In einer für Wahlkampfzeiten unüblichen Einmütigkeit haben Außenminister Sebatian Kurz (ÖVP) und Verteidigungsminister Hans Peter Doskozil (SPÖ) in einem gemeinsamen Interview für den STANDARD die EU-Verteilungspolitik von Flüchtlingen für gescheitert erklärt.

Die beiden Politiker sehen sich als gute Partner für die Umsetzung einer restriktiven Migrationspolitik auf europäischer Ebene. Für Doskozil ist dabei klar: Wenn es in Zukunft einmal "Verfahrenszentren" außerhalb Europas gibt, "dann darf es keine illegale Migration mehr nach Europa geben". Kurz ergänzt: "Wir müssen entscheiden, wer nach Europa zuwandern darf – und nicht die Schlepper."

Kurz und Doskozil vertreten die Meinung, dass die Migrationsbewegungen aus Afrika das vorherrschende Problem Europas in den kommenden Jahren sein werden – mehr noch als jene aus dem Nahen Osten.

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STANDARD: Der frühere US-Präsident Barack Obama hat die Europäer bei seinem letzten Nato-Gipfel in Warschau 2016 eindringlich ermahnt, mehr für ihre Sicherheit zu tun, Stichworte Krieg und Krisen in Nahost und Nordafrika, Terror, Migration, Russland/Ukraine, Türkei. Wie sehen Sie das?

Kurz: Es ist notwendig, dass es in Europa eine verstärkte Zusammenarbeit im Bereich Sicherheit und Verteidigung gibt. Wir haben Krisenherde rund um uns, eine Zuspitzung in der Türkei, der Terrorismus ist in Europa angekommen. Insofern macht eine tiefere Zusammenarbeit Sinn. Insbesondere der Schutz der EU-Außengrenze ist mir ein zentrales Anliegen. Denn für die Sicherheit Europas wird entscheidend sein, dass wir über unsere Grenzen die Kontrolle haben und selbst entscheiden, wer zuwandern darf und wer nicht.

Doskozil: Wir stehen vor riesigen Herausforderungen. Das sieht man aktuell an der Terrorsituation und bei der Migrationslage. Letzteres sehe ich mittelfristig als die intensivste Herausforderung der Zukunft. Das zeigte sich auch schon in den vergangenen ein, zwei Jahren.

Verteidigungsminister Hans Peter Doskozil und Außenminister Sebastian Kurz beim Interview.
Dragan Tatic

STANDARD: Bedeutet konkreter was?

Doskozil: Es geht dabei gar nicht mehr so sehr um Syrien und die Flüchtlinge von dort. In Syrien wird es wieder eine befriedete Situation geben, vielleicht mit anschließendem UN-Mandat. Aber die wirklich große Herausforderung für Europa ist Afrika. Die Einschätzung der Internationalen Organisation für Migration, wie viele Menschen fluchtbereit oder migrationswillig sind, die nach Europa wollen, spricht von sehr großen Zahlen. Dem müssen wir uns stellen. Mein Standpunkt ist, wir müssen handeln, endlich umsetzen.

STANDARD: Haben Sie eine andere Gewichtung, Herr Kurz, gibt es außenpolitisch vielleicht noch größere Herausforderungen?

Kurz: Ich sehe die Migration für Europa als die zentrale Frage schlechthin an, weil sich die Gesellschaft durch Zuwanderung auch massiv verändert. Wer die Zuwanderung nicht steuert und ungeordnet stattfinden lässt, der muss sich bewusst sein, dass die Konsequenz Unordnung im eigenen Land beziehungsweise in der Europäischen Union ist. Insofern teile ich die Einschätzung ganz, die demografische Entwicklung in Afrika ist bekannt. Derzeit leben dort eine Milliarde Menschen, Mitte des Jahrhunderts zwei, Ende des 21. Jahrhunderts werden es vier Milliarden Menschen sein. Wir sind froh, dass es in den vergangenen beiden Monaten gelungen ist, die illegalen Ankünfte in Italien über die zentrale Mittelmeerroute zu reduzieren. Ein Gegensteuern ist also möglich. Aber es braucht eine nachhaltige Lösung. Alles andere führt am Ende zu einer massiven Sicherheitsbedrohung.

STANDARD: Also langfristig ist Afrika für Europa relevanter als die derzeitigen Krisen im Nahen und Mittleren Osten?

