STANDARD: Wikifolio gibt es seit fünf Jahren. Wie waren die Anfänge?

Kern: Anstrengend und im Ergebnis sehr erfolgreich. Wir haben mit einem kleinen Team ein Produkt gelauncht, das an der Börse gehandelt wird. Das war technisch und rechtlich aufwendig. Da ist auch viel Druck dabei, denn es geht ja um Geld. Wir haben relativ bald die erste Milliarde abgewickelt. Anfangs war ich operativ auch voll involviert. Bin nachts aufgestanden und habe mich um Serverprobleme gekümmert, Dienste neu gestartet und Preisfehler manuell auskorrigiert.

STANDARD: Stehen Sie heute nachts immer noch auf?

Kern: Nein. Das Thema Operations funktioniert mittlerweile extrem gut. Im Zeitverlauf ändern sich die Anforderungen. Ein Gründer durchlebt drei Phasen. Die erste Phase ist die, in der man das Produkt zum Leben erwecken muss. Da hängt man in der Technik und der Entwicklung. Dann muss man eine Organisation aufbauen, die das Produkt weiterbringt. Nach unserer Kapitalerhöhung im Juli ist das Thema nun Teamausbau. Wir haben zwölf Stellen, für die wir nun die richtigen Talente suchen.

STANDARD: Und die dritte Phase?

Kern: Das ist die Erntephase. Da sind wir noch weit weg. Wenn das Unternehmen dann ganz, ganz groß ist, wird es darum gehen, über einen Börsengang oder Verkauf nachzudenken oder das Unternehmen auf Gewinne zu maximieren. Da ist man dann wieder in einer ganz anderen Phase.

Die Kombination aus "stur und flexibel" hätte damals schon geholfen, sagt Kern Den wachsenden Erwartungsdruck als Unternehmer gleicht er mit Lesen und Sport in der Natur aus.
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STANDARD: Wie oft wollten Sie zu Beginn bei Troubles alles hinschmeißen?

Kern: Das war eigentlich nie eine Frage, weil wir von Anfang an Erfolg mit unserer Idee hatten. Der Start war schwierig, weil wir ohne Track-Record und ohne Technologie Partner suchen mussten für ein Modell, das es weltweit noch nicht gab. Das war anstrengend, aber der Erfolg hat die nötige Energie beigesteuert. Wenn Milliarden über das System abgewickelt werden, fragt man sich nicht mehr, ob man es machen soll. Da muss man schauen, dass es funktioniert.

STANDARD: Welche Themen bringt der Erfolg mit sich?

Kern: Was sich verändert hat, ist die Erwartungshaltung aller Betroffenen. Also die der Shareholder und auch von einem selbst. 2012 zum Start waren wir ein neues, ungewöhnliches Nischenprodukt, von dem keiner dachte, dass es wirklich groß werden kann. Seit Jahresbeginn sind über hundert Millionen Euro an neuem Kapital in unsere Portfolios geflossen. Fragt man die großen Fondsgesellschaften in Österreich, gibt es, glaube ich, keine, die einen ähnlich hohen Zufluss hatte. Das ist zwar schön für uns, aber gleichzeitig steigt der Erwartungsdruck. Wo immer ein Chart auftaucht von den allertollsten Start-ups, fragen die Shareholder, warum wir nicht draufstehen. Wir werden anders gemessen als noch vor fünf Jahren.

STANDARD: Wie gehen Sie mit diesem Erwartungsdruck um?

Kern: Ich muss oft an Falco denken. Also ich leide jetzt nicht so schlimm, aber er hat auch unter der eigenen Erwartungshaltung gelitten. Im Augenblick kann ich damit gut umgehen, wir sind heuer mit den Zahlen über Plan, haben auch Gewinn gemacht. Mit der Kapitalerhöhung ist das Konto voll. Ich freue mich auf das nächste Jahr. Wir haben gute Leute und starten mit Rückenwind und Vorsprung ins neue Jahr.

STANDARD: Mit Wikifolio haben Sie sich gegen eine mächtige Branche von Asset-Managern, Banken und Fondsgesellschaften gestellt. Wie ist man Ihnen zu Beginn begegnet?

