Ein Sommertag in Berlin. In einer Privatwohnung in Charlottenburg wechselt die Schauspielerin Martina Gedeck von einem Outfit ins nächste. Sieben Stunden lang sitzt und steht, posiert und tänzelt sie vor der Linse des Fotografen. Es ist das erste Modeshooting der deutschen Schauspielerin seit drei Jahren. Zustande gekommen ist es (nach langer Vorlaufzeit) aus einem einzigen Grund: Die Verfilmung der Marlen-Haushofer-Novelle "Wir töten Stella" ist für die 56-Jährige ein Herzensprojekt. Wie bereits bei der preisgekrönten Verfilmung von "Die Wand" vor fünf Jahren spielt Gedeck eine Frau, deren Gefühle abhandengekommen sind. Eine Rolle ganz nach ihrem Geschmack. Bei einem Italiener um die Ecke erklärt sie, warum das so ist – und warum sie bei einem Modeshooting genauso offen sein will wie bei einem Filmprojekt.

STANDARD: Sie haben sich für unser Shooting viel Zeit genommen, obwohl Sie sich ungern in Mode fotografieren lassen. Woher der Sinneswandel?

Martina Gedeck: Ich verbringe meine Zeit gerne so, dass es mir Spaß macht. Ich möchte, dass etwas rauskommt, das besonders und schön ist. Ein Shooting hat viel mit meiner Arbeit zu tun. Wie setzt man sich hin? Ist man entspannt? Was macht ein Kleidungsstück mit mir? Was ist eine Pose? Was findet zwischen der Linse und dir statt? Wenn sich die Menschen die Fotos ansehen, sollen sie mich als Person darin erkennen. Ich will mich nicht verstellen.

Authentizität erfordert viel Arbeit?

So ist es. Entweder man lässt sich darauf ein oder nicht. Auch bei einem Gespräch ist das so. Man könnte sagen, das Gespräch dauert nur eine Viertelstunde, und das war's. Oder man nimmt sich Zeit, so wie wir das tun.

"So jemand wie Marlen Haushofer kommt einem sehr nahe. "Die Wand" war ein Urerlebnis." Die Verfilmung des Romans mit Martina Gedeck in der Hauptrolle (2012) gewann zahlreiche Preise. Herrenanzug von Emporio Armani, Top von Dorothee Schuhmacher, Ankle Boots von Jimmy Choo.
Foto: Stefan Armbruster

In der Verfilmung der Novelle "Wir töten Stella" spielen Sie Anna, eine Frau, die teilnahmslos zusieht, wie sich ihr Mann sexuell an Stella vergeht. Wie drückt man als Schauspielerin diese Reg- und Wortlosigkeit aus?

Indem ich präzise bin in meinem Empfinden. Zudem unterlege ich Annas Geschichte mit einer genau durchdachten Struktur. Wo gibt es Wendepunkte, wann wird sich Anna bewusst, was ihr Mann da treibt, wann verrät sie das Mädchen? Das mache ich mir vorher klar und weiß dann genau, an welcher Stelle ich innerlich bin. Ich habe ein kleines Buch, in dem ich mir die Dialoge aufschreibe. Ich gehe immer wieder diese Dialoge durch, das hat beinahe etwas Meditatives. Irgendwann kommt dann das Wesentliche zum Vorschein.

"Wir töten Stella" hat stark autobiografische Züge. Wie Marlen Haushofer ist auch Anna in einer unglücklichen Ehe gefangen und muss dafür kämpfen, schreiben zu dürfen. Wie sehr haben Sie sich mit der Person Haushofer auseinandergesetzt?

Haushofer war sehr radikal. Für sie ging es um Leben und Tod. An der Oberfläche kommt ihre Sprache locker und leicht daher. Darunter finden sich aber messerscharfe Gedanken. Sie hat sich hinter der Fassade einer bürgerlichen Ehe versteckt. Das, was sie wirklich empfunden hat, ist in ihr Schreiben eingeflossen. So jemand wie Haushofer kommt einem sehr nahe. Ich habe alle ihre Bücher gelesen. "Die Wand" habe ich in jungen Jahren von meiner Mutter geschenkt bekommen. Da war ich Anfang 20. Der Roman hat mich damals unglaublich fasziniert. Er war ein Urerlebnis.

Haushofer wurde erst in den 1980er-Jahren im Umfeld des Feminismus von einem breiteren Publikum entdeckt. War dieser feministische Kontext auch für Sie wichtig?

