Ratti: "Es geht nicht ums Klonen von wenigen, unveränderlichen – weil urheberrechtlich geschützten – Prototypen, sondern um Mutation, also um das kontinuierliche, emanzipierte Weiterentwickeln."

Foto: Daniele Ratti

Der italienische Architekt und MIT-Forscher Carlo Ratti plädiert für einen offeneren Umgang mit Wissen und Wahrheit. Sein Ziel ist eine kollektiv gelebte Kultur des Teilens. Ein Appell für Open Source Architecture.

STANDARD: Haben Sie jemals eine Idee geklaut oder gegen das Urheberrecht verstoßen?

Ratti: Das ist eine große Frage für einen Gesprächsbeginn! Intuitiv würde ich sagen: nein. Aber tatsächlich wird es wohl ein Ja sein. Sämtliche Ideen in unserem Büro und auch am Massachusetts Institute of Technology (MIT) entwickeln wir im Team. Da kann man nie genau sagen, welche Idee von wem stammt. Ich fürchte, da werden einige Urheberrechtsverletzungen darunter sein.

STANDARD: Und wie stehen Sie zum Hacken?

Ratti: Hacking ist eine der Kernkompetenzen der MIT-Kultur. Wir alle hacken, und zwar nach Möglichkeit alles. Das ist unser Job. Durch Hacken werden Fehler aufgedeckt und neue Ideen und Mutationen geboren. Hacken und Kreativität sind untrennbar miteinander verbunden. Das ist Evolution!

STANDARD: Sie machen sich für Crowd Creativity und für eine Öffnung und Lockerung des Copyrights stark. Warum eigentlich?

Ratti: Crowd Creativity hat es immer schon gegeben. Bloß gab es dafür andere Bezeichnungen. In der italienischen Kunstgeschichte sind manche Werke nicht eindeutig einem Meister zuzuordnen. Raffael beispielsweise hatte in seiner Werkstatt so viele Schüler, dass bei einigen Madonnen und Papstbildnissen gar nicht klar ist, was tatsächlich von ihm stammt und was nicht. Und doch sprechen wir immer von Raffael. Eigentlich müssten wir Raffael-Crowd dazu sagen. Das ist Open-Source-Kunst!

STANDARD: In Ihrem Buch "Open Source Architecture" schlagen Sie vor, die Architektur und Stadtplanung zu öffnen und ebenfalls in Form von Open Source jedem zugänglich zu machen. Wie genau kann man sich das vorstellen?

Ratti: Ich vergleiche die Idee der Open Source Architecture gerne mit dem Softwareprogramm Linux oder dem Online-Lexikon Wikipedia. Es geht darum, kostenlos und ohne Hürden Wissen zu teilen. Dadurch soll Architektur einer großen Zahl an Menschen zur Verfügung gestellt werden. Auf Wikipedia sind es die User selbst, die Content produzieren.

STANDARD: Werden wir dann alle zu Architekten?

Ratti: Das ist einer der heikelsten Punkte. Natürlich braucht es hier nicht nur die Wahrheit und Korrektheit von Daten wie im Fall von Wikipedia, sondern auch technisches Know-how und planerische Kompetenz. Ich denke, diese Daten können aus ganz unterschiedlichen Disziplinen kommen – von Architektinnen, Stadtplanerinnen, Soziologen, Ingenieuren und Ökonomen. Aber natürlich braucht es ein gewisses Mindestmaß an Wissen. Die richtige Dosierung zu finden ist eine der großen Herausforderungen für die Zukunft.

STANDARD: Wo passiert das heute schon?

Ratti: Die bekannteste und medial am häufigsten diskutierte Plattform ist mit Sicherheit WikiHouse. Außerdem gibt es Goteo, Brickstarter, Estate Guru, Open Architecture Network und viele andere. All diese Plattformen bemühen sich um eine Multiplizierung von Wissen und Wahrheit. Es tut sich schon sehr viel, aber noch ist das Thema tabuisiert und zu wenig verbreitet.

STANDARD: Welche Einsatzgebiete können Sie sich für Open Source Architecture vorstellen?

Ratti: Aus heutiger Sicht sehe ich einen sinnvollen Einsatz im Bereich von Notquartieren, die im Zuge natürlicher und politischer Krisen und Katastrophen benötigt werden. Sehr sinnvoll erachte ich Open Source Architecture im Bereich Entwicklungshilfe. Für die indisch-amerikanische Prajnopaya Foundation haben wir vor einigen Jahren das sogenannte "Tsunami Safe(r) House" entwickelt. Die Pläne und das technische Know-how werden kostenlos zur Verfügung gestellt. Allein in Sri Lanka wurden auf dieser Basis mehr als 1000 tsunamisichere Häuser errichtet.

