The Blind Boys of Alabama. 2001 veröffentlichten sie ihr erstes Album auf dem Label Real World: "Spirit of the Century".

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"Unknown Pleasures" berücksichtigt selbstverständlich den Advent, muss ja. Wo kämen wir denn hin, würden wir uns himmlischen Klänge verschließen? Das dieses Mal besprochene Album drängt sich da nachgerade auf und befeuert so manch hüftsteifes Adventsingen auf eine Art, die die katholische Kirche lange und teils bis heute als antiintellektuell, animalisch und also des Teufels einstuft(e).

Die zu besprechende Kunst wäre Gospel, das zu lobpreisende Album heißt "Spirit of the Century". Es wurde 2001 von den Blind Boys of Alabama veröffentlicht, auf Peter Gabriels Label Real World.

Nicht nur ein Popstar sein

Ich habe Gabriel 2002 im Rahmen eines Virgin-Records-Jubiläums in München interviewt. Zuerst ging es um sein Album "Up", doch bald sind wir auf Real World und die Blind Boys gekommen. Da kam er richtig in Fahrt, und das mündete in dem schönen Satz: "Ich will unentdeckte, originäre Musik zugänglich zu machen. Das ist eine befriedigendere Arbeit, als zu versuchen, ein Popstar zu bleiben."

Dann haben wir von den Blind Boys geschwärmt und uns gegenseitig versichert, wie unfassbar deren Stimmen seien. Denn um die Stimmen geht es. Die sind zwischen Tenor und Kellerbass angesiedelt, dazu kommen die Jahre.

Die älteste Band der Welt

Denn die Blind Boys gelten als älteste Band der Welt, erste Aufnahmen datieren aus dem Jahr 1948. Ihre Stimmen reflektieren dieses lange Leben im Gospelzirkus, sind brüchig und dennoch voller Kraft und emotionaler Herrlichkeit. Sie tragen das Erbe der Segregation und das der Befreiung davon in sich. Und die Hoffnung, den Antrieb dieser Kunst.

Gegründet wurde die Formation 1939. Da hat ein Mick Jagger noch vier Jahre lang keinen Schnaufer getan. Formiert haben sie sich im Alabama Institute for the Negro Blind in der Kleinstadt Talladega, einer 1858 gegründeten Schule für blinde und taube Kinder.

Gospeltreu

Bereits in den frühen 1950ern feierte die Formation größere Erfolge und tourte durch die USA. Das Cover von "Spirit of the Century" erinnert an diese Zeit. Auch als Soul das kommerziell erfolgreichere Modell für afroamerikanische Musik wurde, blieben sie Gospel treu. Die Gründungsmitglieder Jimmy Carter und Clarence Fountain sind bis heute aktiv.

Das Cover von "Spirit of the Century".

"Spirit of the Century" ist das erste (und beste) ihrer vier Real-World-Alben. Den Begriff Gospel großzügig auslegend, spielen sie einen Mix aus Traditionals wie "Amazing Grace", "Run For a Long Time" oder "Motherless Child" sowie Songs von Tom Waits oder Ben Harper.

Die Begleitband besteht aus Kapazundern wie John Hammond, David Lindley, Charlie Musselwhite oder dem Stehbass-Star Danny Thompson. Sie alle spielen nur das Nötigste, lassen die Stimmen der Blind Boys glänzen.

Jesus kommt bald

Die eröffnen das Album mit "Jesus Gonna Be Here". Die brüchige Stimme von Clarence Fountain führt in den Song wie ein Hirte seine Schäfchen auf die Weide begleitet. Und wenn dann die Band einsetzt, reißt der Himmel auf, ein Zucken fährt in die Hüfte.

The Blind Boys of Alabama:
"Jesus Gonna Be Here".
bioeag

Damit ist der Tonfall des Albums gesetzt. "Spirit of the Century" besticht mit einer ökonomischen Eleganz und einer warmen und intimen Produktion, die für die Botschaft des Herrn oft den Mantel des Blues schultert, die Grenzen sind da fließend, die Jungs am Mikro können alles.

Drum and Bass in der Kirche

Wobei, und das ist eine der Qualitäten dieser Musik, man muss kein gläubiger Mensch sein, um sich in dieser Kunst wohlzufühlen. Sie vermittelt eher eine universelle Botschaft, und die Demut der Band holt dabei das Beste aus ihr hervor.

Der Song "Run For a Long Time" erscheint in diesem Licht wie pures Gold. Die Stimme von George Scott kommt daher wie Güterzug, tief und schnittig, sie prägt und trägt den Song. Mehr als Thompsons Bass und das Schlagzeug braucht es nicht als Begleitung: Drum and Bass mit himmlischer Message.

Drum and Bass auf himmlischer Mission.
Afra Bass

Der bekannteste Sopng aus dieser ist "Way Down in the Hole" geworden. Das ist die zweite Coverversion von Tom Waits hier, die durch ihren Einsatz als Signation in der HBO-Serie "The Wire" berühmt wurde, ein Killer.

"Way Down in the Hole" – bekannt als Signation in einer Staffel der HBO-Serie "The Wire".
Inovix

Die Blind Boys hatten zu der Zeit gerade einen Lauf. Im Jahr darauf läutete das Telefon. Joe Henry war dran und lud sie ein, seinem damaligen Pflegekind hinten im Chor ein wenig auszuhelfen. Mit Solomon Burke nahm Henry damals gerade dessen Welteroberungsalbum "Don't Give Up on Me" auf, die Blind Boys setzten sich zu ihm, alte Freunde, darf man annehmen, und jubilierten mit ihm durch "None of Us Are Free".

Burke und die Blind Boys.
Besser geht's nicht.
antirecords

Seit damals haben die Blind Boys of Alabama, mittlerweile auch mit sehenden Mitgliedern in ihren Reihen, zumindest 15 weitere Alben veröffentlicht, alle auf Real World sind gut, jenes, das Ben Harper mit ihnen veröffentlicht hat, kann man ebenfalls ohne Scheu kaufen.

Say Amen, Somebody

Zart off topic sei noch ein Album erwähnt, das ich eigentlich hier einmal vorgestellt hätte, von dem aber (fast) nichts auf Youtube zu finden ist: "Say Amen, Somebody". Das ist der Soundtrack zur gleichnamigen Doku von George T. Nierenberg aus dem Jahr 1982 über die Gospelsänger Thomas A. Dorsey und Willie May Ford Smith. Die Doku ist aber mehr: Sie ist ein Erklärstück über Gospel und seine individuelle und gesellschaftspolitische Bedeutung in den USA.

Die Viennale hat sie vor vielen Jahren einmal gezeigt, der Soundtrack dazu, aufgenommen in afroamerikanischen Kirchen, zählt, wie ich finde, zum Besten, das es in diesem Fach gibt, und da gibt es einiges. So sieht das Cover aus:

Wer jemals in einer richtigen, afroamerikanischen Messe war, dabei war, wenn üppigen Damen und Herren in der Sonntagsgala Tränen der Ergriffenheit über die Backen gekullert sind, während die Band unter der Führung der Hammond-Orgel und der Chor sich zur gemeinsamen Botschaft verbrüderten, weiß, wovon ich spreche. In diesem Sinne: Amen. Somebody muss es ja sagen.! (Karl Fluch, 5.12.2017)