Nein, ich bin eine andere Generation. Die Generation meiner Mutter, die hat das Buch unter diesem Blickwinkel gelesen. Ich bin in den 1980ern noch zu jung gewesen. Ich lebte in Berlin, und wir waren an ganz anderen Themen interessiert. Vielleicht war ich auch aufgrund meiner Berufswahl nie in einer solchen bürgerlichen Situation gefangen.

Aber das Kernthema des Buchs, nämlich wie man es schafft, ein selbstbestimmtes Leben zu führen, ist doch bis heute von Relevanz.

Das ist keine explizit feministische Fragestellung. Auch Männer stellen sich diese Frage. Wie können wir uns aus Zwängen lösen? In "Die Wand" wird am Schluss deutlich, dass diese Frau viel mehr kann, als sie denkt. Sie schafft es zu überleben, das ist ein positives Ende. Ich selbst habe mich nie als Frau empfunden, die benachteiligt ist. Diese Rolle ist mir fremd.

Sie haben sich als Frau nie benachteiligt gefühlt?

Es gibt Dinge, die ich nicht machen kann und Männer schon. Aber umgekehrt gibt es auch Sachen, die Frauen machen können und Männer nicht. Männer und Frauen sind verschieden, und das finde ich in Ordnung. Damit muss man leben. In "Wir töten Stella" ist es offensichtlich, dass es um eine Frau geht, die unterdrückt wird. Das Ganze ist aber viel komplexer, diese Frau spielt das Spiel nämlich mit.

"Ich wende mich nicht spezifisch an Frauen, dazu sind meine Rollen zu unterschiedlich." Im Oscar-prämierten Stasi-Film "Das Leben der Anderen" spiete Gedeck ebenso mit sie in der Houllebecq-Verfilmung "Elementarteilchen". Rollkragenpulli und Hose von Marina Rinaldi, Pumps von Prada.
Foto: Stefan Armbruster

Höre ich da Skepsis gegenüber feministischen Fragestellungen durch?

Ich hege eine Skepsis gegenüber Stereotypen, gegenüber Schlagwörtern, auf die ein komplexes Buch reduziert wird.

Ich habe weniger den Film gemeint, sondern allgemein. Würden Sie sich als Feministin bezeichnen?

Nein, ganz bestimmt nicht. Ich mag diese Klassifizierungen nicht.

Sie spielen immer wieder sehr komplexe Frauenfiguren, die auch kämpferisch sind, weil sie ungerecht behandelt werden. Was stört Sie am Begriff Feministin?

Wenn ich ein Mann wäre, würde ich auch Stoffe interessant finden, bei denen jemand versucht, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Ich finde, das ist kein frauenspezifisches Thema. Ich wende mich nicht spezifisch an Frauen, dazu sind meine Rollen zu unterschiedlich. Es ist mir wichtig, dass die Figuren, die ich spiele, differenziert dargestellt werden. Ich sehe mich nicht als Verfechterin von Frauenrechten. Ich spiele immer wieder Rollen, bei denen sich gerade Frauen fragen, wie man so einen Film überhaupt machen kann, weil sie sich am dargestellten Frauenbild stoßen. Bei "Gleißendes Glück" wurde ich immer wieder gefragt, warum ich eine Frau spiele, die sich verprügeln lässt und dann wieder zu ihrem Mann zurückgeht.

Warum spielen Sie sie?

Weil das die Realität ist. Viele Frauen wünschen sich – nicht nur Redakteurinnen, auch Zuschauerinnen –, dass man Heldinnen spielt. Schauen Sie sich Filme an, die mit viel Geld finanziert werden. Frauen als Heldinnen, als starke Kriegerinnen, das ist ein großer Trend. Sie sollen stark sein, und das von Anfang an. Das finde ich fürchterlich langweilig. Vielleicht habe ich wegen meiner deutschen Wurzeln eine Aversion gegen dieses Heldentum. Die Ohnmacht ist etwas Menschliches: dass man scheitert, dass man versagt, dass man etwas nicht weiß oder dass man schwach ist. Das, bitte schön, muss auch Platz haben dürfen.

