Tripolis/Rom/Wien – Bislang steuerte das Jahr 2017 auf einen Rekord hin, was Flüchtlingsankünfte in Italien betrifft. Am Mittwoch allerdings hatte die Regierung in Rom Neuigkeiten zu verkünden: Die Zahl der geretteten Menschen, die im Juli in Italiens Häfen gebracht wurden, hat sich im Vergleich zum Juli des Vorjahres halbiert – von 23.552 auf 11.322 (siehe Grafik). Das Innenministerium begründete dies mit stärkerem Engagement der libyschen Küstenwache, Flüchtlingsboote abzufangen. Ein Treffen von Innenminister Marco Minniti mit 13 Bürgermeistern libyscher Städte vor zwei Wochen soll ebenfalls zum Rückgang beigetragen haben.

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Vor der libyschen Küste nahe der Stadt Sabratha im Westen des Landes nähert sich ein Schiff der Küstenwache zwei Flüchtlingsbooten. Nun gibt es weitere Unterstützung aus Europa.
Foto: AP / Emilio Morenatti

Auch Federico Fossi vom UN-Flüchtlingshochkommissariat (UNHCR) in Italien hat diesen Rückgang bemerkt. Wie es dazu genau kam, sei schwer zu sagen. "Vielleicht greift die libysche Küstenwache öfter ein, vielleicht fehlen den Schleppern gerade Boote", sagt Fossi zum STANDARD. Von einer Trendwende zu sprechen hält er aber für verfrüht: "Auf das Jahr gesehen sind die Zahlen von 2017 und 2016 bislang ähnlich hoch." Heuer gab es bis dato 95.074 Ankünfte, im gleichen Zeitraum 2016 waren es 93.774.

Rom schickt zwei Schiffe

Am Mittwoch beschloss das italienische Parlament einen vorerst bis Ende des Jahres laufenden Militäreinsatz vor Libyen. Rom schickt zwei Schiffe, um die libysche Küstenwache technisch und logistisch zu unterstützen. Rom reagierte damit auf ein Ersuchen des international anerkannten libyschen Premiers Fayez al-Serraj.

Von Libyen aus stechen mehr als 90 Prozent jener Flüchtlinge in See, die dann in Italien landen. Dort, sagen viele Experten, liege daher der Schlüssel, die massiven Flüchtlingsbewegungen über das Mittelmeer zu stoppen. Während Frankreichs Präsident Emmanuel Macron sich um eine Annäherung zwischen Serraj und General Khalifa Haftar, dem starken Mann im Osten Libyens bemüht, setzen Italien und die EU auf die Übergangsregierung und ihre Küstenwache.

Vergangenen Freitag beschloss die EU-Kommission, 46 Millionen Euro für eine Stärkung der libyschen Küstenwache und den Schutz der Südgrenze des Landes bereitzustellen. Allerdings muss hier eine simple Frage gestellt sein: Wer ist eigentlich die libysche Küstenwache? Der Einfluss der Übergangsregierung reicht kaum über die Hauptstadt Tripolis hinaus, und die meisten Flüchtlingsboote stechen vor allem von den Städten Zuwara, Sabratha und Zawiya westlich von Tripolis aus in See. Dort regieren vor allem bewaffnete Milizen, von denen es im Land etwa 1700 gibt.

Der deutsche Auslandsreporter Michael Obert hat sich aufgemacht, um diese Frage zu beantworten. In Zawiya, 50 Kilometer westlich von Tripolis, durfte er mit der Küstenwache in bewaffneten Booten auf Patrouille gehen – wie sich herausstellte, wird sie von einem Warlord geleitet. Commander Al Bija übernahm mit seinen Männern vor zwei Jahren die Führung in Zawiya. Seitdem kontrolliert er nach eigenen Angaben mit seiner Flotte den Küstenstreifen von der tunesischen Grenze bis kurz vor Tripolis.

Dubiose Küstenwache

Gegenüber Obert prahlt er damit, in diesen zwei Jahren an die 40.000 Flüchtlinge an der Überfahrt nach Europa gehindert zu haben. Weshalb er den lebensgefährlichen Kampf gegen Schlepperbanden auf sich nimmt? Störe man deren Geschäfte nicht rechtzeitig, kontrollierten sie am Ende alles in Libyen, so der 30-Jährige.

Doch es gibt auch eine andere Version, die von mehreren Experten genannt wird: Al Bija, also die Küstenwache, sei selbst einer der größten Player im Schleppergeschäft oder nasche an dem Kuchen zumindest gewaltig mit. "Die libysche Küstenwache ist von dubiosen Akteuren durchsetzt. Die Internierungslager – derzeit werden mehr als 20 von der Einheitsregierung betrieben – sind momentan nichts weiter als von Milizen verwaltete Lagerhallen", fasst Afrika-Experte Obert gegenüber dem STANDARD zusammen. Auch eines dieser Lager konnte Obert besuchen, das Surman-Camp nahe Zawiya. Was er dort sah? Verletzte Frauen, die von mehrfachen Vergewaltigungen erzählen.

Kritik von Menschenrechtsorganisationen

Dass die Verhältnisse in den Lagern inhuman sein sollen, berichten auch mehrere in dem Land tätige Menschenrechtsorganisationen. Deshalb kritisieren Amnesty, Human Rights Watch, aber auch das UNHCR die Bemühungen zur Stärkung der libyschen Küstenwache. Angesprochen darauf heißt es auf STANDARD-Anfrage von der EU-Kommission, dass man "jede Art der Gewalt verurteile".

Die EU bildet derzeit Libyer für die Küstenwache aus, 100 sind es bislang, weitere 300 sollen bald folgen. Für sie alle kündigte EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini unlängst Kontrollmechanismen an, sobald sie im Dienst seien. Commander Al Bija wird das nicht betreffen. (Kim Son Hoang, 2.8.2017)