Kurz: Der Migrationsdruck aus Afrika ist wesentlich größer als die einzelnen Krisenherde, die Fluchtbewegungen auslösen.

STANDARD: Was heißt das in der Folge für Österreich sicherheitspolitisch?

Doskozil: Wir können und sollen das natürlich nur im europäischen Kontext sehen. Wir müssen zugleich unsere nationale sicherheitspolitische Ausrichtung in Betracht ziehen. Die ist seit der Verankerung der irischen Klauseln aber auch in den EU-Verträgen berücksichtigt.

STANDARD: Sprich die Neutralität stellt bei der Teilnahme an gemeinsamer Sicherheits- und Verteidigungspolitik kein Problem dar, kein Land zu etwas gezwungen werden kann?

Doskozil: Ja, ausschließlich in diesem Rahmen können wir uns bewegen. Das ist auch die Voraussetzung, dass wir uns an der ständigen strukturierten Kooperation in der Verteidigungs- und Sicherheitspolitik beteiligen. Das ist richtig und wichtig.

STANDARD: Das haben Sie beide in Tallinn den Partnern nun zugesagt, die aktive Mitwirkung an einer künftigen Verteidigungsunion, wie EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker das nennt.

Doskozil: Es geht um eine kooperative Zusammenarbeit, da muss man die Begriffe schon präzise definieren. Wir sind aus meiner Sicht derzeit nicht auf dem Weg in eine gemeinsame Verteidigungsunion. Wir gehen in Richtung einer strukturierten Zusammenarbeit, die ich im Sinne der Sicherheit für Europa für richtig halte. Aus meiner Sicht dürfen wir die Diskussion nicht so führen, als ginge es um die Schaffung einer europäischen Armee. Jetzt geht es um die Vorfrage: Wo entwickelt sich die Union grundsätzlich hin? Wie weit sind die Staaten bereit, Souveränität aufzugeben? Gerade im militärischen Bereich steht das Militär für die Bewahrung der Souveränität des jeweiligen Staates. Ich erkenne nicht, dass die Staaten ihre militärische Souveränität aufgeben wollen.

Hans Peter Doskozil: "Die Herausforderung für Europa ist Afrika. Dem müssen wir uns stellen, müssen endlich handeln."
Dragan Tatic

STANDARD: Die meisten EU-Staaten sind aber gleichzeitig Nato-Mitglieder, da stellt sich die Sicherheitsfrage auch ganz anders. Vor zwanzig Jahren wurde der Nato-Beitritt in Österreich noch ernsthaft erwogen, die ÖVP war dafür, wie sieht das heute aus?

Kurz: Das ist für mich kein Thema. Was es natürlich gibt, ist eine Kooperation zwischen der EU und der Nato, das ist auch sinnvoll. Für Nicht-Nato-Staaten gibt es die Möglichkeiten der Zusammenarbeit mit der Allianz, und dort, wo das Sinn macht, tun wir das auch. Wir leisten einen großen Beitrag auf dem Balkan, bei der Kfor zum Beispiel. Es gibt eine breite Kooperation bei den Übungen in der Nato. Aber wir haben mit dem Verteidigungsminister den Zuständigen, der das sicher noch ausführen kann.

Doskozil: Wir haben im Verhältnis zur Nato klare Definitionen, eine klare Abgrenzung. Wir sind dort willkommener Partner in der Nato-Partnerschaft für den Frieden, sollten nicht vergessen, dass wir große Kontingente bei der Friedenssicherung einsetzen beziehungsweise bereitstellen. Die Einschränkungen unserer Verfassung erlauben aber keine Teilnahme an Artikel-5-Übungen der Nato ...

STANDARD: ... der den wechselseitigen militärischen Beistand im Ernstfall vorgibt.

Doskozil: Ja, aber jenseits dessen können wir unsere Partnerschaft mit der Nato leben.

STANDARD: Wer zum innersten Kern der EU gehört, ist auch bereit, seine Soldaten für die anderen in den Krieg zu schicken. Alle EU-Gründungsländer sind aber auch Nato-Staaten. Sollte Österreich diesen Sprung machen, wenn es in zehn, fünfzehn Jahren zu einer EU-Militärunion kommt?