"Wenn sich die Menschen diese Fotos ansehen, sollen sie mich als Person darin erkennen." Die 56-jährige Martina Gedeck gehört zu den beliebtesten deutschen Schauspielerinnen der Gegenwart. Gedeck trägt ein T-Shirt von Zimmerli, eine Hose von Marina Rinaldi und Hosenträger von Auerbach.
Foto: Stefan Armbruster

Über Jahrhunderte hinweg hatten diese Position der Ohnmacht meist Frauen inne. Die Männer durften Helden sein. Jetzt erobern sich auch Frauen diese Rollen. Ist das nicht gesellschaftspolitisch wichtig?

Das ist richtig. Aber in meiner Arbeit möchte ich Figuren darstellen, die stark und schwach sind. Auch Anna wollte ich nicht einfach als Opfer zeigen, das sich befreit, ich will auch ihre Stärken sehen, den Glutkern, der in ihr schwelt. Das hat nichts mit der Kategorisierung Täter oder Opfer zu tun. Das ist für mich nur eine Ausgangslage, aus der heraus ich eine Figur baue.

Ist Anna für Sie überhaupt Opfer? Oder eher Täterin?

Ich habe die Anna natürlich als Täterin gespielt. Diese Frau entscheidet sich, nicht zu handeln, das ist eine bewusst gefällte Entscheidung. Ihre Intuition sagt ihr: Ich muss etwas unternehmen, doch sie stellt sich blind und schaut zu, während es Stella immer schlechter geht.

Möchte man sich als Schauspielerin nicht innerlich dagegen auflehnen?

Annas Gefühlskälte hat mir insofern gefallen, als dass es viele Menschen gibt, die so sind. Ich konnte mich in diese Situation gut reinversetzen. Ich habe das unter die Überschrift gesetzt: Trägheit des Herzens.

"Heute gibt es die Tendenz, Dinge zurechtzuschnippeln und mundgerecht zu machen." Dem Boulevard hat sich Gedeck immer verweigert. Über ihr Privatleben spricht sie prinzipiell nicht. Herrenanzug von Emporio Armani, Top von Zimmerli und Ankle Boots von Jimmy Choo.
Foto: Stefan Armbruster

Unterlassung ist auch ein Vergehen.

Als Schauspielerin muss ich das bejahen, sonst hätte ich es nicht spielen können. Man könnte sagen: Na gut, die ist halt depressiv. Auch bei "Die Wand" sagen viele, das sei die Beschreibung einer Depression. Aber so sehe ich es nicht. Anna sucht eine Lösung, um aus der Gefühlskälte, die zwischen ihr und ihrem Mann herrscht, auszubrechen. Insofern ist ihr Nichthandeln ein bewusster Akt, damit endlich etwas passiert.

Im Film heißt es einmal: "Es ist unmöglich zu fliehen."

Aber am Schluss flieht sie eben doch. Sie geht gewissermaßen durch die Wand, zieht sich aus allem zurück. Julian Pölsler (der Regisseur, Anm.) hat "Wir töten Stella" als Vorgeschichte zu "Die Wand" inszeniert. Darum kehren viele Motive aus Die Wand auch in der jetzigen Verfilmung wieder.

Hätten Sie die Rolle der Anna anders angelegt, wenn Sie nicht vorher "Die Wand" gespielt hätten?

Beide Werke hängen unmittelbar zusammen. Dazu kommt, dass es sich wieder um eine Zusammenarbeit mit Pölsler handelt. Wir fühlen uns in unserer Arbeit sehr verbunden. Ich wusste, worauf er hinauswill, und er wusste, was er seiner Hauptdarstellerin abverlangen kann.

Sie haben hohe Ansprüche gegenüber den Figuren, die Sie verkörpern. Wie schwierig ist es, angemessene Rollen zu finden?

Das ist schwierig. Es ist sehr selten, dass man differenzierte Rollen angeboten bekommt. Heute gibt es die Tendenz, Dinge zurechtzuschnippeln und mundgerecht zu machen. Den Mut zu haben, derart in die Tiefe zu gehen, wie das Pölsler in seinen Filmen macht, den muss man erst einmal haben. Mein Glück ist, dass ich schon immer Figuren angeboten bekommen habe, die ein bisschen neben dem Mainstream liegen.

"Ich habe mit 40 wie 30 ausgesehen. Die Leute dachten, ich sei viel jünger."

Ihren Durchbruch hatten Sie mit "Bella Marta". Da waren Sie schon fast 40 ...

... ja, aber ich habe mit 40 wie 30 ausgesehen. Die Leute dachten, ich sei viel jünger.

Haben Sie sich die komplexen Rollen erst erarbeiten müssen?

