STANDARD: Die Zahl der Politneulinge ist groß. Sie selbst sind auch eine Quereinsteigerin. Kann jeder oder jede Politik machen?

Griss: Das wird sich zeigen. Es ist ein Versuch, das Misstrauen den Parteien gegenüber zu entkräften. Ein Problem des Parlamentarismus ist, dass die Politiker im Nationalrat nicht mehr die Bevölkerung widerspiegeln. Fast die Hälfte sind Beamte oder kommen von Kammern und anderen Interessenvertretungen – es gibt kaum Selbstständige oder Freiberufler im Parlament.

STANDARD: Aber man holt ja nicht irgendeinen Arbeiter oder Angestellten aus Graz, sondern einen Polizeivizepräsidenten, eine frühere Schönheitskönigin – oder eben eine ehemalige Richterin.

Griss: Mit Quereinsteigern will man natürlich auch Aufmerksamkeit erzielen. Und da eignet sich der Angestellte aus Graz weniger als die ehemalige Miss Austria. Es ist eine Entwicklung, die zeigt, wie unsere Gesellschaft heute funktioniert.

"Es werden Ängste angesprochen. Leider ist diese Methode auch anderen Parteien nicht fremd", sagt Griss zu einem Slogan der FPÖ.
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STANDARD: Sie wollen mithilfe der Neos ins Parlament: Gibt es Punkte im pinken Programm, bei denen Sie nicht mitkönnen?

Griss: Die Neos bringen die wichtigen Themen. Bei manchen Positionen kann man für die eine Seite viel ins Treffen führen – genauso wie für die andere. Das ist eine Abwägungsfrage.

STANDARD: Gilt das auch für die Freigabe von Cannabis? Da sind Sie anders als die Neos dagegen.

Griss: Ich war immer liberal eingestellt, aber bei der Sendung "Im Namen des Volkes" auf Puls 4 zu diesem Thema hat ein Experte überzeugend argumentiert, dass eine Freigabe Jugendliche glauben lassen könnte, die Droge sei ungefährlich. Das ist aber nicht so, denn durch Kiffen können Jugendliche Psychosen entwickeln.

STANDARD: Ein weiterer Punkt, bei dem Sie anderer Meinung sind, ist die Frauenquote. Für die Neos-Frauensprecherin schränkt diese die unternehmerische Freiheit ein.

Griss: Ich bin auch nicht begeistert von der Quote, es ist eine Notmaßnahme. Ziel muss es sein, dass Frauen die gleichen Chancen wie Männer haben. Und, das habe ich in meiner Arbeit als Richterin erlebt: Es führt oft zu besseren Ergebnissen. Wenn in einem Senat Männer und Frauen sind, werden verschiedene Blickwinkel eingebracht.

STANDARD: Mitte des Jahres wurde eine verpflichtende Quote von 30 Prozent für Aufsichtsräte in Großunternehmen beschlossen. Sie wollen sogar eine 50-Prozent-Quote.

Griss: Mehr als die Hälfte der Bevölkerung sind Frauen. Die Chancen müssen gleich verteilt sein.

STANDARD: Bei den Neos gibt es gerade einmal zwei Frauen unter acht Abgeordneten. Auch nicht unbedingt ein guter Schnitt, oder?

Griss: Auf der jetzigen Bundesliste befinden sich unter den zehn Ersten fünf Frauen. Die Neos sind eigentlich ein Beweis dafür, dass es auch ohne Quote geht.

STANDARD: Wie schaut es mit der Pflichtmitgliedschaft bei den Kammern aus. Dafür oder dagegen?

Griss: Ich war immer schon dagegen. Eine Serviceorganisation und Interessenvertretung sollte die Menschen davon überzeugen, dass ihre Arbeit wichtig und wertvoll ist. Eine Pflichtmitgliedschaft passt nicht in die heutige Zeit.

STANDARD: Die Sozialpartner stehen seit 2007 in der Verfassung.

Griss: Und das war ein Fehler. Die Sozialpartner haben viel für den Wiederaufbau Österreichs getan. Damals haben sie aber fast die gesamte Bevölkerung vertreten, oder zumindest den weitaus größten Teil. Das ist ja heute anders. Schauen Sie, wie viele der Leute mit atypischer Beschäftigung unfreiwillig Selbstständige sind. Es sind ganz neue Beschäftigungs- und Betätigungsfelder entstanden. Es gibt so viele Zwischenstufen, da passt dieses Modell nicht mehr.

STANDARD: Neos-Abgeordneter und Hotelier Sepp Schellhorn will keine Beiträge mehr abführen. Ist ein derartiger Boykott gerechtfertigt?