Doskozil: Ich bezweifle, dass es in diesem Zeithorizont zu einer EU-Militärunion kommt, also zu einer europäischen Armee. Europa ist aus Staaten zusammengewachsen, hat Staaten, und die ihre Geschichte. Darauf muss man Rücksicht nehmen. Österreich ist von der Neutralität geprägt. Sie ist in der Bevölkerung akzeptiert und verhaftet. Wir leisten wichtige Beiträge zur internationalen Friedenssicherung und werden von den Partnern nicht als Trittbrettfahrer gesehen. Wir haben 1.100 Soldaten in Friedensmissionen, das zehnmal so große Deutschland hat knapp 3.500, nur zum Vergleich. Wir werden akzeptiert, sind gern gesehen.

STANDARD: Gibt es in diesen Fragen der Sicherheitspolitik einen Unterschied zu Ihrer Position?

Kurz: Aus innenpolitischer Sicht gibt mit der SPÖ immer wieder Unterschiede. Aber was die außenpolitischen Ziele einer stärkeren gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik in Europa betrifft, da ziehen wir an einem Strang. Ich würde unterstreichen, dass unsere Einsätze im Ausland wesentlich sind. Ein neutraler Staat hat meiner Meinung nach auch die Pflicht, einen Beitrag außerhalb der eigenen Grenzen zu leisten. Wenn wir Sicherheit in Österreich gewährleisten wollen, bedeutet das auch, uns über die Grenzen hinaus zu engagieren, um keine Instabilität zu importieren. Ich bin froh, dass mehr als 1.000 Soldaten im Ausland im Einsatz sind. Die leisten dort eine großartige Arbeit, einen Beitrag für unsere eigene Sicherheit.

STANDARD: Zurück zur Migration. Österreich hat so viele Flüchtlinge aufgenommen wie kaum ein anderes EU-Land ...

Doskozil: So viele wie niemand sonst über die letzten Jahre, pro Kopf der Bevölkerung gerechnet.

STANDARD: ... und es gibt darüber riesige politische Auseinandersetzungen in Österreich, gleichzeitig auch heftige Kritik der EU-Kommission und mancher Partner wegen der Verteilungsquoten und des Grenzschutzes. Wieso ist das so?

Kurz: Weil die EU-Kommission und einige Staaten seit 2015 eine völlig falsche Politik verfolgt haben. Damals war es ja so, dass es fast Denkverbote gab. Als ich 2015 gegen die offenen Grenzen eingetreten bin, wurde ich von vielen in ein rechtes Eck gedrängt. Heute tun sich manche schwer, ihre Position diesbezüglich schrittweise zu ändern. Migration ist in Europa noch immer ein Thema mit sehr viel Emotion, es gibt welche, die sich so darstellen, als wären sie moralisch überlegen.

STANDARD: Sie meinen, man hat zu spät mit Restriktionen begonnen?

Kurz: Es haben einfach viele geglaubt, man kann das Problem allein durch Verteilung auf die EU-Staaten lösen. Andere glaubten, dass jeder sich aussuchen kann, wo man in Europa seinen Asylantrag stellen kann, viele sagten, wenn wir die Grenzen nicht öffnen, sind wir Unmenschen. Wenn man das kritisierte so wie ich, wurde man pauschal in ein rechtes Eck gedrängt.

STANDARD: Wie sehen Sie das?

Doskozil: Historisch gesehen gab es bei der Migration immer schon Fehleinschätzungen. Das begann schon bei der Krise in Tschetschenien. Es gab stets nur Reaktion auf Ereignisse, aber nicht Aktion. Auch die Dublin-Verordnung war eine Reaktion auf damals erste größere Fluchtbewegungen. Damals gab es schon den Denkfehler zu glauben, dass bei einer größeren Migrationsbewegung nur die Länder an den EU-Außengrenzen die Asylaufnahmeverfahren allein durchführen können. Das war nicht realistisch, es passt nicht. Und auch heute sind wir in der Situation, dass Europa immer nur reagiert, nicht agiert.

STANDARD: Ein Beispiel?

Doskozil: Nehmen wir die Fluchtsituation auf der Mittelmeerroute her. Wir reden vor allem darüber, wie wir die Flüchtlinge verteilen. Und dann beginnen die einzelnen EU-Staaten restriktive Maßnahmen zu setzen. Die Kommission denkt besonders an die Verteilung der Flüchtlinge. Ich glaube, wir müssen endlich dahin kommen, dass wir zwei Schritte vorausdenken, eine andere Systematik implementieren. Dazu gehören die Verfahrenszentren in Afrika. Es hat mich positiv überrascht, dass Kanzlerin Merkel und der französische Präsident Macron jetzt auch für diese Verfahrenszentren sind.

