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Aufgebrachte Demonstranten vor dem brennenden Justizpalast am 15. Juli 1927: Mit dem Schießbefehl verwandelte sich die Szene in ein Schlachtfeld, knapp 100 Tote und eine auf lange Zeit gespaltene Republik waren die Folge.

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Ein Blick in die Geschichte Österreichs zeigt, warum wachsende politische Unordnung auch Unbehagen bereiten sollte. Die Aneinanderreihung und Verkettung vermeintlich peripherer Geschehnisse kann zu Katastrophen führen.

Dem äußeren Anschein nach ist Österreich noch keine geteilte Republik. Doch subkutan ist es das schon längst. Die gesellschaftlichen Bruchlinien sind nur noch nicht bis an die Oberfläche durchgerissen, wie das in der Ersten Republik der Fall war.

Hybrider Populismus

Der Populismus der 1920er-Jahre zeichnete sich primär dadurch aus, dass unverrückbare ideologische Positionierungen rhetorisch-pathetisch verstärkt wurden: Linke gegen "die Bourgeoisie" und Rechte gegen "die Bolschewisten". Knapp ein Jahrhundert später ist der Populismus in ein hybrides Stadium übergegangen. Zahlreiche Elemente divergierender politischer Ausgangspositionen werden darin zu einer Mischposition synthetisiert. Je nach Opportunität und wirkungspsychologischer Erwartungshaltung werden Teilaspekte übernommen und vermengt.

Das hybride Element des Dazwischen und des Sowohl- als-auch ermöglicht den eingesetzten und selbsternannten politischen Heilsbringern sprachlich jegliches "Verhalten zu". Doch die durchschaubaren Inszenierungen können auch zu Fehlschlägen führen, wenn anstelle klarer politischer Positionen vor allem undifferenzierte Selbstdarstellungen und thematische Amalgame vorherrschen. Populismus scheint sich am Volk zu orientieren und geht doch, wie Rilke dies in einem anderen Kontext nannte, "in hohem Bogen über das Volk hinweg". Auch dafür waren die 20er-Jahre ein soziopolitisches Lehrstück.

Der Fall Schattendorf

Am 30. Jänner 1927 gerieten im burgenländischen Ort Schattendorf – wie so oft in der noch jungen Republik – lokale paramilitärische Verbände, die christ-lichsozialen Frontkämpfer und die sozialdemokratischen Schutzbündler, aneinander. An diesem Tag jedoch schossen drei Frontkämpfer aufgrund einer vom Demonstrationszug der Schutzbündler ausgegangenen, persönlich wahrgenommenen Bedrohungslage in Richtung der Menschenmenge.

Über Kopf

Hieronymus Tscharmann, einer der drei "Todesschützen" von Schattendorf, erläuterte im persönlichen Gespräch im Sommer 1984, dass sie, die drei jungen Männer, aus kauernder Position durch ein vergittertes, straßenseitiges Fenster Gewehrschüsse in Richtung der Demonstrierenden abgegeben hätten. "Über Kopf" hätten sie geschossen, d. h. unterhalb des Fenstersimses in hockender Position verharrend und ohne Sicht auf das Ziel. Die meisten Schüsse gingen über die Menge hinweg, einige Schrotkugeln verletzten Umstehende, doch mehrere der Schrotladungen trafen und töteten ein siebenjähriges Kind und einen Schutzbündler.

Am Tag nach dem verhängnisvollen Freispruch der drei angeklagten Frontkämpfer im Wiener Strafprozess, am 15. Juli 1927, entlud sich der Volkszorn zehntausender Demonstranten. Die Wut richtete sich gegen den Wiener Justizpalast, der als Symbol der Klassenjustiz gestürmt und in Brand gesteckt wurde. Der fatale Schießbefehl Schobers verwandelte die Innenstadt rund um das Parlament und den Justizpalast schließlich in ein Schlachtfeld. 85 getötete Demonstranten, vier tote Polizisten, über 1000 Verletzte und eine geteilte Republik waren die Folge.

Auch in den Jahren danach fand keine politische Handreichung mehr statt. Weder die Führer der Sozialdemokratie, von Bauer über Renner bis Seitz, noch der Professor für Moraltheologie, Prälat und christlichsoziale Bundeskanzler Seipel waren zur Versöhnung bereit. Was 1926 mit der Klassenkampfterminologie des sozialdemokratischen "Linzer Programms" und mit Verbalradikalismen von christlichsozialer Seite begonnen hatte, wurde auch nach 1927 fortgesetzt. Julius Deutsch erinnerte daran, dass das sozialdemokratische Misstrauen gegen Seipel 1931 so massiv war, dass man ihm keine ehrliche Absicht hinter seinem Koalitionsangebot mehr abnahm. Der Weg zur fortschreitenden Aushöhlung der Demokratie war vorgezeichnet und wurde durch Dollfuß besiegelt.

Politische Disruption

Trotz der strukturellen Verschiedenheit zu damals sind die Ambivalenz und das Misstrauen gegenüber sich inszenierenden Politheilsbringern auch heute beträchtlich. Denn Disruption kann zwar festgefahrene politische Situationen bewusst stören und dadurch neue Dynamik erzeugen. Doch ohne dringende Notwendigkeit, sondern aus Parteitaktik und Machtstreben zum Mittel politischer Irritation sowie Disruption zu greifen und auf deren positive Effekte zu hoffen bleibt gefährlich. Im Übrigen wurden viele der "disrupter" nachfolgend selbst "disrupted", auch das zeigt die Geschichte. (Paul Sailer-Wlasits, 14.7.2017)