Kern: Am Anfang hat uns keiner ernst genommen. Jetzt sind wir gut positioniert und besetzen ein Segment, für das es eh keine ernsthaften Anbieter gibt. Wir sprechen jene Menschen an, die sich grundsätzlich für Anlage interessieren und die zwischen null und 500.000 Euro investieren wollen. Das größte Ticket, das wir bisher hatten, waren 880.000 Euro von einer Person. Diese Zielgruppe findet derzeit kaum Anbieter. Die Onlinebroker wollen nicht beraten, Fonds sind nicht sonderlich spannend. Die guten Vermögensberater oder Privatbanken nehmen Kunden erst ab einer Viertel- oder halben Million Euro. Die prinzipiell Interessierten haben keinen Anbieter. Daher nehmen wir niemandem Geschäft weg und kooperieren mit Fintechs, Brokern und Vermögensverwaltern.

STANDARD: Das Lächeln der Konkurrenz ist also erstarrt?

Kern: Noch nicht. Die Banken sehen in unserem Segment aber ebenfalls Chancen. Zuletzt ist mit der Postfinance eine der größten Retailbanken der Schweiz eingestiegen. Die haben drei Millionen Kunden und eine Bilanzsumme, die fast so groß ist wie jene der Erste Group. Auch die wollen sich verstärkt mit interessierten Anlegern beschäftigen.

STANDARD: Sie sind also ein ernst zu nehmender Player geworden?

Andreas Kern ist im Nachhinein oft selbst überrascht, nie Zweifel an seiner Idee gehabt zu haben.
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Kern: Ja. Ich glaube, uns wird jetzt einiges zugetraut.

STANDARD: Haben Sie sich je gefragt, was Sie machen, wenn Sie mit Ihrer Idee scheitern?

Kern: Also im Nachhinein bin ich jetzt oft selber überrascht, dass ich eigentlich keine Zweifel gehabt habe. Dass das Thema Banken und Finanzen als Nächstes drankommt bei den Innovationen im Tech-Bereich – da war ich mir sicher. Finanzen und Banken ist prinzipiell etwas, dass online sein muss. Und das Ganze hat ja auch einen sozialen Charakter, selbst wenn man das jetzt nicht gleich mit Banken verbinden würde. Aber die Grundidee vom Herrn Raiffeisen war, dass sich die Lokalen helfen: Die einen haben Geld, die anderen brauchen es. Also eigentlich ist die Grundidee einer Bank etwas sehr Soziales. Darum war ich mir sicher, dass diese Branche als Nächstes drankommt.

STANDARD: Welche Momente haben Sie in den vergangenen Jahren am meisten überrascht oder geprägt?

Kern: Da gibt es viele. Wir haben im Büro einen Monitor hängen, wo wir immer die aktuellen Zahlen sehen. Natürlich ist jede große Zahl, die man erreicht, ein Anlass zum Feiern und gibt Rückenwind. Am Anfang haben wir nach zwei Wochen die erste abgewickelte Million gefeiert, dann kam die erste Million pro Tag, dann die erste, die wir verdient hatten. Das waren schon prägende Ereignisse. Auch zu sehen, wie man von der Branche dann behandelt wird.

STANDARD: Wie denn?

Kern: In Frankfurt bin ich mal zum Bahnhof gegangen. Da kam ein Herr auf mich zu und sagte: 'Hallo, ich bin der Christian, darf ich eh du sagen?' Ich habe ihn angesehen und gefragt: 'Christian?' Er: 'Von der Commerzbank.' Es war Christian Rhino, ein Bereichsvorstand der Commerzbank, der mich erkannt hat. Das war wahrscheinlich Zufall, weil er mich zuvor als Speaker bei einem Event gesehen hat. Aber das Gefühl, dass sich ein Vorstand der Commerzbank auf der Straße vorstellt, zeigt, dass man gesehen wird.

STANDARD: Viele glauben, mit einer guten Idee läuft das Geschäft von selbst. Wie sieht die Realität aus?

