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Der 1956 geborene Schriftsteller, Literaturwissenschafter und Essayist Juan Villoro ist einer der bekanntesten Autoren Mexikos. Er schreibt Romane, Erzählungen und Essays sowie Kinderbücher. Von 1981 bis 1984 war er Kulturattaché an der mexikanischen Botschaft in der DDR.

Foto: APA/EPA/ALEJANDRO GARCIA

STANDARD: Was ist eigentlich aus Montezumas Federkrone geworden? In Ihrem Kurzgeschichtenband "Los Culpables" erwähnen Sie den Mexikaner, der jeden Tag in einem federgeschmückten Gewand vor dem Völkerkundemuseum in Wien (heute Weltmuseum) für die Rückgabe der historischen Kopfbedeckung demonstrierte ...

Villoro: Das letzte Mal habe ich davon gehört, als der "Penacho" für eine Ausstellung als Leihgabe nach Mexiko kommen sollte. Die Mexikaner haben damals erklärt, dass sie ihn keinesfalls zurückgeben würden, weil das Stück Eigentum des mexikanischen Staates sei. Das Land hat aber so viele Probleme, dass die Rückkehr der Federkrone lediglich einen symbolischen Erfolg darstellen würde.

Viel wichtiger sind die Probleme der Menschen, die vielleicht demnächst aus den USA nach Mexiko zurückkehren werden müssen. Die Mexiko-Politik US-Präsident Donald Trumps ist rassistisch, aber bereits sein Vorgänger Barack Obama brach Rekorde, als er über drei Millionen Mexikaner abschieben ließ. Obama war das liebenswerte, lachende Gesicht einer diskriminierenden Politik.

Die USA benötigen mexikanische Arbeitskräfte, aber um dorthin zu gelangen, müssen diese furchtbare Gefahren auf sich nehmen. Man hätte schon längst Maßnahmen ergreifen müssen, um diese Arbeitsmigration in einen geordneten Rahmen zu stellen.

STANDARD: Bei der Wahl in den Bundesstaaten Estado de México ("Edomex") und Coahuila Anfang Juni ist es wie so oft in Mexiko zu massiven Unregelmäßigkeiten gekommen. Wäre hier der Einsatz ausländischer Wahlbeobachter hilfreich?

Villoro: Die mexikanische Demokratie ist durch und durch korrupt. Da können auch ausländische Wahlbeobachter nichts ändern. Die Wahlen laufen nach einem dreckigen Muster ab. Es hat sich zwar einiges gebessert, aber ob eine Wahl mehr oder weniger sauber abläuft, hängt davon ab, wer der Wahlbehörde vorsteht.

Edomex ist für Präsident Enrique Peña Nieto so wichtig, weil dort der Wahlkampf für die Präsidentenwahl 2018 beginnt. Der Bundesstaat war immer eine Hochburg seiner Partei der institutionalisierten Revolution (PRI) und besonders auch der kleinen Gruppe um ihn, die derzeit die PRI beherrscht. Deshalb haben sie ihre Anstrengungen darauf konzentriert, Wähler zu bestechen und einige Ergebnisse zu verfälschen. Alle Exit-Polls besagten, dass Delfina Gómez, die Kandidatin der Oppositionspartei Morena, gewonnen hat, aber am Ende hat es die PRI mit schmutzigen Tricks wieder einmal geschafft, zum Sieger erklärt zu werden.

Die PRI hat 71 Jahre Erfahrung, wie man sich an der Macht hält, und wir Mexikaner haben es leider nicht geschafft, das zu überwinden. Deshalb hat der Schriftsteller Mario Vargas Llosa gesagt, dass Mexiko die perfekte Diktatur sei, weil es nicht offensichtlich diktatorisch regiert wird, sondern dies durch Wahlbetrug erreicht wird.

STANDARD: Morena-Chef Andrés Manuel López Obrador (AMLO) hat sich öffentlich über Wahlbetrug beklagt. Erwarten Sie, dass die umfangreich dokumentierten Unregelmäßigkeiten gerichtliche Konsequenzen haben werden?

Villoro: Eigentlich müsste diese Wahl annulliert werden, aber das ist in Mexiko sehr schwierig, weil die Regierung alles daransetzen wird, das Ergebnis zu halten, und die Leute früher oder später den Wahlbetrug vergessen, statt dagegen zu protestieren. Diese Apathie erkläre ich mir dadurch, dass die Leute Angst haben, auf die Straße zu gehen, und es gewohnt sind, der staatlichen Autorität Gehorsam zu leisten.

