"Summer Reading Lists" sind an US-Unis eine schöne Tradition. DER STANDARD bat zehn österreichische Uni-Lehrende um einen Buchtipp

An den US-amerikanischen Universitäten gibt es die schöne Tradition, für die neuen Studierenden "Summer Reading Lists " zu erstellen. Bücher als Gesprächsstoff auf dem Campus im Herbst, wenn alles fremd ist, oder fürs Leben – und überhaupt: Lesen!

DER STANDARD bat österreichische Uni-Menschen um einen Lektüretipp und fragte fünf Frauen und fünf Männer: Welches Buch sollten Studierende (nicht nur sie) in diesem Sommer lesen – für das Studium, für das Leben an sich, für nichts, weil zwecklos lesen am schönsten ist? Und warum? Die Antworten liefern eine breite und überraschende Themenpalette.

Wer anderen abverlangt, sich aus den vielen wunderbaren Büchern, die es gibt, eines auszusuchen, muss aber auch selbst ran. Ich empfehle in diesem Fall die "Hillbilly-Elegie – Die Geschichte meiner Familie und einer Gesellschaft in der Krise" von J. D. Vance (übersetzt von Gregor Hens, Ullstein 2017). Ein erhellender, ein verstörender, ein aufklärerischer und irritierender, ein empathischer und gnadenloser, ein trauriger und zugleich warmherziger Blick in eine Welt nebenan im Rust Belt in Ohio. Für die allermeisten Leserinnen und Leser eine fremde Welt. Die Welt, aus der J. D. Vance kommt.

Er beschreibt ein Leben ganz unten, zermürbt von Arbeitslosigkeit, Armut und Gewalt, mit Alkohol und Medikamentensucht, zwischen Religion, Patriotismus und der Familie, so kaputt und überfordert die Menschen darin auch sein mögen, als letzten unbedingten Hafen. Aber Rettung? Lieber nicht darauf hoffen.

Aber auch nie ganz abschreiben: Es gibt sie, die gerettet werden und sich selbst retten. J. D. Vance ist einer von ihnen. Und er gibt den Seinen mit diesem schonungslosen und zugleich liebevollen Buch eine Würde zurück, die ihnen das Leben und die Welt um sie herum schon lange genommen haben.

Viel Vergnügen beim Lesen und schönen Restsommer noch! Und wenn Sie mögen, verraten Sie uns, welchen Titel Sie für die STANDARD-"Summer Reading List" empfohlen hätten. (Lisa Nimmervoll, 14.8.2017)

Noch mehr Lesestoff finden Sie hier:

Die "Summer Reading List 2017" der

University of California, Berkeley

Harvard University

Stanford University

Dem Lärm der Zeit etwas entgegensetzen

"Was konnte man dem Lärm der Zeit entgegensetzen? Nur die Musik, die wir in uns tragen." The Noise of Time (Alfred A. Knopf, 2016) von Julian Barnes ist ein schlanker, packender Roman, der weit mehr bietet als ein Porträt des Komponisten Schostakowitsch zur Zeit des Stalinismus. Eine Geschichte über Kunst und Diktatur, über Ironie und die (Ohn-)Macht des Einzelnen in einem totalitären Staat, geistreich erzählt und hochaktuell – Lektüre, die so rasch nicht verhallt.

Sybille Baumbach (38), Professorin für Englische Literatur- und Kulturwissenschaft und Leiterin des Instituts für Anglistik an der Uni Innsbruck.

Foto: Uni Mainz

Die Forschung in den Zeiten des Skorbut

Ein Buch empfehlen: Qual der Wahl! Branko Milanovićs "Global Inequality", Boris Johnsons "The Churchill Factor" (trotz Brexits), alles von Malcolm Gladwell (z. B. "What the Dog Saw"), alles von Simon Singh? Nein, Trick or Treatment – The Undeniable Facts about Alternative Medicine von Simon Singh und Edzard Ernst (W. W. Norton & Co, 2008): fundierte Kritik der sogenannten Alternativmedizin mit perfekter historischer Erklärung der experimentellen Methode am Beispiel der Seefahrerkrankheit Skorbut. Lesenswert!

Oliver Vitouch (46), Präsident der Universitätenkonferenz, Rektor der Universität Klagenfurt und Professor für Psychologie.