Griss: Er macht das nicht, weil er Gesetze missachtet, sondern um eine Gerichtsentscheidung zu erzwingen, ob eine Pflichtmitgliedschaft verfassungskonform ist.

STANDARD: Erstaunt es Sie als ehemalige Richterin nicht, wenn jemand absichtlich Gesetze bricht?

Griss: Als ehemalige Richterin finde ich es positiv, dass man sagt: Diese schwierige Abwägungsfrage sollen Gerichte klären.

Dass immer mehr NGOs ihre Hilfe im Mittelmeer einstellen, bereitet Griss Sorgen. "Es wird mehr Tote geben", befürchtet sie.
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STANDARD: Was auch überrascht: Sie fanden die Reformen von Schwarz-Blau gut für das Land. Welche meinen Sie konkret?

Griss: Die Pensionsreform, die Autonomie der Universitäten, die Aufarbeitung der Vergangenheit Österreichs etwa mit der Zwangsarbeiterentschädigung. Da ist Bewegung hineingekommen.

STANDARD: Schwarz-Blau war also gar nicht so schlimm?

Griss: Schwarz-Blau hat manches auf den Weg gebracht. Es sind leider auch Dinge geschehen, etwa Privatisierungen, die aufgearbeitet gehören.

STANDARD: Und vor Gericht sind.

Griss: Ja. Das ist gar nicht positiv.

STANDARD: Wäre Schwarz-Blau für Sie jetzt auch okay? Mit Pink?

Griss: Man kann eine Koalition nicht per se schlecht finden. Das hängt von Inhalten und Personen ab. Die Neos haben gezeigt, dass sie für eine konstruktive Politik stehen. Warten wir ab, was umgesetzt werden kann. Jetzt geht es einmal darum, dass wir von möglichst vielen gewählt werden.

STANDARD: Bei der letzten Wahl hat die FPÖ in Ihrer Heimatstadt Graz plakatiert: "Fremd in der eigenen Schule". Zeugt das von großer Regierungsfähigkeit?

Griss: Das ist eine Art von Wahlwerbung, die ich ablehne. Ich will nicht gleich von Verhetzung reden, aber es ist etwas, das sehr stark polarisiert. Es werden Ängste angesprochen. Leider ist diese Methode auch anderen Parteien nicht fremd. Die machen es geschickter, nicht so plump.

STANDARD: Die FPÖ ist noch gar nicht so richtig in den Wahlkampf eingestiegen. Wie grauslich wird es?

Griss: Es wird ein sehr unangenehmer Wahlkampf werden, einer, der stark polarisiert, mit Betonung der Ausländer- und Flüchtlingsfrage. Natürlich wird da noch weiter zugespitzt. Gerade eine Partei wie die Neos versucht das anders zu machen. Die Frage ist, wie viel Gehör sie findet.

STANDARD: Den Neos schweben zur Bewältigung der Flüchtlingsbewegung Städtepartnerschaften mit Afrika vor. Wie soll das funktionieren?

Griss: Es gibt ja schon solche Modelle. Europäische Städte helfen afrikanischen, etwa indem sie Krankenschwestern ausbilden oder bei der Müllentsorgung Tipps geben. Und die Leute haben vor Ort die Möglichkeit zu arbeiten. Denn warum verlassen Menschen ihre Heimat? Weil sie keine Hoffnung haben. Es braucht Perspektiven.

STANDARD: Die afrikanischen Städte mögen profitieren, wir auch, weil wir einen Flüchtling weniger haben. Und der Flüchtling selbst?

Griss: Der kann sich dort etwas aufbauen. In Europa hat er gar nichts. Überlegen Sie einmal, wie viele Afrikaner in Europa stranden. Das sind ja keine Erfolgsgeschichten – zumindest in der Mehrzahl. Wenn man in Afrika die Chance hat, eine Arbeit zu finden, um leben zu können, warum soll das kein Vorteil sein?

STANDARD: Jetzt stellt gerade eine Hilfsorganisation nach der anderen ihre Arbeit im Mittelmeer ein. Wie schätzen Sie die Situation ein?

Griss: Für die Menschen, die trotzdem von den Schleppern in die Boote gesetzt werden, ist das ganz schrecklich. Es wird mehr Tote geben, denn es wird nicht gleich dazu führen, dass weniger Menschen auf die Boote gesetzt werden. Das ist leider ein viel zu profitables Geschäft für die Schlepper. Das ist jetzt eine ganz schreckliche Situation. (Peter Mayr, 22.8.2017)