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Die Frauenbewegungen, die bestimmen, welches Benehmen angemessen ist und welches nicht, eignen sich eine Logik an, die durchaus patriarchalisch ist.

Foto: REUTERS/Lucy Nicholson

Wie die Dialektik anzuwenden wäre, sei demonstriert an einer Aussage Ingrid Felipes über sexuelle Belästigung: "Dahinter steckt ein System, das Patriarchat." Denn greift diese platte Formel nicht zu kurz? War nicht das schrankenlose Ausleben der Sexualität auch einmal als Widerstand gegen bürgerliche Normen und damit gegen das Patriarchat gedacht? Die Dialektik liegt darin, dass gerade dieser Widerstand gegen das Patriarchat selbst in patriarchale Struktur umschlug. Bestes Beispiel: die Otto-Mühl-Kommune.

Ist die neue Moral die alte Moral?

Doch prekäre Dialektik gibt es auch bei #MeToo. Wenn jemand glaubt, hier handle es sich um eine Bewegung gegen das Patriarchat, dann muss er sich die Frage gefallen lassen, ob nicht gerade das System der politischen Korrektheit ganz im Gegenteil das Element einer Re-Patriarchalisierung der Gesellschaft darstellt. Wenn an einem gesellschaftlichen Klima gearbeitet wird, in dem das bloße Ansprechen einer Frau bereits als Verstoß gegen ab nun erwünschte Normen betrachtet wird – man vergleiche die Debatte über das Video von Shoshana Roberts 2014 –, dann ist man möglicherweise daran, ein System umfassender gesellschaftlicher Kontrolle zu errichten, das sich gar nicht mehr so stark unterscheidet von jenen traditionellen, das sexuelle Verhalten strikt überwachenden Strukturen, die man eigentlich schon weit hinter sich zu haben geglaubt hatte.

Mögen es zwar nun die Frauenbewegungen sein, die bestimmen, welches Benehmen angemessen ist und welches nicht – die Logik, die sie sich aneignen, ist durchaus patriarchalisch, denn sie zielt ganz genau wie die alte bürgerliche Moral auf Deutungshoheit und Beherrschbarkeit ab und lässt Ambivalenzen und Vieldeutigkeiten, wie sie die Realität des Umgangs der Geschlechter miteinander tatsächlich prägen, außer acht.

Was also die Debatte um Übergriffe zeigt, ist weniger, dass auf der einen Seite hier die Patriarchen und dort deren Kritiker stünden. Sondern viel eher, wie schwer es für alle Beteiligten ist, die patriarchalische Logik abzuschütteln.

Ausklammern von Vieldeutigkeiten

"Manche meinen noch immer, Übergriffe könnten ja auch ein gescheiterter Flirtversuch sein. Dabei ist die Grenze ganz einfach: Nein heißt nein." Diese Sätze Lisa Kogelniks sind charakteristisch für den uneingeschränkten, der patriarchalischen Logik entlehnten Anspruch auf Deutungshoheit, der die Vielgestaltigkeit und Komplexität in der realen Annäherung der Geschlechter sowie auch die Vielfalt und Unterschiedlichkeit der Charaktere, die dabei aufeinanderprallen, nicht gelten lässt. So, als ob wir alle Computer wären und es zwischen uns keine Missverständnisse geben könnte. So, als ob gerade die erotische Annäherung dazu gemacht sei, die Dinge, bevor sie passieren, immer auf den Regeln der politischen Korrektheit entsprechende Art und Weise abzuklären.

Eine Frage, die hier komischerweise nie gestellt wird – obwohl das doch eigentlich jeder Mensch, wenigstens in seinen jungen Jahren, erfahren haben muss: Ist nicht die erotische Annäherung der Geschlechter aneinander diejenige Dimension, in deren Wesensart es geradezu liegt, dass sie von einer durchaus im existenzialistischen Sinne fundamentalen Unsicherheit gekennzeichnet ist, durch diesen Moment etwa des ersten Kusses oder der ersten Berührung, kurz, durch das Wagnis dieses einen bestimmten Augenblicks, wo man "es" riskiert, obwohl man es nicht so genau wissen kann, ob der andere wirklich will, dass man ihn jetzt anruft, dass man ihm ein SMS schreibt, sich mit ihm trifft, sich neben ihn setzt und dann endlich auch noch weiter geht?

Kampf um Diskursmacht

Wenn es anders wäre, dann wäre es ja im Grunde auch merkwürdig. Dann lebten wir in einer planwirtschaftlichen Realität, in der alles immer schon feststünde und alles ein klares Spiel wäre. Das ist es aber nie. Auch wenn die Geübteren das versichern.

Das sind im Übrigen genau jene Machos, von denen die Feministinnen doch gleichzeitig behaupten, dass sie sie ablehnen. Hier aber treffen sie sich merkwürdigerweise in der Weltanschauung sozusagen durch die Hintertür. An Ambivalenzen, Vieldeutigkeiten, Unsicherheiten und Missverständnisse glauben beide nämlich nicht. Machos und Feministinnen, sie beide beanspruchen auf oft nicht unähnliche Weise für sich Diskursmacht und absoluten Durchblick. Pointiert ausgedrückt: Wenn Männer à la Weinstein und militante Anhänger von #MeToo etwas gemeinsam haben, dann, dass die Realität für sie klar und eindeutig definiert ist. Widersprüche lassen sie nicht an sich heran. Grauzonen gibt es für sie nicht.

Ein Beispiel

Während meines Aufenthalts im vergangenen Sommer auf einer griechischen Insel ist dort ein junger Grieche gegen den Willen einer jungen Frau – ebenfalls Griechin – in ihr Zelt eingedrungen und hat sich auch auf ihre Aufforderung hin geweigert, es sogleich zu verlassen. Stattdessen bestand er darauf, ihr zuerst zu erklären, wie sehr sie ihm gefiel, bevor er das Zelt endlich enttäuscht verließ. Das Ergebnis: Überall im Ort hingen plötzlich (in griechischer Sprache) Zettel: "X (Nennung seines vollen Namens) ist ein Vergewaltiger." Diese Papiere wurden freilich entfernt. Daraufhin sprayten die Aktivistinnen auf Mauern: "X ist ein Vergewaltiger." Ein Vergewaltiger, der sein vermeintliches Opfer nicht einmal berührt hat? Sogar die Frau selbst und die Aktivistinnen erzählten die Geschichte nicht anders. Trotzdem blieb es für sie dabei: "X ist ein Vergewaltiger."

Dessen ungeachtet könnte man nun mindestens zwei verschiedene Perspektiven zu diesem Vorfall einnehmen. Entweder ist der junge Mann ein patriarchalisches Monster, das einfach seine Herrschaft ausüben wollte und eine junge Frau belästigt hat. Das wäre ohne Zweifel die #MeToo-Erzählung, die es hierzu geben würde. Oder aber es ist ein Bursche, dem in seiner Unbeholfenheit schlicht kein anderer Weg eingefallen war, um mit dem Mädchen in Kontakt zu treten. Dann müsste man im Grunde fast Mitleid mit ihm haben. Das wäre allerdings eine Sichtweise, die von den #MeToo-Anhängern ohne Zweifel als "Verharmlosung" ausgelegt würde.

Angebracht wäre hier die Frage an sie, ob es wirklich ausreichend oder nicht ganz im Gegenteil wenigstens ebenso patriarchalisch und mittelalterlich ist, den Burschen gleichsam auf den Schandwagen zu stellen. (Ortwin Rosner, 14.11.2017)