Sind gute Noten ein Lernerfolg?

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Die Regierung hat also eine Bildungsreform vereinbart und die Grünen dazu bewegt, dieser zuzustimmen. Ich wünschte, es wäre ein Anlass zur Freude. 15 Prozent maximal für die Gesamtschule. Bundesweit. Wieder ein Schulversuch. Einer für die nächsten 40 Jahre, in denen dann munter weitergestritten wird, eine Bildungsreform gefordert wird, Einmischung aus der Politik in den Bildungsbereich verteufelt wird. Also im Grunde die gleichen Stehsätze und Vorschläge wie in den Jahren zuvor.

Das Problem ist ein grundlegendes. Es handelt sich um keine Bildungsreform, weil Bildung nicht reformiert werden kann. Bildung ist ein innerer Prozess der Verarbeitung von Wissens- und Handlungsangeboten. Bildung ist die Summe sämtlicher Eindrücke, angefangen beim ersten Umfeld – meist Eltern und andere Verwandte –, weiter über die ersten Freundinnen und Freunde in professionelleren Umfeldern (Tagesmütter und -väter, Kindergärten), dann im Schulsystem hin zur Arbeitswelt. Dazu die gesellschaftlichen Einflüsse wie Bräuche, ungeschriebene Regeln, geltende Gesetze und natürlich die Medienwelt (Fernsehen, Radio, Bücher und Zeitungen, Internet, Social Media und so weiter). Wie diese Eindrücke die Persönlichkeit beeinflussen, das ist Bildung. Die Rede ist hier also nicht von einem Bildungssystem oder von einer Bildungsreform, sondern von einem Schulsystem und einer Schulreform. So viel zu den Begriffen.

Gute Noten als Lernerfolg?

Die Gesamtschule kann nur der Beginn einer Schulreform sein. Ich war selbst jahrelang gegen die Gesamtschule, meine Meinung hat sich jedoch geändert. Meine Praxis und mein Studium haben mir gezeigt, dass das Lernziel der Schülerinnen und Schüler nicht gute Noten sein können. Es geht nicht nur um Leistung oder um Vergleichbarkeit. Und wer jetzt mit der Wirtschaft und deren Anforderungen argumentiert: Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass Firmen heute eher Kreativität suchen und Menschen, die selbstständig denken können. Ein autoritäres Schulsystem aber fördert Kreativität nicht, es fördert messbare Leistungen. Es fördert und verlangt gute Noten – aber ist das ein Lernerfolg? Ein "Sehr gut", das mir später nichts bringt außer einem hübschen Zeugnis? Was bedeutet das "Sehr gut" für meine Persönlichkeit? Habe ich mich an diesem "Sehr gut" entwickelt? Bin ich jetzt ein glücklicherer Mensch? Ein kritischer, selbstständiger Mensch?

Wenn man Noten vergleicht, vergleicht man damit nicht eigentlich subjektive Beurteilungen? Ob jemand sinnerfassend lesen kann oder ob jemand gut kopfrechnen kann, das ist schon wichtig, keine Frage. Aber wem bringen Rankings wie Pisa etwas? Vom Druck einmal abgesehen. Diese Vergleichstests fördern hauptsächlich eines: den Druck auf Schulen, Lehrkräfte, Schülerinnen und Schüler und deren Eltern und dieser wiederum fördert die kreative Auslegung, was zu tun ist, um einen guten Schnitt zu bekommen.

Schule neu denken

Ich fordere also nicht nur die Gesamtschule. Ich fordere, dass das gesamte Schulsystem überdacht wird, es ist an der Zeit, neu zu denken. Kreativität und Freiheit statt Autorität und vorgegebene Lösungswege. Entrümpeln wir den Lehrplan! Lassen wir Lehrer wieder Lehrer sein statt Verwalter. Es braucht ausreichend Personal, um den Unterstützungsbedarf anbieten zu können, der heute angesichts einer komplexen Welt notwendig ist. Philosophie- und Ethikunterricht für alle! Kritisch sein, hinterfragen dürfen, kreativ sein dürfen. Etwas lesen statt Vorgegebenes lesen. Und bitte weg mit den Leistungsgruppen in der Hauptschule – oder wie es an der Neuen Mittelschule heißt: grundlegende und vertiefende Noten. Das ist nur die Fortsetzung einer Selektion, die ins 20. Jahrhundert gehört. (Sara Mayer, 16.6.2017)