Als Emmanuelle Charpentier im Frühjahr dieses Jahres in Wien war, um das neue Gebäude des Instituts für Molekulare Pathologie (IMP) zu eröffnen, gab man ihr eine übergroße Schere für den feierlichen Eröffnungsakt in die Hand. Das durchzuschneidende Band hatte die Form einer DNA. Eine logische Inszenierung im Beisein von politischer Prominenz wie Bundespräsident Alexander Van der Bellen: Hatte die Französin doch gemeinsam mit der Strukturbiologin Jennifer Doudna den aus Bakterien bekannten Mechanismus CRISPR/Cas9 als weiterverwendbares Werkzeug für die Inaktivierung von Genen beschrieben.

Inszenierung am IMP: Emmanuelle Charpentier schneidet die DNA durch und wird von politischer Prominenz – Sonja Hammerschmid, Bildungsministerin, Bundespräsident Alexander Van der Bellen, dem damaligen Vizekanzler Reinhold MItterlehner und Vizebürgermeisterin Renate Brauner.
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Ein Werkzeug, das als "Genschere" bekannt ist und das, wie man heute weiß, auch in Pflanzen-, Tier- und Menschenzellen angewandt werden kann: Noch nie zuvor hatten die Life Sciences ein derart einfach zu nutzendes und effizientes Tool in Händen, das in der Öffentlichkeit reflexartig mit großen Hoffnungen und Schlagwörtern wie "Heilung" verknüpft wurde.

Gelungene Inszenierung

Es war auch deshalb eine so gelungene Inszenierung, weil die Geschichte dieses großen wissenschaftlichen Durchbruchs einen Prolog hat, der in Wien spielt, unweit vom IMP an den Max F. Perutz Laboratories von Universität und Med-Uni Wien. Dort war Charpentier im vergangenen Jahrzehnt tätig. Ihr bevorzugtes Forschungsobjekt, das Bakterium Streptococcus pyogenes, galt damals unter Wissenschaftern als ein echtes Außenseitermodell. Charpentier bewegte sich also weit weg vom Mainstream, das war zwar mutig, die Skepsis derer, die sie fördern hätten können und sollen, war ihr aber damit gewiss. Die Mikrobiologin ging angeblich schwer enttäuscht schließlich nach Umeå in den kalten schwedischen Norden und später nach Deutschland.

Emmanuelle Charpentier in der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) anlässlich eines Vortrags in der Landsteiner Lecture Reihe des Forschungszentrum für Molekulare Medizin (CeMM).
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Seit gut zwei Jahren gilt sie als eine der Anwärterinnen für kommende Nobelpreise – und fast jeder Eingeweihte in der österreichischen Wissenschaftscommunity meint nun zu wissen, dass es ein natürlich vermeidbarer Fehler war, sie damals gehen zu lassen. Man hätte ihr Talent erkennen müssen. Man hat aber nicht. Konjunktivreiche Erzählungen, die zeigen, wie dringend das Land für sein Selbstvertrauen wenigstens diesen kleinen Anteil am ersten naturwissenschaftlichen Nobelpreis seit Konrad Lorenz und Karl von Frisch 1973 bräuchte: eine Preisträgerin, die an einem österreichischen Institut arbeitet.

Patentstreit, Fortsetzung folgt

Im Hauptteil der Geschichte rund um CRISPR/Cas9 geht es aber nicht um die vergebenen Chancen in Österreich, sondern um das gnadenlose Ringen um ein Füllhorn – darin enthalten sind, wenn man im mythologischen Bild bleibt, ganz und gar menschliche Ziele: Ruhm, Ehre und Geld. Die beteiligten Parteien sind Wissenschafter, Universitäten, Forschungsinstitute, vor allem aber Patentanwälte und Biotech-Unternehmen, die von einer enormen Goldgräbermentalität getrieben sind. Die Akteure? Charpentier und Doudna sowie Feng Zhang vom Broad Institute, der kurz nach dem besagten Paper der beiden Wissenschafterinnen gemeinsam mit Harvard-Professor George Church über die Anwendung von CRISPR/Cas9 in tierischen und menschlichen Zellen publizierte und durch ein Patent-Eilverfahren schnell zu seinem Recht kommen wollte.

TED-Talk mit Jennifer Doudna über CRISPR/Cas9
TED

Die Klage der Damen ließ nicht lange auf sich warten. Der darauf folgende Patentstreit füllte lange Medienberichte und verhalf CRISPR/Cas9 zu mehr Berühmtheit abseits der Wissenschaftsberichterstattung. Die Patentanwälte diktierten weitgehend, was über die Auseinandersetzung geschrieben werden durfte. Interviewanfragen wurden nicht nur einmal mit dem Hinweis beantwortet, dass der Rechtsbeistand alle Passagen zu diesen Fragen lesen müsste. So ging einige Zeit ins Land, ohne wirklich über mögliche bioethische Fragen zu CRISPR/Cas9 zu diskutieren. Wann dürfte man dieses neue Wunderwerkzeug der Genetik verwenden, wann nicht? Zunächst einmal wurde gefragt: Wer hat's erfunden?