STANDARD: Und was bringt Open Source Architecture außerhalb dieses Katastrophenkontextes?

Ratti: Seit der Industrialisierung und seit der Moderne steigen die Produktionszahlen und der damit verbundene wirtschaftliche Druck rasant an – ob das nun im Design, in der Industrie oder in der Baubranche ist. Es wird permanent produziert, und wir haben überhaupt keine Möglichkeit mehr, das Produzierte auf seine Richtigkeit und auf seine Angemessenheit zu überprüfen. Die Öffnung des Wissens wäre für mich ein Mittel zur Reflexion, eine Art Gradmesser, mit dem wir überprüfen könnten, ob wir auf dem richtigen Weg sind.

STANDARD: Das müssen Sie bitte erklären!

Ratti: Schauen Sie sich nur einmal die Kommentare auf Trip Advisor und die Kundenbewertungen in den vielen Suchmaschinen an, die wir heute im Internet vorfinden! Es ist die Crowd, die beurteilt, ob ein Produkt attraktiv und wettbewerbsfähig ist oder nicht. Diese Qualität, diese interdisziplinäre Kundenkompetenz ist auch auf die Architektur und Stadtplanung übertragbar.

STANDARD: Und das wird zwangsweise zu besseren Häusern und zu schöneren Städten führen?

Ratti: Ja, davon bin ich überzeugt. Evolution erzeugt Vielfalt und Qualität – und zwar unabhängig davon, ob wir nun von natürlicher oder von künstlicher Selektion sprechen. Diese Evolution würde die gebaute Umwelt massiv bereichern.

STANDARD: Indem dann jeder sein eigenes Einfamilienhaus in die Landschaft druckt?

Ratti: Gehen Sie davon aus, dass die neuen Technologien in der Baubranche wie etwa Building Information Modeling (BIM), Customized Production und 3D-Druck erst der Anfang sind! Die Entwicklung wird uns noch viele Überraschungsmomente bescheren.

STANDARD: Laufen wir mit dieser Banalisierung und Egalisierung von Schaffenskraft nicht Gefahr, dass früher oder später die ganze Welt gleich ausschaut?

Ratti: Aber nein! Ganz im Gegenteil. Befragen wir doch einmal Mutter Natur: Wie viele Spezies gab es vor 3,5 Milliarden Jahren? Und wie viele gibt es heute auf der Welt? Na also! Indem wir das Wissen öffnen und die Konsumenten zur Selektion bevollmächtigen, steigern wir die Vielfalt unserer gebauten Umwelt. Es geht ja nicht ums Klonen von einigen wenigen, unveränderlichen – weil urheberrechtlich geschützten – Prototypen, wie uns das die Moderne aufoktroyieren wollte, sondern um Mutation, also um das kontinuierliche, emanzipierte Weiterentwickeln.

STANDARD: Und was passiert dann mit der Spezies Architekt? Die wird aussterben?

Ratti: Das wird sie sowieso.

STANDARD: Weil?

Ratti: Gerade mal zwei Prozent des globalen Bauvolumens werden von Architekten geplant. Das ist fast nichts. Es gibt zwar einige wenige Stararchitekten, die Ruhm und Ehre genießen, aber deren Einfluss auf das Bauen ist verschwindend gering. Im Übrigen können wir davon ausgehen, dass durch Robotik und künstliche Intelligenz ein Großteil der heute bestehenden Jobs ohnehin aussterben wird – oder zumindest neu definiert werden wird müssen. Je früher und je aktiver wir das anpacken, desto besser.

STANDARD: Ihr Buchmanifest "Open Source Architecture" hat weltweit Beachtung gefunden. Was sind die nächsten Schritte?

Ratti: Ausprobieren und Experimentieren. Die Studierenden und Theoretiker sind von der Abschaffung des Copyrights und der Öffnung im Sinne von Creative Commons sehr angetan. Sie sehen darin einen inspirierenden Handlungsspielraum für die Zukunft. Gleichzeitig jedoch werde ich von Architekten und Professionellen angefeindet, weil sie darin eine Gefährdung ihrer Disziplin sehen. Der nächste Schritt wird sein, zwischen dieser Angst und Euphorie die Wahrheit zu finden.

STANDARD: Wie lange geben Sie sich dafür Zeit?

Ratti: Bis zur Selbstverständlichkeit von Linux und Wikipedia ist es noch ein weiter Weg. (5.6.2017)