Foto: APA / Hans Punz

Wilde Poesie und Vernunft, die die Leute wortlos versteht

Der berühmte Tänzer und Choreograf Waslaw Nijinksy, der die Tanzkunst revolutionierte und das Publikum verstörte, schreibt 1919 mehrere Hefte voll mit ans Herz gehenden Bekenntnissen, Erinnerungen, Überlegungen und Einschätzungen voll wilder Poesie. Ich bin ein Philosoph, der fühlt. Die Tagebuchaufzeichnungen in der Originalfassung (aus dem Russischen von Alfred Frank, Berlin-Verlag 1999) ist ein hellsichtiger Text eines bedrohten Geistes, aus dem der Freiheitswille eines liebevollen Menschen spricht. "Meine Vernunft ist so entwickelt, dass ich die Leute wortlos verstehe."

Elisabeth von Samsonow (61), Künstlerin und Professorin für Philosophische und Historische Anthropologie der Kunst an der Akademie der bildenden Künste Wien.

Foto: APA / Herbert Neubauer

Wie die Dinge, die wir haben wollen, über uns herrschen

Frank Trentmann erläutert in seinem Buch Herrschaft der Dinge: Die Geschichte des Konsums vom 15 Jahrhundert bis heute (übersetzt von Klaus-Dieter Schmidt und Stephan Gebauer-Lippert, DVA, 2017) die faszinierende Geschichte des Konsums bis weit in die historische Vergangenheit zurück, das heißt von China in der Ming-Zeit über die italienische Renaissance bis zur heutigen Zeit, wo in vielen Teilen die Dienstleistung den Konsum von Gütern abgelöst hat. Das Buch sollte jeden ansprechen, der sich sowohl mit marktwirtschaftlichen und konsumorientierten Themen auseinandersetzt, aber auch hierzu sehr kritisch – sei es aus einer ideologisch linken Perspektive oder einer ökologischen – eingestellt ist. Gerade für angehende Studenten ein guter Einstieg in ein hochspannendes und kontroverses Thema.

Friedrich Schneider (68), Professor für Volkswirtschaftslehre und Leiter der Abteilung für Energiewirtschaft an der Uni Linz.

Foto: JKU

Brief eines Vaters an seinen Sohn

Das Buch Between the World and Me (Spiegel & Grau, 2017) von Ta-Nehisi Coates ist ein als Brief getarnter Essay eines afroamerikanischen Vaters an seinen Sohn, geschrieben zu einer Zeit, als die "Selbstverteidigung" amerikanischer Polizisten in diversen Städten zu Massenprotesten geführt hatte. Ein extrem persönlicher und poetischer Text, brillant in seiner Analyse der gegenwärtigen Politik der Segregation in den USA.

Anna Kim (39), Schriftstellerin und Lehrbeauftragte am Institut für Sprachkunst an der Universität für angewandte Kunst Wien.

Foto: Andy Urban

Der gehortete Traum vom Aufstieg

Richard V. Reeves liefert mit Dream Hoarders: How the American Upper Middle Class Is Leaving Everyone Else in the Dust, Why That Is a Problem, and What to Do about It (Brookings Institutions Press, 2017) eine Ergänzung zu Thomas Pikettys "Capital in the Twenty-First Century", das in den vergangenen Jahren viel Furore machte. Mir gefällt Reeves Buch, da ich zumeist sehr skeptisch bin, wenn die Schuld für Missstände und Fehlentwicklungen, in diesem Fall die zunehmende Einkommensschere, entweder einigen wenigen Sündenböcken (etwa den "Superreichen und Spekulanten") oder bequemerweise einem anonymen System zugeschoben wird, weil dann niemand Verantwortung tragen muss. Dieses Buch zeigt sehr schön, wie die gehobene Mittelschicht und Bildungselite durch normales zweckrationales menschliches Verhalten massiv am Auseinanderdriften der Gesellschaft mitwirkt und quasi den Traum des gesellschaftlichen Aufstiegs für sich "hortet" und für alle anderen unzugänglich macht.

Reinhard Heinisch (54), Professor für Österreichische Politik in vergleichender europäischer Perspektive und Leiter der Abteilung Politikwissenschaft an der Uni Salzburg.