STANDARD: Nach der Wahlniederlage López Obradors im Jahr 2006 kam es zu massiven Protesten in der Hauptstadt, die aber auch nichts bewirkten ...

Villoro: Es war meiner Ansicht nach ein strategischer Fehler AMLOs, die Blockade der wichtigen Verkehrsader Paseo de la Reforma anzukündigen, noch bevor die Wahlbehörde das Endergebnis verkündet hatte. Er erklärte sich zum legitimen Präsidenten und ließ sich bei einer Versammlung auf dem Hauptplatz Zócalo von seinen Anhängern per Handzeichen bestätigen, was große Teile seiner Wählerschaft, darunter mich, verunsichert hat. Das hat ihn viel politisches Kapital gekostet.

STANDARD: Wen wird die PRI für die Präsidentenwahl nächstes Jahr aufstellen? Präsident Peña Nieto darf ja nicht mehr antreten.

Villoro: Peña Nieto, der in Umfragen auf eine Zustimmung von lediglich zwölf Prozent kommt, regiert mithilfe einer kleinen Gruppe um ihn, und er will natürlich, dass sein Nachfolger aus diesem Kreis kommt. Möglich wäre eine Kandidatur des höchst umstrittenen Außenministers Luis Videgaray, der ein persönlicher Freund Jared Kushners, des Schwiegersohns Donald Trumps, ist. Eine andere Möglichkeit wäre Gesundheitsminister José Narro.

STANDARD: Der Indigenenkongress CRI will bei der Präsidentenwahl María de Jesús Patricio Martínez ins Rennen schicken. Könnte das López Obradors Morena-Partei schaden, wie dieser befürchtet?

Villoro: Ich würde nicht von "schaden" sprechen. Sie ist die interessanteste Kandidatin, obwohl sie mangels Ressourcen keine Chance auf einen Wahlsieg hat. Es wird für sie auch schwierig werden, in 17 der 32 Bundesstaaten insgesamt eine Million Unterstützungserklärungen zu sammeln. Mit solchen Tricks wird in Mexiko verhindert, dass sich Bürger außerhalb der etablierten Parteien am politischen Prozess beteiligen. Dabei wäre ihre Kandidatur ein wichtiges Signal für die Ausgeschlossenen der mexikanischen Gesellschaft wie Frauen und Indigene.

STANDARD: Morena setzt sich für ähnliche Anliegen ein ...

Villoro: ... aber trotzdem gehört sie zum System der etablierten Parteien, die große Summen vom Staat erhalten. Wir haben eine der teuersten Demokratien der Welt! Im Gegensatz zu den anderen spricht aber für Morena, dass die Partei noch nie einen Bundesstaat regiert hat. Allerdings kommen viele ihrer Mitglieder aus der etablierten Linkspartei PRD.

Für mich wäre ein Paradigmenwechsel wichtig, man müsste den bislang Ausgeschlossenen eine Stimme geben. Teile der Linken werden sich allerdings meiner Ansicht nicht anschließen. Falls es Morena schafft, eine ausreichend breite, moderne, selbstkritische Plattform zu bilden, könnten sie die Wahl gewinnen. López Obrador kann unter anderem wegen Donald Trumps Präsidentschaft gute Umfragewerte verzeichnen, weil er der Politiker ist, dem man am ehesten zutraut, eine nationalistische Position gegenüber den USA einzunehmen.

STANDARD: Die Wahl 2006 hat AMLO verloren, weil die Präsidentin der Lehrergewerkschaft SNTE, Esther Gordillo, die Stimmen ihrer über eine Million Mitglieder an Felipe Calderón verkaufte ...

Villoro: Gordillos SNTE hat Calderón damals zum Wahlsieg verholfen, für den am Schluss ein Vorsprung von 250.000 Stimmen reichte. Das ist bestens dokumentiert.

STANDARD: Was haben die Lehrer dafür erhalten? Die umstrittene Bildungsreform, gegen die sie seit Jahren protestieren, wurde ja nicht gestoppt.

