Architektur, sagt er, ist wie Porträtmalerei. "Der Erfolg hängt nicht nur vom Können des Künstlers ab und auch nicht nur von der Fähigkeit, sich auszudrücken, sondern immer auch von der Gabe, die Persönlichkeit, den Charakter, die Seele seines jeweiligen Gegenübers einzufangen. Weißt du, was ich meine?" So ähnlich sei das auch mit dem Bauen. "Ein gutes Porträt sagt mehr über das Motiv als über den Maler aus. Und ein gutes Haus verrät mehr über seinen Bauherrn sowie über seine Wünsche und Träume als über den dahinterstehenden Architekten. Genau das ist es, was ich sagen will."

So ganz möchte man dem jungen Herrn sein unprätentiöses Understatement nicht abkaufen. Dafür beherrscht der erst 43-jährige Däne, der schon etliche Projekte in Dänemark und in seiner Wahlheimat USA realisiert hat und derzeit eine ganze Reihe an Baustellen in den Schweizer Bergen, im Silicon Valley und auf den Bahamas betreibt, die Klaviatur der Selbstvermarktung zu gut. Die beiden 3D-gedruckten Miniskulpturen neben dem großen Original (siehe Foto) machen sein Talent anschaulich. Bjarke Ingels, Chef des so vielsagend pointierten Architekturbüros BIG (die Abkürzung steht für Bjarke Ingels Group), zählt aktuell zu den größten und gehyptesten Architekten der Welt.

Foto: KT Auleta

Die Grenzen des Normalen verschieben

Für Google plant er gerade Campusbauten in Charleston, South Carolina, sowie in der San Francisco Bay Area. Für die Regierung der Vereinigten Arabischen Emirate macht er Studien für die Errichtung einer Mars Science City auf dem roten Planeten. Für das Kopenhagener Entsorgungsunternehmen ARC errichtet er eine Müllverbrennungsanlage mit öffentlich zugänglicher Skipiste auf dem Dach.

Video über "Amager Bakke", die Müllverbrennung mit Skipiste.
Babcock & Wilcox Vølund A/S

Und so ganz nebenbei begeistert er den Hardcore-Immobilieninvestor Larry Silverstein für seine Pläne für das neue 2 World Trade Center auf dem heiß umkämpften Ground Zero – und schafft es damit sogar, einen alteingesessenen Meister wie Norman Foster aus dem Rennen zu kicken.

Das sich wie ein Windsegel zum Hudson River aufspannende Wohnhaus in der West 57th Street wurde mit dem Internationalen Hochhauspreis ausgezeichnet.
Foto: Nic Lehoux

"Menschen werden von Gewohnheiten regiert", sagt Ingels. "Doch wir bei BIG versuchen, mit jedem Projekt die Grenzen des Normalen zu verschieben und das Außergewöhnliche aus dem Gewöhnlichen zu holen. Es geht darum, die Welt besser zu machen, und zwar nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch." Sein Ziel ist die Erschaffung einer Traumwelt. Oder zumindest seiner Vorstellung einer Traumwelt ein Stückchen näher zu kommen. Er selbst bezeichnet diesen Ansatz als "hedonistic sustainability", als eine Nachhaltigkeit, die sich im Gegensatz zu all den ökologischen und ökonomischen Zwängen, denen das Bauen heute unterliegt, zuallererst auf Lebensqualität und Lebensgenuss konzentriert.

Beim Omniturm in Frankfurt am Main dürfte ein Aktenstapel leicht verrutscht sein.
Foto: BIG

Höhlen und Bäume

"Architekten stehen am Anfang einer Gesellschaft, die sich selbst zur Welt bringt", erklärte er vor einigen Jahren im Interview mit dem "Spiegel". "Sie sind wie Hebammen. Sie sind Geburtshelfer für eine Gesellschaft, die sich neu erschafft." Denn anders als unsere Vorfahren, die ihr Leben noch ohne Werkzeuge und Technologien meistern und mit Höhlen und Bäumen vorliebnehmen mussten, müsse man die Welt – sagt Ingels, der sich selbst als rationalen Optimisten bezeichnet und mit Leidenschaft Darwins Evolutionstheorie zitiert – heute keineswegs mehr so akzeptieren, wie sie ist. "Man kann sie auch besser machen."

Bjarke Ingels' Worte haben etwas Naives, etwas Verspieltes, etwas zutiefst emotional Ansprechendes. Und entsprechend wohlwollend konsumierbar sind seine Bauten, die er realisiert hat beziehungsweise in den nächsten Jahren noch in die Welt werfen wird.

Das kürzlich eröffnete Lego House in Billund, Dänemark, wurde aus XXL-Bausteinen zusammengesetzt.
Foto: Kim Christensen

Für den dänischen Spielzeughersteller Lego errichtete er in Billund das Lego Experience Center, kurz Lego House. Die Kernkompetenz seines Auftraggebers nahm er dabei wortwörtlich, denn Lego steht für "leg godt", auf Deutsch so viel wie die Einladung, gut zu spielen. Und tatsächlich wirkt der 12.000 Quadratmeter große Neubau – eine Mischung aus Museum, Spielplatz, Shop und Café – wie ein schnell zusammengebauter Haufen aus klassischen Lego-Bausteinen. Die Dächer sind farbig gehalten und dienen als begehbare Terrasse, hinter den charakteristischen Noppen am Dach verbergen sich runde Fenster, die die darunterliegenden Ausstellungsräume mit Tageslicht fluten.