Sebastian Kurz: "Wir müssen entscheiden, wer nach Europa zuwandern darf, nicht die Schlepper.Die wirklich große Herausforderung für Europa ist Afrika. Dem müssen wir uns stellen, müssen endlich handeln."
Dragan Tatic

STANDARD: Verfahrenszentren sind Aufnahmezentren, in denen man Asylanträge stellen können soll.

Doskozil: Das ist ein Ansatz. Es gibt eine Reihe weiterer Elemente, die wesentlich wären – wie der Schutz der Außengrenzen. Man muss es nur endlich angehen, proaktiv, um eine systematische Regelung der Migration zustande zu bringen. Diesen Weg müssen wir einschlagen, ganz vehement.

STANDARD: Wenn man Ihnen beiden zuhört, fällt auf, dass es in Ihren Positionen kaum Unterschiede gibt. Gibt es etwas, wo Sie einander völlig widersprechen?

Kurz: Ich bin froh, dass es mit dem Verteidigungsminister einen Partner gibt, mit dem man auf europäischer Ebene für diese restriktive Migrationspolitik eintreten kann. Als Land ist man in der Union immer dann am erfolgreichsten, wenn man geschlossen in eine Richtung geht. Je mehr interne Konflikte es gibt, desto schwächer ist man auch auf EU-Ebene.

STANDARD: Wie sehen Sie das?

Doskozil: Wir sind uns von der Grundintention her einig, dass es die Verfahrenszentren geben muss, den EU-Außengrenzenschutz, die Rückführungen von Migranten ohne Aufenthaltstitel, und dass dann – erst dann – die Verteilungsfrage geklärt werden muss. Wir wollen uns nicht von Flüchtlingen abkapseln.

STANDARD: Sollte man bei solchen Themen nationalen Interesses die parteipolitischen Streitereien eher vermeiden?

Doskozil: Mein Zugang ist ein sach- und lösungsorientierter. Ich versuche das auch beim Thema Sicherheit. Das sollte man nicht in den Wahlkampf ziehen.

STANDARD: Eines ist jedenfalls auffällig. Wenn Minister sich auf der europäischen Ebene bewegen, gehen sie die Probleme wesentlich sachlichbezogener und ruhiger an.

Kurz: Ich vertrete auf europäischer Ebene stets dieselbe Position, so wie auch in Österreich. Ich bin in Österreich für meine Linie in der Migrationskrise heftig kritisiert worden, und auf europäischer Ebene war das nicht anders. Aber ich betone schon, man kann eine restriktive Linie vertreten, ohne gegen Menschen zu hetzen.

STANDARD: Reden wir über die Zukunft, die Perspektive, was wird in den nächsten Jahren beim Thema Migration passieren?

Doskozil: Für mich ist ganz klar, wir müssen viel mehr ein paar Schritte vorausdenken, das Thema proaktiv angehen. Es geht alles viel zu langsam. Daher werden wir etwa beim Schutz der Außengrenzen aktiv. Nächste Woche gibt es mit anderen zentraleuropäischen Staaten in Österreich eine großangelegte Übung.

STANDARD: Mit Tschechien, der Slowakei, Ungarn und Slowenien.

Doskozil: Das soll ein starkes Signal an Brüssel sein. Wenn wir von dort die erwarteten Antworten nicht bekommen, dann müssen wir selbst aktiv werden. Auf längere Perspektive wird es nicht anders gehen, um die Migrationsthematik in den Griff zu bekommen, wir brauchen eine andere Systematik, die einzelnen Maßnahmen müssen wie Zahnräder ineinandergreifen. Außengrenzenschutz, Verfahrenszentren, Rückführungen, Flüchtlingsverteilung. Das muss die Abfolge sein. Grundsätzlich muss klar sein, wenn wir die Verfahrenszentren haben, dann darf es keine illegale Migration mehr nach Europa geben.

Kurz: Ich versuche es in einem Satz zusammenzufassen. Wir müssen entscheiden, wer nach Europa zuwandern darf – und nicht die Schlepper. Im Moment ist es so, wer einen Schlepper bezahlt und sich illegal auf den Weg macht, der kommt durch. Das Gegenteil muss der Fall sein.

STANDARD: Österreich übernimmt Mitte 2018 den EU-Vorsitz. Was kann es dazu beitragen?

