Eine Rettungsaktion im Rahmen der Operation Mare Nostrum vor der libyschen Küste. Syrische Flüchtlinge kommen an Bord. Das Erlebte ist ihnen ins Gesicht geschrieben. Eine Seite aus "Der Riss".

Avant-Verlag

Wien – Begonnen hat alles in der spanischen Enklave Melilla. Die Stadt an der marokkanischen Küste gilt als Außenposten der EU. Entsprechend drastisch sind die Sicherheitsmaßnahmen. Sechs Meter hohe Dreifachzäune, Bewegungsmelder, Wärmebildkameras machen die zwölf Quadratkilometer große Siedlung je nach Standort zu einer Trutzburg oder einem Gefängnis. Immerhin wurden die Grenzen des freien Europas zum feindlichen Afrika schon im 19. Jahrhundert mit der Reichweite von Kanonenkugeln gesetzt.

Der barbarische Zaun gegen Marokko, das bis heute Melilla für sich beansprucht, allerdings auch wirtschaftlich erheblich von der Enklave profitiert, also stillhält, wurde erst in den 1990er-Jahren hochgezogen. Seither branden Flüchtlingswellen gegen die Befestigung, die selten, aber doch überwunden wird.

2014 erhielten Fotograf Carlo Spottorno und Reporter Guillermo Abril vom Wochenmagazin der spanischen Tageszeitung "El País" den Auftrag, Flüchtlingsschicksale an den Außengrenzen der EU anhand von drei, vier prägnanten Orten zu dokumentieren. Melilla, das erste Reiseziel, ergab sich aufgrund seiner obszönen Bilddramatik von selbst. Wer auf dem mit EU-Mitteln in der Höhe von 1,7 Millionen Euro für die "Entwicklung des ländlichen Raums" geförderten Golfplatz über den Grenzzaun blickt, sieht drüben auf der verwunschenen Seite von Frieden, Freiheit und Wohlstand auf ein ständig wachsendes Flüchtlingslager. Spottorno und Abril berichten von beiden Seiten. Es entstehen Reportagen, die den Leser mit lakonischem Ton und kühl-distanzierten, dadurch umso bedrückenderen und berührenderen Fotos überzeugen und mitnehmen.

Bitteres Resümee

Bereits im Vorjahr haben die beiden Journalisten in Spanien das aus 25.000 Fotos komprimierte Projekt "La Grieta" veröffentlicht. Auf Deutsch liegt es nun als "Der Riss" vor. Es handelt sich um eine über drei Jahre gezogene, künstlerisch bearbeitete Reportage, die sich des Formats der Graphic Novel bedient. Allerdings wurde den rund 550 Bildern kein einziger gezeichneter Strich beigefügt. Die grobkörnigen Fotos wurden nur farblich bearbeitet, begradigt, im Sinne einer besseren bildlichen Erzählbarkeit manchmal gedreht.

Die dazugehörigen Textboxen und schwarzen Bildumrandungen stehen zwar in bester Comictradition. Allerdings wird hier nichts erfunden – und schon gar nichts beschönigt. Spottorno und Abril erzählen Geschichten von beiden Seiten der zunehmend hermetisch abgeriegelten Grenzen Europas. Sie sind nach Melilla etwa auch nach Lampedusa gereist, besuchten die hochmilitarisierte Grenze zwischen der Türkei und Bulgarien. Sie wurden immer wieder selbst Opfer einer unmenschlichen Bürokratie. Sie waren vor Libyen an einer Rettungsaktion Mare Nostrums beteiligt. Schließlich reisten sie in den Norden Europas. An der finnischen Grenze wurden sie während eines Grenzschutzmanövers tatsächlich Zeugen, wie Flüchtlinge aus Afghanistan versuchten, ins gelobte Land vorzudringen.

Europa und die einst hehre und zunehmend auch von innen bedrohte Idee davon, darüber denkt das Autorenduo in diesem herausragenden und dem Leser nahegehenden Band "Der Riss" auch in historischen Einschüben nach. Risse, die das europäische Gefüge bedrohen, sieht man gegenwärtig etwa auch in Katalonien. Einen Riss allerdings kann man kitten, noch. Mit Grenzzäunen außen und Mauern im Kopf, Populismus, Fremdenfeindlichkeit, Nationalismus, Brexit und weiß der Teufel was, so das bittere Resümee, wird das nicht funktionieren. (Christian Schachinger, 8.11.2017)