Ein verheerender Großbrand hat in der Nacht auf Mittwoch ein 24-stöckiges Hochhaus im Westen Londons zerstört. Mindestens zwölf Menschen kamen ums Leben, 74 wurden mit Verbrennungen und Rauchvergiftungen in sechs benachbarte Krankenhäuser gebracht. Die Feuerwehr rechnet mit weiteren Toten. Bis zum Abend stand eine Rauchsäule über dem Stadtteil North Kensington, wichtige Verkehrsadern mussten gesperrt werden.

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Das 24-stöckige Gebäude im Westen Londons ist ausgebrannt.
Foto: Victoria Jones/PA via AP

Augenzeugen zufolge brach das Feuer kurz vor 1 Uhr morgens in einer Wohnung im vierten Stock aus. Als Ursache wurde am Mittwoch ein defekter Kühlschrank vermutet, die Brandfahnder der Kriminalpolizei wollten dazu noch nicht Stellung nehmen. Nach Angaben der Feuerwehr waren die ersten Einsatzkräfte binnen sechs Minuten am Brandort, wenig später wurde Großalarm ausgelöst.

Denn binnen weniger Minuten hatte sich das lokale Feuer mit rasender Geschwindigkeit im gesamten Grenfell Tower ausgebreitet. Offenbar trugen dazu schlecht geschützte Gasleitungen bei. Damit wurden sämtliche Anweisungen an die bis zu 600 Bewohner, sie sollten bei Wohnungsbränden in den eigenen vier Wänden verharren, hinfällig. "Wenn wir uns daran gehalten hätten, wären wir jetzt tot", berichtete der Mieter einer Wohnung im siebenten Stock der BBC, nachdem er mit seiner Freundin und dem gemeinsamen Baby über das Stiegenhaus ins Freie gerannt war.

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Hunderte Feuerwehrleute sind im Einsatz.
Foto: AP Photo/Matt Dunham

Vor dem Haus stauten sich schon bald hunderte Schaulustige sowie Freunde und Verwandte der Bewohner. Hilflos mussten sie einzelnen Tragödien zuschauen. Viele Bewohner machten mit Taschenlampen und ihren Mobiltelefonen auf sich aufmerksam, andere blieben über soziale Medien mit Außenstehenden in Kontakt. "Freunde, ich komm' hier nicht raus", lautete die Snapchat-Nachricht eines Mannes. Aus dem 23. Stock verabschiedete sich eine Bewohnerin per Video mit Bitten um Vergebung von ihrer Freundin am Boden. "Ich sah eine dreiköpfige Familie abwechselnd am Fenster erscheinen und Luft schöpfen. Nach und nach kamen sie nicht mehr", berichtete ein Augenzeuge dem TV-Sender Sky News.

Unbestätigten Berichten zufolge beendeten mehrere Bewohner ihre verzweifelte Flucht vor den Flammen durch den Sprung in die Tiefe, wo Feuerwehrleute Sprungtücher aufgespannt hatten. Ein Baby soll den Fall aus dem neunten oder zehnten Stock überlebt haben.

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Der Einsatz bringt die Helfer an ihre Grenzen.
Foto: AP Photo/Matt Dunham

Im Lauf des Tages wurden die wartende Menge sowie hunderte Anrainer aus der Umgebung des Brandorts evakuiert. Mehr als 100 Polizisten sperrten den Grenfell Tower ab, um den eingesetzten 250 Feuerwehrleuten und rund 100 Ärzten und Sanitätern die Arbeit zu erleichtern. Einen solchen Brand habe sie "in 29 Jahren Arbeit bei der Feuerwehr noch nie gesehen", teilte die Londoner Kommandantin Dany Cotton mit. Der sichtlich erschütterte Bürgermeister Sadiq Khan bedankte sich bei den Einsatzkräften und kündigte eine umfassende Klärung der Ereignisse an. Premierministerin Theresa May kündigte am Mittwochabend eine "sorgfältige Untersuchung" an.

ORF

Das mehr als 40 Jahre alte kommunale Wohnhaus war erst im vergangenen Jahr um umgerechnet 9,8 Millionen Euro renoviert und dabei mit einer zusätzlichen Isolierungsschicht versehen worden. Eine Bewohnerinitiative berichtete von mehreren Versuchen, die Gemeinde sowie die beteiligten Baufirmen auf mögliche Brandgefahren hinzuweisen. Dazu gehörten der Mangel an Fluchtwegen sowie das Fehlen klarer Instruktionen im Brandfall. Offenbar könne "nur ein katastrophaler Zwischenfall" die Verwaltungsfirma, die vom Bezirk beauftragt wurde, zur Vernunft bringen, schrieben die Aktivisten im vergangenen November.

Weil das Hochhaus nahe an der Bahntrasse steht, musste die U-Bahn-Linie Hammersmith & City gesperrt werden. Auch die Autobahn A40, eine der wichtigsten Ausfallstraßen Richtung Westen, blieb bis in den Nachmittag hinein unbenutzbar.

Das Feuer dürfte ein politisches Nachspiel haben. Der Königliche Bezirk Kensington und Chelsea wird seit Jahrzehnten von den Konservativen regiert. Er umfasst neben dem Kensington-Palast, wo Prinz William mit seiner Familie wohnt, einige der reichsten Viertel der Hauptstadt. Dort sind Immobilien kaum unter einigen Millionen Pfund zu bekommen. Der Norden des Bezirks, wo das Feuer wütete, gehört zu den ärmsten Vierteln des Landes. Viele der Opfer dürften Einwanderer aus den früheren britischen Kolonien sein, offenbar lebten auch mehrere Philippiner im Grenfell Tower.

Die Feuerwehr hatte Schwierigkeiten bei der Brandbekämpfung.
Foto: AFP PHOTO / Natalie Oxford

Der Wahlkreis Kensington wechselte am vergangenen Donnerstag die politische Farbe. Nach mehreren Nachzählungen setzte sich die Labour-Kandidatin Emma Dent Coad mit 20 Stimmen Vorsprung gegenüber der konservativen Mandatsinhaberin durch. Als Abgeordnete des Bezirksrats habe sie immer wieder auf Probleme mit Hochhäusern hingewiesen, berichtete Dent der BBC. "In meiner Nachbarschaft gibt es drei Hochhäuser, und in allen dreien hat es schon einmal gebrannt." Da viele Bewohner schon vor Jahrzehnten ihre Wohnungen bezogen haben, gebe es immer mehr ältere Leute. "Und deren Evakuierung ist schwierig." (Sebastian Borger, 14.6.2017)