Doskozil: Genau diese Punkte, von denen wir glauben, dass sie wichtig sind, in Angriff zu nehmen, sie zum Gegenstand unseres Vorsitzprogramms zu machen. Ein konkretes Beispiel: Wenn wir vor wenigen Tagen gehört haben, dass von Deutschland und Frankreich intensiv über die Verfahrenszentren gesprochen wird, dann hätte ich mir erwartet, dass das auf EU-Ebene besprochen und behandelt wird. Das ist nicht geschehen. Wir müssen in der Union endlich in die Gänge kommen.

STANDARD: Warum versucht Österreich nicht jetzt schon selbst Initiativen in der EU zu setzen, sich mit anderen Ländern zusammenzutun?

Kurz: Wir tun das ja. Wir haben mit unseren Partnern die Schließung der Westbalkanroute organisiert. Ich selber und der Verteidigungsminister waren tätig, in Italien Druck zu machen, damit Migranten nicht stetig Richtung Mitteleuropa weitergewunken werden. Und wir setzen uns auch dafür ein, dass es ab November weiterhin die Möglichkeit gibt, nationale Grenzkontrollen durchzuführen. Was die Perspektive für den EU-Ratsvorsitz betrifft, habe ich ein großes Ziel, nämlich keine Zeit mehr zu verschwenden mit der nicht funktionierenden Verteilung von Flüchtlingen in Europa. Das wird das Problem niemals lösen. Wir müssen vielmehr sicherstellen, dass illegale Migration nicht zum Erfolg führt.

Doskozil: Ich möchte nicht so einfach stehen lassen, dass wir keine Initiativen setzen würden. Und daran erinnern, dass wir im vergangenen Jahr den Vorsitz in der CEDC hatten und gemeinsam mit den Innenministern einen Aktionsplan entwickelt haben, der vorsieht, dass ein gemeinsamer Grenzschutz entlang der Balkanroute möglich ist, wenn das erforderlich ist. Wir müssen alles daran setzen, dass sich ein Jahr wie 2015 nicht mehr wiederholt.

Kurz und Doskozil sehen in den Migrationsbewegungen aus Afrika das vorherrschende Problem Europas für die kommenden Jahre.
Dragan Tatic

STANDARD: Die CEDC ist die Zentraleuropäische Verteidigungskooperation, inklusive Balkan.

Doskozil: Es gibt nun für die beteiligten EU- und Balkanstaaten genaue Ablaufschemata und Regeln, wie der gemeinsam Grenzschutz abläuft, rechtlich, inhaltlich, mit welchem Personal et cetera. Wenn zum Beispiel Mazedonien einen gemeinsamen Grenzschutz brauchen würde, dann ist klar, wer welche Truppe, welches Personal zur Verfügung stellt. Das ist zwischen Innen- und Verteidigungsministern genau akkordiert. Jetzt kommen wir in die Phase, wo wir das erstmals gemeinsam üben. Österreich hat da die Führung übernommen.

STANDARD: Wir reden immer nur über die restriktiven Maßnahmen, das Wort Einwanderungspolitik, geplante kontrollierte Einwanderung ist noch nicht gefallen. Warum?

Kurz: Es gibt eine sehr hohe Mobilität innerhalb Europas. Wir haben extrem hohe Zahlen an Zuwanderern aus der Union, die nach Österreich kommen. Es gibt keinen Bedarf an noch mehr Zuwanderern, ganz im Gegenteil. Wir müssen in Österreich die Zuwanderung in unser Sozialsystem reduzieren. Die Zuwanderung aus Drittstaaten ist über die Rot-Weiß-Rot-Card möglich. Die Modelle gibt es, es funktioniert auch.

STANDARD: Aber auch in diesem Bereich nur sehr defensiv. Überspitzt gesagt: Sollte Österreich nicht zum Beispiel ein Kontingent für tausend Chinesen schaffen, weil man Leute in zwanzig Jahren im Wirtschaftsleben dringend brauchen wird, die Chinesisch sprechen?

Kurz: Wir brauchen Menschen, die einen Beitrag zur Wirtschaft leisten, die in Österreich zur Welt gekommen sind und die wir gut ausbilden. Wenn Migration, dann gesteuert. Man muss auswählen, wen man möchte. Wir sind ein Spitzenzuwanderungsland.

