Tabletten, Operationen, Untersuchungen: Patienten verlangen von ihren Ärzten meist eine Behandlung. Dabei wäre Abwarten und Beobachten oft sogar die bessere Option.

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Wer einen Patienten fragt, ob die Wirksamkeit der Behandlung, die ihm verschrieben wurde, wissenschaftlich abgesichert ist, wird in den allermeisten Fällen ein "Ja, selbstverständlich!" als Antwort bekommen. Eine Studie des Wissenschaftsnetzwerks Cochrane zeigt ein anderes Bild. 3000 gängige medizinische Behandlungen wurden dafür untersucht. Das Ergebnis: 35 Prozent sind wirksam oder wahrscheinlich wirksam, bei 50 Prozent ist unklar, ob sie wirken, sieben Prozent wirken, allerdings mit starken Nebenwirkungen, fünf Prozent sind wahrscheinlich nicht wirksam, und drei Prozent richten mehr Schaden als Nutzen an.

Für den niederösterreichischen Patientenanwalt Gerald Bachinger zeigen diese Zahlen deutlich, dass zu viel behandelt wird: "Wir müssen es schaffen, die Ressourcen unwirksamer Therapien 'freizukriegen' und sinnvoll einzusetzen", fordert er. Zu viel Medizin schadet auch dem System, weil anderswo Ressourcen dringend benötigt werden.

Dass zu viel therapiert und operiert wird, zeigen auch Daten aus Deutschland. Obwohl allen Bürgern, unabhängig vom Wohnort, die gleiche medizinische Behandlung zusteht, zeigen Zahlen der Bertelsmann-Stiftung, dass die Häufigkeit bestimmter Eingriffe je nach Postleitzahl stark variiert – teilweise sogar um das Achtfache. Betroffen sind etwa die Entfernung von Prostata, Gebärmutter, Mandeln oder Blinddarm sowie der Einsatz eines Defibrillators. Rein medizinisch sind derart hohe Abweichungen ebenso wenig zu erklären wie durch Alters- oder Geschlechtsstrukturen.

Überversorgung reduzieren

Auch in Österreich stehen ähnliche Phänomene immer wieder zur Diskussion, etwa wenn es um die stark steigenden Zahlen von Hüft- und Knieprothesen geht, die in Spitälern eingesetzt werden. Auch sie lassen sich nicht ausschließlich mit einer älterwerdenden Bevölkerung erklären.

Einsparungspotenzial sieht auch der Palliativmediziner Heinz-Peter Ebermann. Er berichtet vom Fall eines 83-jährigen Lungenkrebspatienten, der vier Tage vor seinem Tod noch täglich sieben verschiedene Medikamente einnehmen musste. Dieser Fall sei keine Ausnahme, so der Mediziner. Er ruft Ärzte dazu auf, sterbenskranken Menschen unnötige, belastende und oft auch mehr Schaden als Nutzen bringende Arzneimittel zu ersparen. Ebermann: "Nicht mechanisches Verordnen, sondern einfühlsames Fragen nach den Bedürfnissen des kranken Menschen ist nötig."

Falsche Anreize

Die Ursachen für die Fehlversorgung sind laut Patientenanwalt vielfältig: Falsche finanzielle Anreize, etwa die Tatsache, dass bei ärztlichen Leistungen Quantität und nicht Qualität honoriert wird, Zeitdruck oder Angst vor Behandlungsfehlern gehören dazu. Patienten wiederum erwarten von ihren Ärzten oft eine Leistung und wollen bestimmte Untersuchungen wie CT oder MRT. Im Spital sei es vor allem ein Streben nach Auslastung und professioneller Ehrgeiz, besonders in Unikliniken, so Bachinger. Für problematisch hält er vor allem das "Prälat des Handelns", wie er es nennt. "Etwas zu unternehmen wird von den meisten als positiv angesehen, obwohl Beobachten und Abwarten oft richtig wäre."

Bachinger kritisiert auf diesem Wege auch die Ärztekammer, die etwa eine Kampagne unter dem Slogan: "Weniger ist nicht mehr" durchgeführt hat. Bachinger: "Wir brauchen nicht mehr Quantität, sondern Qualität. Es geht um wirksame Versorgungsleistungen." Die Lösung des Problems sieht er in verstärkter Versorgungsforschung. "Wir brauchen mehr Transparenz, müssen erheben, wo es Abweichungen von bedarfsgerechter Versorgung gibt, um entsprechende Maßnahmen ergreifen zu können." Denn, so Bachinger, was dem Einzelnen nicht hilft, das schade allen. (Bernadette Redl, 14.10.2017)