Bild nicht mehr verfügbar.

Widmete seine Studien den Ambivalenzen des Moderne-Projekts: Zygmunt Bauman war besorgter, im Ton konzilianter Weltbürger.

Foto: EPA

Wien – Seine skeptische Miene verbarg der Soziologe Zygmunt Bauman noch im hohen Greisenalter hinter einer Wolke aus Pfeifenqualm. Gäste empfing der ebenso beredte wie freundliche Mann im Reihenhaus in Leeds. Während sich drinnen der Tisch unter slawischen Delikatessen bog, brauste vor dem Fenster der Schwerverkehr vorüber.

Bauman (1925-2017), der ehedem überzeugte Kommunist, war in den 1960ern aus Polen nach Israel emigriert. Mit dem Ideengut des Zionismus konnte er sich, obwohl Jude, nie recht anfreunden. Den Antisemitismus kannte er nur zu gut aus eigenem Erleben. Eine judenfeindliche Kampagne der Kommunisten machte Bauman nolens volens zum Weltbürger.

Der Ruf an die University nach Leeds 1971 erreichte ihn zum passenden Zeitpunkt. Seine Studien widmete er fortan den "Ambivalenzen der Moderne". Das Versprechen des Moderne-Projekts, die Menschen von ihrer Gängelung durch Herrschaft und Konsum zu erlösen und sie von jeder Bevormundung zu befreien, nahm er beim Wort. Den Panzer von Begründungen, warum dem Individuum gerade in der Globalisierung seine soziale Bindungsfähigkeit abhandengekommen sein soll, sprengte er behutsam auf.

In einem Gesprächsband mit dem Peter Haffner zog Bauman, wenige Monate vor seinem Tod im Alter von 91 Jahren, Abschiedsbilanz. Deren Motto bildet den Titel dieser "Tour d'horizon": Das Vertraute unvertraut machen. Wie immer konziliant im Ton, findet dieser Sokrates der praktischen Vernunft klare Worte zum unhaltbaren Stand der Dinge: das Band der Vermittlung scheint durchgeschnitten. Von Instanzen der Deregulierung maßgeblich unter Druck gesetzt, flüchtet das freigesetzte Subjekt zurück ans wärmende "Stammesfeuer" ethnischer Vergemeinschaftung. Nie war der Mensch potenziell freier in unseren Breiten, nie aber auch bindungs- und haltloser. Längst sei die Politik gegenüber den Interessen der entfesselten Ökonomie zur Statur eines nationalstaatlich verfassten Zwergs geschrumpft.

Nobler Zerstörer

Bauman ist als Gesprächspartner der nobelste Zerstörer von Illusionen. Ein roter Faden zieht sich von Karl Marx über Antonio Gramsci, das italienische Genie der Ideologiekritik, hin zum Greis aus Leeds. Die Menschen sind trotz aller nett gemeinten Aufforderungen zum Handeln nicht imstande, ihre Geschicke selbst in die Hand zu nehmen: Immer raffinierter tarnen sich die Instanzen von Repression und Ausbeutung als Impulsgeber einer Freiheit, die den Einzelnen mit sich und der Welt überfordert, verzagt und ausgelaugt zurücklässt.

Titanisch daher die Aufgabe der Sozialwissenschaft heute. Sie darf den Zusammenschluss, die "Globalisierung oder Kosmopolitisierung" von Finanzwesen, Industrie, Handel, Wissen und Kommunikation freudig begrüßen. Sie muss sich aber einen Reim auf die Tatsache machen, dass die postmoderne Ethik jede Form von Verantwortung für ein gelingendes Leben an das schwache, mit sich allein gelassene Einzelwesen delegiert, das vor der Aufgabe steht, ein einheitliches Selbstbild von sich zusammenzuschweißen.

Bauman, jeder Phrase abhold, legt unter solchen Bedingungen die Aufgabe sozialwissenschaftlichen Wissenserwerbs betont nüchtern fest. Konfrontiert mit den nebelhaften, extrem obskuren "extraterritorialen Welten" um sie herum, hat die Soziologie über neue Vergemeinschaftungsformen lebhaft nachzudenken. Das "Netzwerk", meint Bauman, sei in diesem Zusammenhang keine Lösung. Facebook, Instagram etc. seien vor allem virtuelle Spiegelsäle, in denen man reflexhaft den Ebenbildern seiner selbst begegne. Wiederum entfällt das Hauptelement sozialer Gestaltung: die Moderation von bereichernder Ungleichartigkeit.

In Retrotopia nahm er ein letztes Mal das Phänomen der Entsolidarisierung in den Blick. Längst stellt die Ungleichverteilung der Güter alle bisherigen Ungerechtigkeiten in den Schatten. Hinsichtlich der Flüchtlingsströme erstaunt Bauman die Weigerung der Menschen, angesichts umfassender Globalisierung Kosmopoliten, also "Weltbürger", sein zu wollen. Unbehaust in ihrer Existenz, würden sich die zur Gestaltung ihrer eigenen Existenz verdammten Stiefkinder der "flüssigen" Moderne immer häufiger auf eine nebulöse Vergangenheit im Schoß von Stämmen und Nationen besinnen. Doch der Blick zurück ins vermeintliche Paradies trübt höchstens – die Urteilskraft. Und so ruft Bauman ausgerechnet einen Vertreter des religiösen Flügels zum Gewährsmann der Empfehlung auf, den Dialog mit dem anderen unter allen Umständen zu suchen: Papst Franziskus. (Ronald Pohl, 27.11.2017)