Tablet im Unterricht – bloß ein neues Werkzeug.

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"Tablets für alle!" kann nicht die Antwort auf die Fragen und Problemstellungen sein, die sich aus der Digitalisierung für uns und vor allem für das Bildungswesen ergeben. Konrad P. Liessmann bleibt im STANDARD-Interview vom 7. Juni eine praktikable Antwort aber ebenso schuldig.

Gerade im Bereich der Lehre an Schulen und Universitäten sind die didaktischen Möglichkeiten digitaler Unterstützung des Lehrangebots noch lange nicht ausgeschöpft. Wie Liessmann von einem abnehmenden Boom zu sprechen, mutet geradezu absurd an, wenn man die mannigfaltigen Initiativen bedenkt, die speziell auch im deutschsprachigen Raum in den vergangenen Jahren gestartet wurden und deren bloße Aufzählung den Rahmen dieses Kommentars sprengen würde. Exemplarisch sei an dieser Stelle nur das Projekt "Open Education Austria" erwähnt, dessen Ziel es ist, offene Bildungsressourcen für alle – auch jene außerhalb des wissenschaftlichen Elfenbeinturms Universität – zur Verfügung zu stellen und dessen schiere Existenz eben gerade nur in einer digitalisierten Welt möglich ist.

Wenn Liessmann tatsächlich glaubt, digitales Lernen werde in Zukunft keine gesteigerte Rolle spielen, muss er sich zumindest den Vorwurf gefallen lassen, über die Entwicklung der Hochschuldidaktik an seiner eigenen Arbeitsstätte nicht Bescheid zu wissen. Wohin man auch schaut: Von der Massenuniversität bis zur Ivy-League baut derzeit jede tertiäre Bildungseinrichtung auf dem Planeten digitale Lernumgebungen aus.

Neue digitale Werkzeuge

Die in den zahlreichen Debatten rund um die digitalen Komponenten guter Lehre vorgebrachten Argumente der Kritiker lassen oft an verzweifelte Rückzugsgefechte ausgesprochen intelligenter Menschen denken, die sich mit einer Welt konfrontiert sehen, die sie nicht so gut verstehen, wie sie es gerne würden. Liessmanns regelmäßig wiederholte Digitalisierungskritik erinnert stark an den Kulturpessimismus eines Theodor Adorno. So wie die Theoretiker der Frankfurter Schule die Industrialisierung nicht einfach wegschreiben konnten, wird auch der Ekel manches Bildungsbürgers vor der Digitalisierung von den Tatsachen des digitalen Zeitalters überrollt.

Digitale Hilfsmittel wie Tablets, Laptops oder E-Learning-Plattformen sind in der Lehre vor allem eines: nützliche Werkzeuge. Nicht mehr, aber eben auch nicht weniger. Als Werkzeuge können und müssen digitale Medien eingesetzt werden, um Schüler und Schülerinnen auf eine digitale Welt vorzubereiten, die sich fundamental von jener des 18. und 19. Jahrhunderts unterscheidet, aus der leider immer noch zu viele der Eckpfeiler unserer Schulsystems stammen. Sie machen gute Lehrer und Lehrerinnen keinesfalls obsolet, sondern stellen ihnen einen erweiterten Werkzeugkoffer zur Vermittlung von Wissen und Kompetenzen zur Verfügung.

Neues Verhältnis von Wissen und Subjekt

Wer hat denn eigentlich – wie von Liessmann polemisch impliziert – behauptet, Digitalisierung sei per se etwas Gutes? Tatsächlich verändert Digitalisierung das Verhältnis von Wissen und Subjekt. Gerade die Rolle von Lehrerinnen und Lehrern, sei es an Schulen oder Universitäten, ist dafür exemplarisch. Nahezu das gesamte wissenschaftliche Wissen ist über Datenbanken und Online-Lexika jederzeit verfügbar. Angesichts dieses unerhörten digitalen Wissensspeichers können Lehrpersonen nicht in erster Linie als Reservoir für Faktenwissen betrachtet werden.

Im Versuch, den Wissenshunger und den Glauben an die emanzipatorische Kraft der Vernunft und des Wissens an einem einzigen Artefakt der europäischen Aufklärung festzumachen, landet man schnell bei den großen Enzyklopädien des 18. und 19. Jahrhunderts. Eine der wohl bekanntesten und renommiertesten Vertreterinnen ihrer Art war die Encyclopædia Britannica. Die Verwendung der Vergangenheitsform deutet es aber schon an: Die Encyclopædia Britannica erscheint seit 2010 nicht mehr. In einer Zeit, in der eine kurze Google-Recherche meist eine Vielzahl an verwertbaren Treffern liefert und alleine die englischsprachige Wikipedia fünf Millionen kollaborativ erzeugter, überprüfter und aktualisierter Artikel umfasst, ist ein gedrucktes Nachschlagewerk mit 37.000 Artikeln als Wissensspeicher schlichtweg obsolet geworden.

Digitaler Paradigmenwechsel

Die Digitalisierung als fundamentale Reorganisation der menschlichen Kultur durch digitale Medien und Praktiken ist ubiquitär und auch unumkehrbar. Die Beziehungen zwischen Individuum, Kollektiv und Wissen haben sich in den letzten Jahrzehnten grundlegend geändert. Der Ort des Wissens ist weniger das Individuum selbst, als vielmehr das Subjekt als Teil des Wissensnetzwerks.

Niemand bestreitet, dass individuelles Wissen notwendige Voraussetzung für das Auffinden, Bewerten und Einordnen von Informationen ist. Ob "die Menschen immer weniger wissen", wie Liessmann pauschalisierend und auf anekdotischer Erfahrung aufbauend behauptet, sei ohne empirischen Nachweis dahingestellt. Die Frage, welche Art von Wissen gesellschaftlich nützlich ist, wird dadurch gar nicht berührt.

"Fake News" und Wissen

Wenn es um Fakten- statt Anwendungswissen geht: Gerade das von Liessmann so geschätzte Medium des gedruckten Buchs und nicht etwa die Digitalisierung hat den von ihm so skeptisch betrachteten Wandel im Wissen an der Wende zur Neuzeit eingeleitet. Liessmann hat völlig recht, wenn er dazu aufruft, den Algorithmen der Suchmaschinen nicht blind zu vertrauen. Dieselbe kritische Haltung muss jedoch auch gegenüber traditionellen Medien eingemahnt werden. Die Faktizität einer Aussage ist unabhängig von ihrer medialen Form – nichts wird "wahrer" und richtiger, nur weil es in einem gedruckten und gebundenen Buch steht.

Wie Kollege Liessmann ganz richtig festgestellt hat, sind "Fake News" kein so neues Phänomen. Gleichzeitig hat die neue Verfügbarkeit des Wissen aber auch dazu geführt, dass wir mehr als zuvor in der Lage sind, an uns herangetragene Behauptungen zu überprüfen. Genau diese Kompetenz muss und wird im Unterricht gestärkt werden. (Martin Tschiggerl, Thomas Walach, 12.6.2017)