Foto: Andy Urban

I would prefer not to ...

Da gib es so viel – Trauriges, Melancholisches, Schönes und Unsagbares, Wildes, Aufklärendes –, dass es sehr schwierig ist, eine Entscheidung zu treffen. Wenn ich mich zurückerinnere, Bücher die sehr aufregend waren und eine lange Zeit im Kopf gesessen sind und das Denken maßgeblich beeinflusst haben, dann waren es "Die Blechtrommel" von Günther Grass, Elias Canettis "Masse und Macht", "Schuld und Sühne" von Dostojewskij, Elfriede Jelineks "Die Klavierspielerin" ... Und da ist dann noch Bartleby, der Schreiber von Herman Melville, der 1853 über die Prokrastination schrieb, auf sehr poetische Art und letztendlich sehr hart. Irgendwann beschließt dieser Bartleby, der Anwaltsgehilfe an der New Yorker Wall Street, nicht mehr zu wollen, was sein Chef will, und sagt fortan in höflichem Ton: "I would prefer not to."

Ein einziges Buch empfehlen? I would prefer not to ...

Christine Hohenbüchler (52), Künstlerin und Professorin für Zeichnen und Visuelle Sprachen am Institut für Kunst und Gestaltung an der TU Wien.

Foto: Otto Mittmannsgruber

Eine Sprache, eine Liebe, so fern und doch so nah

Der Sommer ist die Zeit für Bücher, die Zeit brauchen. Der Sommer kümmert sich nicht um die Aktualität, nicht um den letzten Schrei, nicht um den neuesten Hype, nicht um die gerade angesagte Empörung, nicht um die eine oder andere Liste. Der Sommer ist dazu da, ohne Zwang und ohne Zweck endlich jene Bücher zu lesen, die man gar nicht oder nur vom Hörensagen kennt. Aber der Sommer ist auch schon fast wieder vorbei. Wie wäre es also mit Der Nachsommer (1857) von Adalbert Stifter? Für Menschen, die im Rhythmus ihrer digitalen Endgeräte getaktet sind, muss diese Lektüre eine wunderbare Erfahrung sein. Eine Sprache, ein Denken, eine Geschichte, eine Liebe: so fremd, so langsam, so seltsam, so antiquiert, so fern – und doch so nah.

Konrad Paul Liessmann (64), Philosoph und Professor für Methoden der Vermittlung von Philosophie und Ethik an der Universität Wien.

Foto: Heribert Corn

Wie Klima, Wirtschaft und Gesellschaft zusammenhängen

Naomi Klein diskutiert in ihrem Buch Die Entscheidung: Kapitalismus vs. Klima (S. Fischer, Frankfurt am Main 2015) den Klimawandel im Kontext unseres Wirtschafts- und Gesellschaftssystems und stellt unangenehme, aber wichtige Fragen, die den Kern des Problems treffen und unsere Zukunft bestimmen werden. Man muss nicht ihrer Meinung sein, aber man sollte sich mit den Fragen befasst haben. Als Journalistin versteht es Naomi Klein, fesselnd und verständlich zu schreiben – auch für Menschen, die sonst keine Sachbücher lesen.

Helga Kromp-Kolb (68), Meteorologin und Leiterin des Zentrums für Globalen Wandel und Nachhaltigkeit an der Universität für Bodenkultur Wien.

Foto: APA / Hans Klaus Techt

Geschichten vom Leben gewöhnlicher Menschen

Die in Wien geborene Sozialpsychologin Marie Jahoda (1907–2001) wurde 1937 aus Österreich hinausgeworfen und machte in den USA und England Karriere. Ihre 1932 verfasste Dissertation, in der sie Lebensgeschichten gewöhnlicher Menschen dokumentierte und analysierte, wird hier erstmals veröffentlicht: Lebensgeschichtliche Protokolle der arbeitenden Klassen 1850–1930. Dissertation 1932 (Studien-Verlag, transblick 2017). Kommentare erläutern dabei den historischen Kontext; Fotografien und Illustrationen runden das schön gemachte Buch ab.

Christian Fleck (63), Professor für Soziologie an der Universität Graz.

Foto: imago/stock&people