Erheitertes Kopfschütteln

Dabei gab es immer wieder Grund zum erheiterten Kopfschütteln: So publizierte der Biologe und Mathematiker Eric Lander, einer der Gründer des Broad Institute, Anfang 2016 im Fachjournal Cell den Beitrag The Heroes of CRISPR, in dem er die Rolle von Zhang, gewiss einer der wichtigsten Forscher am Institut, hervorhob und die von Charpentier und Doudna explizit kleinredete. Eine peinliche Fußnote oder vielleicht doch bezeichnend für die Art der Auseinandersetzung? Der Streit gilt jedenfalls trotz zweier Entscheidungen, einer aus den USA, einer vom EU-Patentamt, bis heute nicht als vollends geklärt – wurden doch in beiden Fällen von den jeweiligen Gegenparteien Einsprüche angekündigt.

Das Füllhorn bleibt wohl heiß umkämpft, weil es dabei vor allem um viel Geld geht – auch für die beteiligten Wissenschafter: Alle haben schon Biotech-Unternehmen gegründet. Eine Firma von Charpentier, CRISPR Therapeutics, hat sich jüngst mit dem Pharmariesen Bayer zu einem Joint Venture zusammengefunden. Man will neue Therapeutika gegen Bluterkrankungen, Erblindung und erblich bedingte Herzerkrankungen entwickeln. Um welche Summen es sich dabei handelt, schrieb Bayer zum Beispiel in einer Presseaussendung: Das Unternehmen werde in den nächsten fünf Jahren mindestens 300 Millionen US-Dollar (umgerechnet 268 Millionen Euro) in Forschung und Entwicklung des Joint Venture investieren. Bayer wollte außerdem einen Minderheitsanteil an CRISPR Therapeutics in Höhe von 35 Millionen US-Dollar erwerben.

Interessanter Nebencharakter

Ein Nebencharakter in dieser vielschichtigen Geschichte ist der genannte Harvard-Genetiker George Church, der aufzeigen konnte, dass man mit CRISPR/Cas9 Arten nachhaltig verändern könnte. Die relevante Frage dabei wird mittlerweile immerhin im kleinen Rahmen diskutiert: Darf man das nun als Chance oder muss man es als Risiko werten? Oder ist es vielleicht sogar beides? Man könnte damit beispielsweise Malaria-Mücken so modifizieren, dass sie keine Seuche mehr übertragen. Welche ökologischen Folgen das haben würde, ist unklar. Das ist "scary", sagen viele Wissenschafter.

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Eine Illustration, die den Genome-Editing-Komplex CRISPR/Cas9 darstellt.
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Church ist am Biotech-Unternehmen Editas Medicine beteiligt, einer von zwei Firmen, die kürzlich kritische Briefe an das Fachmagazin Nature Medicine schrieben. Die andere Beschwerde kam vom Unternehmen Intellia. Der Grund war in beiden Fällen der gleiche: Das Fachblatt hatte ein Paper veröffentlicht, wonach es durch die Anwendung von CRISPR/Cas9 zu unerwarteten Mutationen kommen könnt. Die Schäden seien vor allem an der Börse erheblich gewesen, hieß es. Auch Charpentiers CRISPR Therapeutics soll davon betroffen sein. Church meinte sogar, dass die publizierte Studie zurückgezogen werden sollte, wie das Magazin Technology Review des Massachusetts Institute of Technology (MIT) schreibt. Berechtigte Kritik oder, wie Beobachter lästern, nur der vordergründige Versuch, Störungen beim Schürfen nach Gold in den Life Sciences abzustellen? Andererseits darf die Frage erlaubt sein: Wie oft hat man es schon erlebt, dass ein renommierter Wissenschafter wie Church derartige Forderungen gestellt hat? Würde dieses Faktum allein unter Normalumständen nicht ausreichen, um an der Relevanz besagter Studie zu zweifeln?

Eine sichere Bank

George Church gilt übrigens wie Charpentier, Doudna und Zhang als sichere Bank für einen der nächsten Nobelpreise. Alle vier werden die höchsten Würden der Wissenschaften mit Sicherheit nicht im gleichen Jahr und in der gleichen Kategorie erhalten – das würde die bisherigen Regeln in der Nobelpreisvergabe, wonach es maximal drei Gewinner pro Fach geben kann, völlig über den Haufen werfen.

Im vergangenen Jahr wurden Church und Zhang als Favoriten für den Chemie-Nobelpreis gehandelt, Charpentier und Doudna waren schon 2015 für den Medizin-Nobelpreis auf der Liste. Die beiden Frauen haben bereits recht viele wichtige Preise erhalten – und präsentierten sich 2015 bei der Verleihung des spanischen Prinzessin-von-Asturien-Preises als unzertrennliches Duo: Sie hielten einander an den Händen. Ein Auftritt wie ein Signal in Zeiten des Hickhacks zwischen Wissenschaftern.

