Ja oder nein? Habe ich mich angesteckt oder nicht? Geht es um eine HIV-Infektion, ist der Weg zur Klarheit für viele Menschen voller Hürden, vor allem Scham und Angst sind groß. "Es gibt Leute, die sich nicht hereintrauen, weil es ja sein könnte, dass sie jemand von der U-Bahn-Station aus sieht und dann vermuten könnte, sie seien positiv", erzählt Gerd Picher, langjähriger Mitarbeiter des Aids-Hilfe-Hauses am Mariahilfer Gürtel in Wien.

Er steht an diesem heißen Sommertag auf dem Dach des Gebäudes und führt durch das Haus. "Hier gehen jeden Tag hunderte Menschen ein und aus, und die wenigsten davon sind positiv." Intern sei lange diskutiert worden, ob man außen drauf schreibt, was sich drinnen befindet. Heute prangt ein großes Schild auf der Fassade, darauf steht in großen Buchstaben: "Aids Hilfe Haus".

Angst vor Ablehnung

Ja oder nein? Die Frage spielt bei der Übertragung von HIV eine Rolle. Ein Kondom nehmen oder nicht? Wieder im Weg steht die Angst, weiß der Obmann der Aids Hilfe Wien, Wolfgang Wilhelm. Klienten erzählen ihm etwa: "Wenn ich ein Kondom nehme, glaubt das Gegenüber, ich sei positiv, oder der andere denkt, ich glaube, er sei positiv." Wer vorher ein Kondom verwendet, muss nachher nicht zittern, sagen die Berater der Aids Hilfe Wien ihren Klienten immer wieder, so Wilhelm. Und auch für Scham gebe es keinen Grund: "In unseren Wartezimmern sitzen Menschen, die sich hinter einer Zeitung verstecken, dabei sind doch alle aus demselben Grund hier, um sich auf HIV testen zu lassen."

7000 dieser Tests führt die Aids Hilfe Wien jedes Jahr durch, im Haus und in mobilen Teststationen in der ganzen Stadt – etwa in Lokalen, beim diesen Samstag in Wien stattfindenden Life Ball oder in Migrantenberatungsstellen. "So erreichen wir die Menschen noch besser", sagt Wilhelm.

Gratis und anonym

Bei der Aids Hilfe Wien kann sich jeder Mensch gratis und anonym auf HIV testen lassen. Der Test wird mit einem Codewort versehen und bleibt anonym. Ja oder nein? So kann jeder selbst entscheiden, ob er das Ergebnis für sich behalten will oder nicht. "Lässt man sich beim Arzt testen, wird die Krankenkasse automatisch informiert", erklärt Picher.

Und so läuft der Test ab: Zuerst wird eine Nummer gezogen, dann im Vieraugengespräch geklärt, was die Motivation für den Test ist und ob er zum aktuellen Zeitpunkt überhaupt sinnvoll ist. "Hat jemand vorgestern einen unsafen One-Night-Stand gehabt, können wir eine Infektion heute noch nicht feststellen", erklärt Wilhelm. Das diagnostische Fenster, also die Zeit, in der der Körper Antikörper gebildet hat, die im Blut nachweisbar sind, beträgt etwa sechs Wochen.

Seitensprung, Kondom, einen Test machen: Die Frage "Ja oder nein?" spielt bei HIV immer noch eine große Rolle.
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Auf das erste Beratungsgespräch folgt die Blutabnahme. Die Aids Hilfe bietet auch einen Schnelltest, der innerhalb von 15 Minuten ein Ergebnis liefert und für den ein Selbstkostenbeitrag zu bezahlen ist. Beim herkömmlichen, kostenlosen Antikörpertest wird die Probe ins Labor geschickt, das Ergebnis kommt nach einer Woche zurück ins Aids-Hilfe-Haus und wird dem Klienten in einem persönlichen Gespräch mitgeteilt. Das sei besonders wichtig, sagt Wilhelm. Denn obwohl es gesetzlich nicht erlaubt ist, schicken Labors Befunde immer wieder einfach zu, weiß er aus Erzählungen. "Es sind schon Menschen völlig panisch zu uns gekommen, weil 'negativ' in ihrem Testergebnis stand."

Vor allem aber wenn der Test tatsächlich eine HIV-Infektion bestätigt, sei ein persönliches Gespräch mit einem psychologisch geschulten Berater unbedingt notwendig. "Der muss dann schauen, wie der Betroffene das Ergebnis aufnimmt, ob er jemanden anrufen will, ob man ihn guten Gewissens wieder gehen lassen kann oder ob die Gefahr besteht, dass die Person sich etwas antut. In diesem Moment ist Krisenintervention gefragt." Es wird etwa besprochen, wie die Person den Rest des Tages verbringt. Gleichzeitig wird überlegt, wie es nun weitergeht, und Kontakte zu Ärzten und HIV-Zentren werden hergestellt.

Hohes Aufkommen

Es gibt drei Zeiträume im Jahr, in denen besonders viele Menschen zum Test kommen: rund um den Life Ball und den Welt-Aids-Tag am 1. Dezember und nach dem Sommer, berichtet Wilhelm. Darunter sind 16-Jährige ebenso wie 70-Jährige, Paare, die frisch zusammen sind und wissen wollen, ob sie auf das Kondom verzichten können, Menschen, die von einem Thailandurlaub heimgekehrt sind, aber auch jene, die kein hohes Risikoverhalten haben, sich nach einem Test aber einfach besser fühlen, so Picher.

