Amir Pouriya Mahrouzadeh: "Die Hilflosigkeit und die Verzweiflung in den Gesichtern der Menschen hat sich bei mir eingebrannt."

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Turin – Bei einer Massenpanik während der Übertragung des Champions-League-Endspiels zwischen Real Madrid und Juventus Turin wurden in Turin 1.400 Menschen verletzt. Während des Public Viewings auf der Piazza San Carlo brach am Samstag kurz vor Ende der Partie Chaos aus.

Drei Menschen wurden schwerst verletzt, teilte die Präfektur am Sonntag mit. Die Masse sei von einer "Angstpsychose" vor einem Terrorangriff ergriffen gewesen. Was genau die Flucht auslöste, muss noch ermittelt werden. Der Wiener Amir Pouriya Mahrouzadeh war Augenzeuge.

Standard: Wie haben Sie die Ereignisse auf der Piazza San Carlo erlebt?

Mahrouzadeh: Ich saß im hinteren Bereich auf einem Absperrgitter, eine Freundin stand neben mir. Wir hatten einen guten Blick auf die Leinwand. Nach dem Tor zum 1:3 war plötzlich ein eigenartiges Geräusch zu hören, das immer lauter wurde. Es war ohrenbetäubend.

Standard: Konnten Sie den Lärm zuordnen?

Mahrouzadeh: Nein, nicht genau, es hörte sich nach klirrenden Glasflaschen an. Ich sah eine gewaltige Welle von Menschen von vorne nach hinten auf mich zurollen. Wir wollten flüchten, doch ehe sich meine Freundin über die Absperrung retten konnte, wurden wir erfasst.

Standard: Und dann?

Mahrouzadeh: Das Gitter ist umgestürzt. Menschen sind auf meine Freundin gefallen. Sie dachte, sie würde sterben. Mir ging es nicht anders. Es waren Todesängste, der blanke Horror. Es entstand eine fürchterliche Panik.

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Panikszene auf der Piazza San Carlo: "Jeder hat nur geschaut, wie er da am schnellsten rauskommt."
Foto: REUTERS/Perottino

Standard: Wie konnten Sie sich befreien?

Mahrouzadeh: Ich weiß es nicht mehr genau, ich habe meine am Boden liegende Freundin am Arm gepackt und wir haben es irgendwie geschafft. Wir sind einfach nur weggelaufen und in ein Kino geflüchtet.

Standard: Hat sich die Lage dort beruhigt?

Mahrouzadeh: Nein. Viele Menschen waren blutüberströmt, haben geweint. Wir waren im Untergeschoss, als es oben wieder sehr laut wurde. Mir kam der Gedanke, dass wir jetzt in einer Sackgasse gefangen sind. Also haben wir den Notausgang gesucht, allerdings strömten dort gerade Menschen von der anderen Seite ins Kino.

Standard: Haben Sie mit anderen kommuniziert?

Mahrouzadeh: Soweit es ging, viele sprachen kein Englisch. Keiner konnte sich erklären, was genau passiert war. Aber natürlich wurde auch an einen Anschlag gedacht.

Standard: Wie haben sich die Leute in der Panik verhalten?

Mahrouzadeh: Im Kino war es den Umständen entsprechend zivilisiert. Ich hatte nicht das Gefühl, dass die Menschen hier über Leichen gehen würden. Auf der Piazza San Carlo hat jeder nur geschaut, wie er da am schnellsten rauskommt. Da hat keiner nachgedacht.

Standard: War der Platz vor dem Ausbruch der Panik überfüllt?

Mahrouzadeh: Nein, überhaupt nicht. Jeder hatte ausreichend Platz. Die Zugänge wurden auch immer wieder dicht gemacht. Es war eigentlich gemütlich.

Standard: Es wird berichtet, dass viele Leute trotz eines Verbotes Glasflaschen bei sich hatten.

Mahrouzadeh: Das stimmt. Ich konnte beobachten, wie kistenweise Bier und Wasser über die Absperrungen hinweg gehoben wurden. Das hat niemanden gekümmert. Auch die Kontrollen bei den Eingängen waren sehr lasch. Später sah ich sehr viele Verletzte mit tiefen Schnittwunden.

Amir Pouriya Mahrouzadeh sah den Einsatz von Pyrotechnik auf der Piazza San Carlo.
Foto: Amir Pouriya Mahrouzadeh

Standard: Gab es andere Auffälligkeiten oder gar Vorzeichen?

Mahrouzadeh: In der Fanzone wurde Pyrotechnik gezündet. Das hat mich doch gewundert, es war auch relativ wenig Polizei vor Ort. Die Fluchtmöglichkeiten waren stark begrenzt.

Standard: Haben Sie das Erlebte schon verarbeitet?

Mahrouzadeh: Die Hilflosigkeit und die Verzweiflung in den Gesichtern der Menschen hat sich in mein Gedächtnis gebrannt. Schlafen konnte ich zwar nicht, mir geht es jetzt aber wieder besser. Ob ich jemals wieder ein Public Viewing besuchen werde, kann ich noch nicht sagen. Vielleicht nehme ich psychologische Hilfe in Anspruch. Man darf sich nicht unterkriegen lassen. (Philip Bauer, 4.6.2017)