Damit man ein Spiel mit Tiefgang und trotzdem einer gewissen Leichtigkeit rüberbringt, dazu braucht es Erfahrung. Ich habe in jungen Jahren allen möglichen Quatsch gedreht. Ich dachte mir, dass ich da etwas lerne. Und das war auch so. Ich war sehr unbeholfen. Als ich mit der Schauspielerei anfing, gab es auch diese Art von Filmschauspiel, die mich interessiert, nicht mehr. Man hat zunächst eine Theaterausbildung gemacht und ging ans Theater. So war es auch bei mir.

"Ich habe mit 40 wie 30 ausgesehen. Die Leute dachten, ich sei viel jünger." Ihren Durchbruch hatte Martina Gedeck relativ spät mit der Verkörperung der Titelrolle in "Bella Martha". Seidenbluse von Marina Rinaldi, Body von Wolford.
Foto: Stefan Armbruster

Warum sind Sie nicht beim Theater geblieben? Dort gibt es komplexere Rollen.

Das Theater war für mich ein Traum, und vielleicht wollte ich unbewusst, dass es ein Traum bleibt. Ich wollte immer zum Theater, bin auch dort gewesen, aber parallel wurden mir Rollen beim Film angeboten. Irgendwann habe ich mehr gefilmt. Der Film wurde zu meinem Element. Ich bin jemand, der gerne forscht, und im Film konnte ich unbeobachtet meine kleinen schauspielerischen Forschungen betreiben. Im Film ist jeder Augenblick, jede Bewegung, jeder Satz festgelegt: Die Frage ist, wie man dennoch das rüberbringen kann, worum es geht. Ob ich gerade verliebt bin oder gerade jemanden töten möchte. Wie kann ich die Atmosphäre so verändern, dass das spürbar wird? Da zählt jede Nuance. Die meisten Sätze, die man beim Film sagt, sind keine große Literatur. Die Kunst besteht darin, dem Zuschauer dennoch zu vermitteln, was mit der Person los ist. Das war mein geheimes Studium in diesen kleinen, winzigen Rollen. Das Fernsehen war meine Provinz.

"Man spürt, dass das größte Kulturgut in Amerika der Film ist." Mit Robert De Niro spielte Gedeck in "Der gute Hirte", mit Jeremy Irons in "Nachtzug nach Lissabon". Jumpsuit von Stella McCartney, Top von Zimmerli.
Foto: Stefan Armbruster

Wer waren Ihre Vorbilder?

Ich habe mir unendlich viele Filme angeguckt. Da waren bestimmte Schauspieler, die mich sehr fasziniert haben, zum Beispiel Charles Laughton oder Bette Davis. Davis war expressiv und trotzdem ganz klar. Man konnte unendlich viel lernen von ihnen. Was ist eine Großaufnahme? Wie ist ein Blick? Was sagt ein Augenaufschlag? Solche Dinge.

Interessant, dass Sie nur Hollywood-Schauspieler nennen. Sie haben auch in US-Produktionen gespielt, mit Robert De Niro, Jeremy Irons oder Matt Damon. Haben sich die Erwartungshaltungen, die Sie hatten, erfüllt?

Das waren nur Stippvisiten. Das Spiel von Robert De Niro habe ich bereits vorher sehr genau studiert. Als ich ihm begegnet bin, wurde ich nicht enttäuscht. Man spürt, dass das größte Kulturgut in Amerika der Film ist. Man wird auf Händen getragen. Auch wenn du eine kleine Rolle spielst, bist du ganz groß. Die Atmosphäre ist ganz anders. In Frankreich ist es übrigens ähnlich.

Was können wir uns im deutschsprachigen Kino von den Amerikanern abschauen?

Die künstlerische Freiheit. Die Freiheit, die dir in der Gestaltung gelassen wird. Da ist eine ungeheure Offenheit. Man bewertet nicht gleich oder kritisiert. Die Kreativität wird erst mal stehen gelassen, bevor man anfängt, daran rumzubasteln. Das ist auch etwas, das wir heute bei unserem Modeshooting erlebt haben. Offen füreinander sein, dann kann Neues entstehen. Man probiert etwas aus, weil man einander vertraut. In dem Moment, wo du versuchst, jemandem etwas aufzuzwingen, hast du verloren. (Stephan Hilpold, RONDO, 15.9.2017)

"Wir töten Stella" läuft ab 29. 9 im Kino.
Thimfilm Filmverleih