"Leider gibt es immer noch viele Mythen rund um das Thema", sagt Wilhelm. So glauben immer noch Menschen, HIV werde durch Küssen übertragen oder die Antibabypille schütze vor der Infektion. "Und es gibt Menschen, die ganz konkret das Risiko durch ungeschützten Geschlechtsverkehr verharmlosen und sich in ihrer Angst vor HIV die Tatsachen zurechtbiegen. Sie glauben, dass kein Risiko besteht, weil das Gegenüber eh 'gsund ausschaut'."

Aus allen Wolken fallen

Zum Test kommen daher auch Menschen, die davon überzeugt sind, sich angesteckt zu haben, und jene, die überhaupt nicht damit rechnen. "Sie fallen dann aus allen Wolken, weil sie immer monogam gelebt haben. Leider gilt das oft nicht für die Partner", sagt Wilhelm. Generell ist die Zahl der sogenannten "Late Presenter", also jener Menschen, die erst lange nach einer Infektion einen Test machen und deren Immunsystem schon beeinträchtigt ist, in Österreich sehr hoch. "Viele verdrängen, dass sie vor Jahren eine Risikosituation hatten", sagt Wilhelm.

Wer – ganz im Gegenteil – sehr früh dran ist und sich nur wenige Stunden nach einem ungeschützten sexuellen Kontakt behandeln lässt, kann bei einer Einnahme innerhalb von 48 Stunden von einer Postexpositionsprophylaxe (PEP) profitieren. Kommen Menschen in solchen Situationen ins Aids-Hilfe-Haus, werden sie sofort ins Spital weitergeschickt, sagt Picher. "Da zählt jede Stunde. Die PEP enthält die HIV-Therapie für ein Monat und kann die Wahrscheinlichkeit einer Infektion um bis zu 90 Prozent reduzieren. Sie ist eine große Erleichterung, wenn ein Kondom geplatzt ist oder wenn man betrunken einen Blödsinn gemacht hat", sagt Wilhelm.

Die Neuinfektionen in Österreich stagnieren bei 400 bis 500 Fällen jährlich.
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Wer sich mit HIV infiziert hat, kann heute mit einer effektiven Wirkstoffkombination so behandelt werden, dass nur mehr die Einnahme einer Tablette täglich notwendig ist, die zudem kaum mehr Nebenwirkungen hat. Dadurch gelingt es, die Betroffenen unter die Nachweisgrenze zu bringen, in diesem Stadium sind sie auch nicht mehr infektiös, sie können nach Absprache mit dem Arzt ohne Kondom Sex haben.

So schnell wie möglich

Wichtig ist, dass Betroffene nach einer Infektion so schnell wie möglich mit der Therapie beginnen. "Früher hat die Medizin darüber gestritten, ob man gleich behandeln oder abwarten soll", sagt Wilhelm. Mittlerweile sei längst entschieden, dass eine sofortige Therapie zu einem besseren und längeren Leben führt: "Die Betroffenen haben dieselbe Lebenserwartung wie die Durchschnittsbevölkerung oder sogar eine etwas höhere, weil sie medizinisch engmaschig betreut werden", sagt Picher.

Trotz effektiver Therapien gibt es aber auch noch Todesfälle: 19 Namen wurden kürzlich beim jährlich stattfindenden Aids Memorial Day verlesen, so viele sind im vergangenen Jahr im Raum Wien verstorben, die meisten an einer Folgeerkrankung von HIV. Im Aids-Hilfe-Haus erinnert ein Gedenkraum an sie. Freunde und Bekannte können dort Gegenstände hinterlassen, die sie an die Verstorbenen erinnern, die Wände sind gesäumt mit Fotos von freudigen gemeinsamen Erlebnissen und Briefen voller netter Worte.

Neuinfektionen stagnieren

Todesfälle sind selten geworden, Neuinfektionen hingegen stagnieren in Österreich bei 400 bis 500 Fällen jährlich. Um diese Zahlen zu senken, brauche es ein Bewusstsein in der Gesellschaft, sagt Wilhelm. "Eine große Testbarriere ist die Angst vor Diskriminierung und Ausgrenzung, wenn man positiv ist." Beides findet nach wie vor in sämtlichen Bereichen statt. Betroffene haben es etwa besonders schwer, einen Zahnarzt zu finden, der sie behandeln will, weiß Picher. "Dabei kann etwa Hepatitis weit schneller übertragen werden als HIV, doch diese Erkrankung ist für die meisten Zahnärzte kein Problem." Auch in anderen medizinischen Bereichen oder in der Arbeitswelt müssen Betroffene mit Ausgrenzung leben. "Sie verlieren ihren Arbeitsplatz ganz oder werden in ein kleines Kammerl verbannt", erzählt Wilhelm von den Erfahrungen der Klienten. Für ihn ist klar: "Nur wer sich traut, offen mit der eigenen Erkrankung umzugehen, der wird Prävention auch in der Beziehung zum Sexualpartner ansprechen."

Wie groß das Schamgefühl sein kann, zeigt folgende Anekdote, die der Obmann erzählt: "Vor einiger Zeit haben sich in einer unserer Selbsthilfegruppen zwei langjährige Kumpels getroffen, die beide vom anderen nicht wussten, dass er HIV hat. Obwohl es sie belastet hat, mit dem besten Freund nicht darüber sprechen zu können, war die Angst vor der Ablehnung größer. Nach einer anfänglichen Peinlichkeit waren am Ende beide zutiefst erleichtert." (Bernadette Redl, 10.6.2017)