Eine Demonstration gegen Sozialdumping vor der Europäischen Kommission in Brüssel im April. Im Vergleich mit Japan oder den USA ist die EU jedoch durchaus sozial, meinen die Autoren.

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Zentrale Ziele der EU sind die Kohäsion, also der Zusammenhalt, und die Konvergenz, also die wirtschaftliche Annäherung der EU-Staaten. Grundlagen der EU sind die vier Grundfreiheiten und eine Umverteilung von reicheren zu ärmeren Ländern. Damit setzt die EU dort an, wo die größte Ungleichheit besteht, nämlich zwischen den EU-Staaten.

Einkommen sind in der EU genauso ungleich verteilt wie in den USA: In den USA sind die Unterschiede zwischen den Bundesstaaten gering, innerhalb der Gesellschaft groß. Hingegen sind die Gesellschaften in den EU-Staaten relativ egalitär, aber die Unterschiede zwischen den Staaten sind groß. Zu Kaufkraftparitäten verdienen Holländer und Österreicher fast dreimal so viel wie Bulgaren.

Lebensstandards angeglichen

Dabei haben sich die Lebensstandards in der EU im Langzeitvergleich angeglichen. Alle neuen EU-Staaten haben seit ihrem Beitritt stark aufgeholt. Das galt bis zur Krise auch für Spanien und Griechenland.

Das ist auch Folge der EU-Politik: Der Binnenmarkt schafft Größenvorteile und macht die EU als Ganzes wettbewerbsfähig. Die Umverteilung über die diversen EU-Fonds stärkt die strukturschwachen Länder. Die Arbeitnehmerfreizügigkeit ermöglicht eine Arbeitsmigration, die die Arbeitsmärkte ärmerer und krisengeschüttelter Länder entlastet.

Auch das Sozialmodell der EU-Staaten selbst ist durch dichte Gesetzgebung, hohe Sozialausgaben und massive Umverteilung geprägt. Denn auf die EU entfallen sieben Prozent der Weltbevölkerung, 23 Prozent des Welt-Bruttosozialprodukts und circa 50 Prozent der globalen Sozialausgaben.

"Säule sozialer Rechte"

Trotz dieses klaren Befunds sieht die EU-Politik nach Jahren, die in manchen Ländern durch Krisen und Sparmaßnahmen geprägt waren, sozialen Nachholbedarf. Daher proklamierten die EU-Staats- und Regierungschefs am 17. 11. feierlich die "Europäische Säule sozialer Rechte". Sie soll faire und gut funktionierende Arbeitsmärkte und Sozialsysteme unterstützen und ein "Kompass für bessere Arbeits- und Lebensbedingungen in den Mitgliedstaaten" sein. Die Säule wird die Mitgliedstaaten verpflichten, über Fortschritte bei den Rechten und Prinzipien der Säule im Rahmen des Europäischen Semesters zu berichten.

Grundsätzlich stellen sich in fast allen EU-Ländern dieselben sozialen Herausforderungen:

  • mehr Menschen aller Altersgruppen im Arbeitsmarkt unterzubringen,
  • das Pensionsantrittsalter entsprechend der Lebenserwartung anzuheben,
  • eine nachhaltige demografische Entwicklung,
  • den richtigen Mittelweg zwischen flexiblen und sicheren Arbeitsverträgen zu finden,
  • den Faktor Arbeit steuerlich zu entlasten,
  • Bildung und lebenslanges Lernen etwa im Hinblick auf die Digitalisierung zu verbessern.

Es gibt kein Patentrezept, stets ist zu prüfen, wo einheitliche EU-Standards sinnvoll sind und wo nicht: Der Binnenmarkt mit den vier Grundfreiheiten stärkt nicht nur die EU, sondern wirkt auch sozial. Eine Einschränkung insbesondere der Personenfreizügigkeit wäre daher kontraproduktiv. Doch sind auch die Regeln flächig durchzusetzen, vor allem die Lohnstandards vor Ort!

Mehr Europa bei Asyl

Auch das umfangreiche EU-Recht für den Arbeitnehmerschutz ergibt Sinn, da es hier um objektivierte Standards für die Gesundheit von Arbeitnehmern geht. Hingegen sollte im Arbeits- und Sozialrecht im Einzelfall geprüft werden, ob es nicht national bleiben sollte. Denn es handelt sich hier um historisch gewachsene Materien, die fest mit den Institutionen und Traditionen eines Landes verbunden sind. Mehr Europa erfordert hingegen der Bereich Migration und Asyl.

Neben EU-Standards gibt es andere, "sanftere" Instrumente, etwa die Festlegung gemeinsamer Ziele und deren periodische Überprüfung. Das Europäische Semester zur Koordinierung der Wirtschaftspolitik sieht etwa Empfehlungen an die Mitgliedstaaten und ein eigenes Verfahren für Länder vor, in denen ein Ungleichgewicht festgestellt wird.

Am Europäischen Semester zeigt sich, dass Sozialpolitik auch auf EU-Ebene keine Einbahnstraße ist: Sozialer Zusammenhalt und Schutzstandards sind ebenso wichtig wie die Nachhaltigkeit der Sozialsysteme und Staatshaushalte, das Funktionieren der Arbeitsmärkte und die Behauptung der EU im globalen Wettbewerb. All dies erfordert oft soziale Einschnitte, etwa Pensions- und Arbeitsmarktreformen.

Fehlendes Bewusstsein

Fazit: Auch in der Sozialpolitik sollte die EU nur Materien regeln, die einen europäischen Mehrwert schaffen, etwa den Binnenmarkt fördern, den fairen Wettbewerb oder ein Mindestniveau im Arbeitnehmerschutz. Dabei muss einem bewusst sein, dass die EU und ihre Mitglieder im Vergleich zu den USA, Japan oder der Schweiz bereits sehr sozial sind. Doch fehlt dieses Bewusstsein bei Bürgern, Politikern und Medien. Bekanntlich wird Negatives wie die Finanzkrise und Sparmaßnahmen gern Brüssel zugeschrieben, Positives gern national "verkauft". Es ist dieses Kommunikationsdefizit, das zu EU-Verdrossenheit führt, nicht mangelnde europäische Sozialgesetzgebung. (Rolf Gleißner, Christa Schweng, 20.11.2017)