, scheinen Placebos besonders gut zu wirken, genauso wie bei Schmerzen", sagt Gerald Gartlehner, Leiter des Departments für evidenzbasierte Medizin und Klinische Epidemiologie an der Donau-Universität Krems. Durch die doppelt verblindeten Studien sei diese Kraft der Erwartungshaltung und der Autosuggestion überhaupt erst messbar geworden, sagt er. In Fachkreisen wird heute diskutiert, wie und in welchen Situationen man sich diese Wirkung zunutze machen kann. "Das Verabreichen eines vermeintlichen Medikaments stellt die Medizin vor ethische Herausforderungen", so Gartlehner.

Bereits Plato und Hippokrates waren sich uneinig, ob ein Arzt eine Therapie vortäuschen darf. Gartlehner sieht auch die Gefahren: "Der Placeboeffekt macht die Grenze zur Quacksalberei unscharf, weil er den absurdesten Behandlungen die Tür öffnet", Menschen bauten schließlich auch zu Schamanen und Scharlatanen ein Vertrauensverhältnis auf.

Dem System vertrauen

Um die "weichen", also substanzungebundenen Faktoren im Genesungsprozess auf wissenschaftlicher Basis zu untersuchen, wurde 2011 an der Harvard Medical School das Program in Placebo Studies & Therapeutic Encounter (PiPS) ins Leben gerufen. Auf der Website werden aktuelle Studien zum Thema gesammelt, etwa jene Meta-Analyse, die das Vertrauen von Patienten in das Gesundheitssystem systematisch untersucht hat. So konnte eindeutig belegt werden, dass Patienten, die dem System vertrauen, nicht nur besser auf diverse Behandlungen ansprachen, sondern darüber hinaus auch eine Verbesserung ihrer Lebensqualität zu Protokoll geben konnten.

"Die Erwartungshaltung führt zu neurobiologischen Veränderungen im Gehirn", sagt Täuber, und nennt den Hirnbotenstoff Dopamin als Schlüsselelement. Wenn das Dopamin steigt, steigt auch das als Glücksbotenstoff bekannte Serotonin, erklärt er, und das wiederum interagiert mit dem Stresshormon Cortisol. Wer Vertrauen fasst und zuversichtlich ist, senkt sein körperinternes Stresslevel, schüttet zudem das Bindungshormon Oxytocin aus. Bei Menschen, die gut auf Belohnungen ansprechen, dürfte der Placeboeffekt am stärksten ausgeprägt sein, so Täuber.

Sitz all dieser komplexen Hirn- und Schmerzregulation ist jedenfalls der präfrontale Kortex, das ist der Bereich zwischen Stirn und Ohren. Die gute Nachricht: Dieser Frontallappen der Großhirnrinde lässt sich durch Meditation besonders gut trainieren, und das ist auch der Grund, warum Neurobiologe Täuber als Mentaltrainer arbeitet. Die innere Einstellung ist bestimmend. Täuber nennt eine Studie an Zimmermädchen als Beleg. Einer Gruppe wurde glaubhaft auseinandergesetzt, dass das Aufräumen von Hotelzimmern ein sportliches Training und gut für die Gesundheit ist. Im Vergleich zur Zimmermädchen-Kontrollgruppe, die das so nicht sah, hatte die "sportliche innere Einstellung" positive Auswirkungen auf Gewicht und Blutdruck. Ebenfalls beeindruckend, so Täuber, sei die Studie an Nonnen. Jene, die positiv denken, leben im Schnitt um zehn Jahre länger als diejenigen, die pessimistisch durchs Leben gehen.

Alles wird neu

Insofern geht es laut Gartlehner auch darum, die Möglichkeiten eines Placeboeffekts gezielt in bestimmte medizinische Behandlungen als Element zu integrieren und sie bei jenen Krankheiten zu nutzen, bei denen Placebo erfolgversprechend zu sein scheint. Die Selbstheilungskräfte, da sind sich Täuber und Gartlehner einig, sollten immer eine Art Zusatz zu bestehenden Behandlungen sein. Die Placeboforscher in Harvard formulieren ihr wissenschaftliches Ziel so: "Es geht darum, die echten Zutaten der 'fake medicine' zu finden." Die Zeichen stehen gut, dass Zeit, Zuwendung und Empathie bald in den Wirkstoffstatus aufrücken. Evidenzbasiert. (Karin Pollack, 3.6.2017)