Auch das 2 World Trade Center hat auf den ersten Blick etwas von übereinandergestapelten Boxen. Wo sich üblicherweise ranke, schlanke, sich nach oben verjüngende Türme finanzpolitischer Macht tummeln, schlug Ingels am Rande des Ground Zero einen 408 Meter hohen Glasturm vor, der so aussieht, als würde er aus sieben unterschiedlichen Kisten bestehen, die nach oben hin immer kürzer, dafür aber auch immer breiter werden. Was im Osten eine Fassade mit attraktiven Aussichtsterrassen mit Blick auf Brooklyn und Manhattan ergibt, entpuppt sich auf der Nordseite als halsbrecherische Konstruktion, die sich mit jedem Sprung um einige Meter weiter über den Abgrund eines ganz und gar ungestützten Luftraums schiebt.

Das 408 Meter hohe 2 World Trade Center am Ground Zero schiebt sich Stück für Stück immer weiter über den Luftraum Manhattans.
Foto: DBOX

"Nichts ist unmöglich", sagt der Herr mit den zerzausten Haaren und dem spitzbübischen Charme, der bereits mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet wurde, auch mit dem Goldenen Löwen auf der Architekturbiennale in Venedig. Abgrundtief dynamisch geht es auch in Kopenhagen zu. In unmittelbarer Nähe zu einem neuen Ikea-Markt in Vesterbro plant er zwei dramatisch geformte Wohntürme, die sich wie eine stachelige Skulptur um die eigene Achse zu drehen scheinen.

Und in den stacheligen Kaktus Towers in Kopenhagen-Vesterbro werden rund 500 Kompaktwohnungen für junge Menschen und Studierende Platz haben.
Foto: BIG

"Bjarke Ingels ist der unangefochtene König des architektonischen Einzeilers", schreibt Oliver Wainwright, Architekturkritiker der britischen Tageszeitung "The Guardian". "Den meisten Architekten widerstrebt das zutiefst, denn sie sehnen sich nach komplexeren, nach profunderen Metaphern. Aber ihm ist das egal. Er macht seine Gesten und Denkprozesse transparent und spielt damit auf fast schon kindische Weise." Während die Fachwelt ob dieser inszenierten und abgefeierten Oberflächlichkeit die Nase rümpft, sind die meisten Bauherren genau darüber entzückt. Sie schätzen die direkte Art des Dänen und freuen sich, seine Zitate lesen zu können, seine Symbole zu verstehen.

"Als Kind wollte ich immer Comic-Zeichner und Buchillustrator werden", erzählt Ingels, der an der Königlichen Kunstakademie in Kopenhagen studierte und sich zu Beginn vor allem auf das Medium Zeichnung konzentrierte. "Mit der Zeit merkt man jedoch, dass in den meisten Comics und Graphic Novels fast nur Menschen und Tiere vorkommen. Die Architektur fehlt komplett. Also habe ich beschlossen, genau das zu studieren." Doch die Liebe zu den Bildern ist unverändert: Mit seinen beiden Bildbänden "Hot to cold" und "Yes is more" hat Bjarke Ingels zwei Buchtrümmer auf den Markt gebracht.

Ein Spiel mit Kuben und Klötzchen. Die Wohntürme Grove at Grand Bay in Miami scheinen einen großstädtischen Hüftschwung hinzulegen.
Foto: Rasmus Hjortshoj

"Die großen Zeiten brechen gerade erst an", sagt er. "Wir haben noch nicht einmal richtig angefangen." Dabei scheinen sich die aktuellen Projekte förmlich zu überschlagen. Das Wohnhochhaus VIA in der West 57th Street, das sich wie ein geblähtes Segel mit ausgestanztem Innenhof zum Hudson River aufbauscht, reizt die New Yorker Bauvorschriften und Immobilienstandards bis zum Maximum aus und bereichert die Skyline Manhattans um eine noch nie da gewesene Hochhauspyramide. Hinter dem bürokratischen Spagat steckt die Mission, die Aussicht auf den Fluss so vielen Bewohnern wie nur möglich zu bieten. Das Projekt wurde mit dem Internationalen Hochhauspreis 2016 ausgezeichnet. Hinzu kommen etliche abenteuerlich geformte Hochhäuser in Frankfurt, Toronto und Vancouver.

Das Dach des Wohn- und Bürohauses in der King Street West, Toronto, mutiert zum innerstädtischen Park mit Aussicht.
Foto: BIG

Vakuum

Doch das mit Abstand rasanteste Projekt seiner bisherigen Laufbahn ist der sogenannte Hyperloop One, den Ingels in Zusammenarbeit mit den VAE entwickelt. Auf der 150 Kilometer langen Strecke zwischen Dubai und Abu Dhabi soll eine vakuumgefüllte Röhre errichtet werden, in der kleine Passagierkapseln auf bis zu 1.200 km/h beschleunigen. Damit reduziert sich die Reisezeit zwischen den beiden Wüstenmetropolen auf weniger als eine halbe Stunde. Derzeit laufen Tests im Miniaturformat. Die technischen Hürden sind enorm. Eine Vision?

"Architektur ist ein hypothetisches Experiment", sagt Bjarke Ingels mit einem Grinser im Gesicht und einem Vodka Soda in der Hand. "Wir nutzen unser Denken zum Analysieren und Ausprobieren. Und wenn wir nicht mehr höher kommen, müssen wir halt springen. Und wenn wir nicht mehr weiter kommen, müssen wir halt Vollgas geben." (Wojciech Czaja, RONDO Open Haus, 26.2.2018)

"Architektur ist ein hypothetisches Experiment. Wir müssen höher und weiter kommen", sagt Ingels. Das Vancouver House ist bereits in Bau und ragt waghalsige 30 Meter über den Highway hinaus.
Foto: BIG Luxigon

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