Dass im Füllhorn CRISPR/Cas9 auch viele Versprechungen stecken, Hoffnungen auf Heilung bisher unheilbarer Krankheiten, erscheint logisch. Gegenüber den Medien sprechen die Wissenschafter, die an der Entwicklung der "Genschere" beteiligt waren, vor allem davon. Sie sprechen von Korrekturen krankheitsverursachender Gene, also einer weitgehend akzeptierten medizinischen Anwendung. Charpentier und Doudna wenden sich aber explizit gegen Eingriffe in die Keimbahn, wie sie bereits in China durchgeführt wurden.

Trost den Apokalyptikern

Doch selbst wenn es einmal sogar hierzulande möglich sein sollte, derartige Anwendungen der "Genschere" auszuführen: Da menschliche Eigenschaften nicht auf ein Gen reduziert werden können, kann man den Apokalyptikern schon jetzt sagen: Ein hyperintelligentes Designerbaby, wie es in Dystopien beschrieben wird, einen Supersoldier, der wie eine unsterbliche, ewig junge Comicfigur in die Schlacht geht, kann es auch dank CRISPR/Cas9 nicht geben. Die Fantasien dazu, die von der Einfachheit der Anwendung befeuert werden, bleiben das, was sie sind: die Basis für möglicherweise gut geschriebene Science-Fiction-Romane. Niemand wird also folgenden Satz sagen können: "Dann programmier ich mir ein Kind so, wie ich es haben möchte." Dafür sind wir zu komplex. Andererseits sind wir aber auch unperfekte Wesen. Erst im vergangenen Jahr haben Wissenschafter berechnet, dass die Lebenserwartung zwar enorm gestiegen ist, aber mit etwa 120 Jahren den Zenit erreicht hat. Mehr geht eben nicht. Gut so.

Feng Zhang, Neurowissenschafter am Broad Institute, einer der Pioniere in Sachen CRISPR.
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Es liegt noch etwas anderes in der Natur des Menschen: Nach der Entwicklung einer neuen Technologie, die bahnbrechende Anwendungen möglich macht, braucht es wohl immer längere Zeit, bis er darüber diskutiert, was die Technologie wirklich bedeutet und wie sehr sie sein Leben verändern kann. In dieser Zeit blühen die Gerüchte über Möglichkeiten, Chancen und Gefahren, schon glaubt man schicksalsergeben, aus dem Füllhorn könnte eine Büchse der Pandora werden.

Mehr Aufklärung einfordern

Dabei müsste man eigentlich nur mehr Aufklärung einfordern und es sich nicht mit Ausreden bequem machen. Obwohl es um viel Geld geht, der Wunsch nach Ruhm und Anerkennung auch bei nobel zurückhaltenden Wissenschaftern logischerwiese groß ist: Wissenschafter arbeiten sicher nicht nur für Ihre eigene Tasche. Integrität und den Wunsch, zu einer besseren Welt beitragen zu können, kann man Protagonistinnen wie Emmanuelle Charpentier sicher nicht absprechen. Einer Wissenschafterin, die mehr als einmal sagte, ihr sehnlichster Wunsch wäre es angesichts des Rummels um ihre Person und der Hoffnungen auf einen medizinisch erfolgreichen Einsatz von CRISPR/Cas9, wieder mehr im Labor zu stehen.

Wissenschafterin Ellen Jorgensen spricht über CRISPR/Cas9 und sagt, was man darüber wissen sollte
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Forscher warnen übrigens davor, die "Genschere" einmal zur Sicherheit abzulehnen und die Technologie mit ihrem natürlich möglichen Missbrauch gleichzusetzen. Gentechnik ist nicht schlecht, weil der Konzern Monsanto unethisch gehandelt hat, sagt Jürgen Knoblich, Vizedirektor des Instituts für Molekulare Biotechnologie (IMBA). Diesel ist auch nicht böse, weil man bei VW mit dieser Technologie einen Abgasskandal verursacht hat. Sicher kann auch ein nur halbwegs talentierter Biologiestudent, sollte er zum Beispiel Hummeln hassen, die Art so stark verändern, dass sie eines Tages ausstirbt. Ein Akt von "Ökovandalismus", wie es der Epigenetiker Christoph Bock vom Forschungszentrum für Molekulare Medizin (CeMM) der österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) beschreibt. Deswegen ist aber CRISPR nicht böse. Um derartige Angriffe zu verhindern, wird man vielleicht einmal Biosecurity-Experten so dringend brauchen, wie man heute ohne Cybersecurity nicht mehr auskommt. Die Gesellschaft braucht eben neue Regeln für die Anwendung neuer Technologien. Angst ist der falsche Ratgeber, meinen Experten, zu viele Sorgen vor der Zukunft unbegründet, denn man könnte sie mitgestalten. (Peter Illetschko, 20.6.2017)