Villoro: Nichts. Die SNTE ist eine große Mafia. Es geht ihnen nicht darum, etwas für die Lehrer zu erreichen, sondern nur um ihren eigenen Vorteil. Mehrere Personen aus dem Umfeld Esther Gordillos wurden für die Unterstützung Calderons mit lukrativen Posten belohnt.

STANDARD: Warum widersetzen sich die Lehrer der geplanten Reform? Was spricht dagegen, ihre Leistungen in regelmäßigen Abständen zu evaluieren?

Villoro: Hier ist zu beachten, dass es zwei Berufsvertretungen gibt. Die SNTE (Sindicato Nacional de Trabajadores de la Educación) ist die größte Lehrergewerkschaft Lateinamerikas, die 1979 gegründete CNTE (Coordinadora Nacional de Trabajadores de la Educación) im Süden des Landes kämpft gegen die Bildungsreform.

Dass die Leistungen der Schüler in die Bewertung der Lehrer einbezogen werden, ist durchaus logisch. Das Problem ist, dass das Lehrpersonal unter äußerst unterschiedlichen Bedingungen arbeitet: Im Gegensatz zu den Städten haben die Schüler auf dem Land oft einen mehrstündigen Fußmarsch hinter sich, wenn sie in die Schule kommen, viele sind unterernährt. Weil die Lehrer in ihrem Kampf gegen die von ihnen als ungerecht empfundene Reform auf Maßnahmen wie Straßenblockaden zurückgreifen, haben sie wenig Rückhalt in der Bevölkerung, die ihnen oft Arbeitsverweigerung vorwirft.

STANDARD: Viele der Lehrer, die in abgelegenen Regionen unterrichten, wurden in der Lehrerbildungsanstalt Ayotzinapa ausgebildet, die 2014 durch die Ermordung von 43 Studenten in die internationalen Schlagzeilen kam. Haben die Ermittlungen in diesem Fall seither Hinweise auf die Täter ergeben?

Villoro: Nein. Der Hintergrund dazu ist, dass die Regierung die ländlichen Lehrerbildungsanstalten, die unter Präsident Lázaro Cárdenas (1934–1940) eingeführt wurden, abschaffen will. Wenn es zwei Jahre lang keine Neuanmeldungen an einer dieser Schulen gibt, gilt die stille Übereinkunft, dass kein Bedarf besteht und sie geschlossen werden kann. Das kann man erreichen, indem man den Schulen keine Anmeldeformulare und Lehrmaterialien zuteilt, indem man Unterstützungen kürzt ...

Die Studenten an Anstalten wie der in Ayotzinapa kämpfen also von Studienanfang an gegen deren drohende Schließung. Die Lehramtsstudenten blockierten die Straße, die von Mexiko-Stadt nach Acapulco führt, weil sie bessere Bedingungen erreichen wollten. Bereits bei der Räumung dieser Blockade durch die Bundespolizei kamen zwei Studenten ums Leben, kurz darauf wurden 43 weitere verschleppt.

Die offizielle Version ist, dass die Leichen dann unter freiem Himmel auf einer Mülldeponie verbrannt wurden. Es wurden Überreste gefunden, die sich zwei Opfern zuordnen lassen. Die internationale Expertengruppe der Interamerikanischen Kommission für Menschenrechte schenkte dieser Version keinen Glauben, weil die Wetterbedingungen an diesem Tag dies nicht zugelassen hätten. Sie gehen vielmehr davon aus, dass die Leichen in einem Krematorium verbrannt wurden. Dieses könnte zu einem Spital oder einem Bestattungsunternehmen gehören oder dem Militär gehören.

Die ausländischen Experten wurden daraufhin verleumdet, ihre Ermittlungen wurden sabotiert, ihr Budget eingeschränkt. In Mexiko regiert die Straflosigkeit.

STANDARD: Welche Rolle spielte die mexikanische Armee, deren 27. Infanteriebataillon im nahe gelegenen Iguala stationiert ist? Das Militär überwacht zur Bekämpfung des Drogenschmuggels Telekommunikation und Verkehr, will aber von der Entführung nichts mitbekommen haben ...

Villoro: Die Ermittlungen in diese Richtung werden blockiert. Die internationale Expertengruppe erhielt keinen Zugang zu der Militärbasis, der Verteidigungsminister, General Salvador Cienfuegos, erklärte, Ausländer hätten dort nichts zu suchen – ihnen Zugang zu gewähren stelle Vaterlandsverrat dar. (Bert Eder, 17.6.2017)