Doskozil: Und wir dürfen nicht ständig Migrationspolitik, Asylpolitik und Zuwanderungspolitik vermischen. Wir haben seit jeher ein funktionierendes Niederlassungssystem, das genau das vorsieht, dass wir steuern können, was wir wollen. Es gibt das System der Schlüsselarbeitskräfte, Aufenthaltstitel für Studierende, es gibt Quoten, die jährlich festgelegt werden. Das alles gibt es bereits.

STANDARD: Wie soll es mit der Türkei weitergehen? Es leben 300.000 Türken in Österreich, die Beziehungen zu Ankara sind extrem angespannt, wie kommt man wieder in einigermaßen geordnete Verhältnisse?

Kurz: Indem man ehrlich ist und klar ausspricht, dass es keine Perspektive für die Türkei als Mitglied in der Europäischen Union gibt, dass wir gegen den Beitritt sind, aber geordnete nachbarschaftliche Beziehungen mit der Türkei wollen. Jede Form der Unehrlichkeit führt zu negativen Entwicklungen in den Beziehungen. Die vergangenen Jahre waren geprägt von einer unehrlichen Politik, einer Union, die stets so getan hat, als würden wir wollen, dass die Türkei beitritt, aber die Bevölkerung und viele Politiker sind zu Recht dagegen.

Doskozil: Ich sehe diese Frage ähnlich. Konkret: Wir haben bei der verstärkten sicherheitspolitischen Kooperation der EU gerade einen Passus aufgenommen, dass wir keine Zusammenarbeit mit Staaten wollen, die demokratische Grundsätze nicht akzeptieren. Es ist auch nicht so, dass 300.000 Türken in Österreich die Vorgehensweise von Präsident Erdoğan goutieren. Eine klare Positionierung dem türkischen Regime gegenüber bedeutet auch nicht gleichzeitig einen Affront gegenüber den bei uns lebenden Türken.

STANDARD: Man hat den Eindruck, dass Sie einander als politische Partner gut verstehen. Warum?

Doskozil: Das ist im Leben mal so, man versteht sich mit manchen Menschen gut, mit anderen schlecht. In der Politik muss man vor allem viel Pragmatismus an den Tag legen können, um entsprechend zusammenarbeiten zu können. Es interessiert die Bürger auch nicht, ob wir uns gut oder schlecht verstehen. Sie erwarten, dass wir gut zusammenarbeiten im Interesse der Republik.

Kurz: Ich teile die Einschätzung. Es ist unser gemeinsamer Job, für Österreich in Brüssel und im Ausland einzutreten. Das tun wir professionell, auch in Wahlkampfzeiten. Darüber hinaus ist es so, dass wir uns in Fragen der Migration näher stehen und es viele gibt, die eine andere Linie vertreten. Es ist gut, dass es Menschen gibt, mit denen man an einem Strang ziehen kann.

STANDARD: Wo sehen sie Österreich in der EU in zehn Jahren?

Kurz: Wirtschaftlich hoffentlich wieder an der Spitze der Union, politisch ist unsere Aufgabe, ein Brückenkopf zwischen Ost und West in der Union zu sein, alles zu tun, dass die Fliehkräfte in der Union nicht zunehmen.

Doskozil: Ich hoffe schon, dass Österreich eine Rolle einnimmt, die dafür sorgt, dass die EU realpolitisch die richtigen Ziele verfolgt. Wir könnten eine starke Rolle in Europa spielen.

STANDARD: Kann es sein, dass ich heute ein Interview mit dem nächsten Bundeskanzler und dem nächsten Vizekanzler der Republik geführt habe?

Doskozil: Diese Spekulationen sind müßig, Koalitionsspekulationen ebenso. Jetzt wird einmal gewählt, alle Parteien sind aufgerufen, ihre Standpunkte zu vertreten. Nach der Wahl muss man die Situation beurteilen, und ich bin dafür, mit allen Parteien Gespräche zu führen, und danach wird man sehen, wo es eine realistische Chance der Zusammenarbeit gibt.

Kurz: Würden da Kern und Strache oder Strache und ich hier sitzen, würden Sie die Frage genauso stellen. Am 15. Oktober haben die Wählerinnen und Wähler das Wort. Sie müssen entscheiden, wen sie stärken wollen. Danach erst weiß man, welche Parteien im Parlament vertreten sind. Dann wird der, der einen Regierungsbildungsauftrag erhält, hoffentlich mit allen anderen Parteien Gespräche führen. (Thomas Mayer, 8.9.2017)