Kern: Eine Idee ist in Wirklichkeit nichts wert. Gründer glauben oft, sie können ohne Vertraulichkeitserklärung nicht über ihre Idee sprechen. Das ist Blödsinn. Wenn man so wenig dazu einbringen kann, dass ein anderer, der die Idee in zwei Minuten hört, sie besser umsetzen kann, braucht man das Thema nicht anzugehen. An der Idee scheitert es meist nie.

STANDARD: Sondern?

Kern: Man muss sich die richtige aussuchen und diese konsequent ausführen. Das ist immer auch ein Spagat. Man muss immer flexibel und stur zugleich sein.

STANDARD: Ein wachsendes Unternehmen bringt auch Verantwortung mit sich. Wie gehen Sie damit um, etwa dass Mitarbeiter und Jobs von Ihrem Geschick abhängig sind?

Kern: Prinzipiell sollte man einem Start-up nicht die Verantwortung für die Arbeitsplätze aufhalsen. Ich mache mir keine Sorgen um meine Mitarbeiter. Die finden alle wieder einen guten Job. Eigentlich ist es mehr die Sorge, wie man die guten Talente behalten kann. Ich sehe bei uns extrem viel Verantwortung hinsichtlich des Kapitals, das uns die Kunden anvertrauen.

STANDARD: Eine persönliche Frage: Sie tragen nun Vollbart. Wie kam es dazu? Wette verloren?

Kern: (lacht) Den Bart trage ich seit November, und das kam so: Erst hatte ich keine Zeit zum Rasieren. Dann ist das Geschäft immer besser gelaufen, und ich hatte Angst, dass der Erfolg aufhört, wenn ich den Bart abrasiere. Bei einer Messe habe ich dann einem Journalisten gesagt, dass ich mich erst wieder rasiere, wenn Wikifolio eine Milliarde Euro wert ist. Der hat sich das gemerkt und mich am nächsten Tag darauf angesprochen. Da dachte ich mir, jetzt muss ich mich daran halten.

STANDARD: Wie schwer ist Wikifolio gerade? Also wie lange wird es bis zur nächsten Rasur dauern?

Kern: Es ist noch ein bisserl hin (lacht), aber nicht unmöglich. Heuer und nächstes Jahr wohl noch nicht. Der Aufsichtsrat hat sich über den Bart beschwert.

STANDARD: Warum?

Kern: Weil sie meinen, der Bart wirke nicht seriös. Ich habe dann einen Chart vorgelegt und gezeigt: Das sind unsere Erlöse, ab diesem Zeitpunkt habe ich mich nicht rasiert, seither zieht die Kurve nach oben. Dann haben sie gesagt, ich soll ihn wachsen lassen.

STANDARD: Wie hoch ist der Frauenanteil im Aufsichtsrat?

Kern: Eine Frau von acht. Sechs von 37 Mitarbeitern sind Frauen, das ist für ein Fintech nicht schlecht. Wir hätten gern mehr. Die Männer arbeiten disziplinierter, wenn mehr Frauen im Team sind. Zudem bringen Frauen eine gute Teamdynamik rein.

STANDARD: Als Arbeitgeber haben Sie welchen Wunsch an die Politik?

Kern: Eine Lohnnebenkostensenkung für Start-ups wäre gut. Auch für den Staat, denn diese Arbeitsplätze werden wirklich zusätzlich und neu geschaffen. Und die Leute geben das Geld ja auch wieder aus. Also das Geld, das bei den Nebenkosten gestrichen wäre, fließt ja wieder in die Wirtschaft.

STANDARD: Wie lange bezeichnen Sie Wikifolio noch als Start-up?

Kern: Ich definiere das über das Wachstum. Wer um die 100 Prozent zum Vorjahr wächst, ist noch Start-up. Wir machen zudem was Neues, was keiner sonst macht. Wir haben Gewinn gemacht, daher wackelt die Bezeichnung. Ich sage immer: Solange sich Tesla als Start-up bezeichnet, dürfen wir auch eines sein. (Bettina Pfluger, 30.9.2017)