Eine Olivenölspirale, Eisrosen mit Whiskeygeschmack oder Melonenkaviar – dies waren nur ein paar berühmt-berüchtigten Gerichte aus der Blütezeit der molekularen Küche, die Anfang des neuen Jahrhunderts so manchen Gaumen verzaubert und so manchen Gast in ungläubiges Staunen versetzt hatten. Dekonstruktion, Rekonstruktion, Dekontextualisierung von Lebensmitteln war in aller Munde. Die molekulare Küche hatte in kurzer Zeit in der Gastronomie eine Nische im Hochpreissegment besetzt. Die Wartezeit im besten Restaurant der Welt, dem El Bulli in Roses, Spanien betrug zu seinen Hochzeiten bis zu einem Jahr oder sogar noch länger. Doch für 30 Gänge an einem Abend lohnte sich die Wartezeit.

Seit einigen Jahren ist der Hype um die molekulare Küche verblasst. Waren es die technische Exzesse in der Küche, die ihr Ende besiegelten? War alles nur heiße Luft oder gar nur ein Beitrag zur Unterhaltungskultur in der Gastronomie? Totgesagte leben aber bekanntlich länger, als man glaubt, denn wenn Kochkunst auf Wissenschaft trifft, entstehen oft exotische Blüten.

Durchsichtige Gelee-Ravioli.
Foto: Geschmackslabor

Die Anfänge

Alles begann mit zwei Forschern, die passionierte Hobbyköche waren: Nicholas Kurti, ein bekannter Tieftemperaturphysiker, der sogar am Bau der ersten Atombombe mitwirkte, hielt 1969 vor der Londoner Royal Society einen außergewöhnlichen Vortrag: "The physicist in the kitchen". Er stellte dem Auditorium die jetzt mittlerweile schon berühmte Frage: “Wieso wissen wir alles über die Temperatur im Inneren eines Sterns, aber so gut wie nichts über die Temperatur im Inneren eines Soufflés?" Der Begriff der "gastrophysics" wurde kurz danach geprägt.

Hervé This-Benckhard, ein Physiko-Chemiker aus Frankreich, war der andere Teil dieses dynamischen Duos, das die Kochwelt revolutionieren sollte. Beide begannen systematisch Arbeitsanweisungen und Zubereitungsempfehlungen in Kochrezepten wissenschaftlich zu überprüfen.

Die Zusammenarbeit mit verschiedenen Küchenchefs hatte ihren Höhepunkt in einem Treffen in Erice auf Sizilien 1992, wo ein reger Austausch zwischen den Wissenschaftern und verschiedenen Küchenchefs stattfand. Einer von ihnen war Ferran Adrià. Hervé This-Benckhard veröffentliche kurz darauf zwei populärwissenschaftliche Bücher, "Révélations gastronomiques" (1993) und "Les secrets de la casserole" (1995), welche wissenschaftliche Fragestellungen aus der Küchenphysik und Chemie verständlich aufbereiteten. Zusätzlich enthielten die Bücher Rezepte zum Nachkochen, inklusive Erklärungen der Kochvorgänge auf molekularem Niveau.

Thaisuppe in verschiedenen Aggregatszuständen.
Foto: Geschmackslabor

Eigentlich ist alles Kochen molekular, weil die Zubereitung unserer Lebensmittel immer mit physikalischen und chemischen Veränderungen einhergeht. Moderne Techniken hielten immer wieder Einzug in die Küche, wenn auch nicht so augenscheinlich wie in den Restaurants, in denen molekular gekocht wurde. Dieser neue Küchenstil basierte auf dem wissenschaftlichen Verständnis von Zusammenhängen der Chemie und der Physik im Zuge der Speisenzubereitung. Dadurch konnten neue, ungewöhnliche oder verrückte Kreationen geschaffen werden. Ein besonderes Highlight war zum Beispiel die Taschenuhr des weißen Kaninchens, die Heston Blumenthal für ein "Alice im Wunderland"-Festmahl entwickelte. Die Taschenuhr, fein mit Blattgold überzogen, übergoss man am Tisch mit heißem Wasser und hatte kurze Zeit später eine kräftige und wohlschmeckende Consommé vor sich.

Aber nicht nur Wissenschafter wurden zu willkommenen Kooperationspartnern von Spitzenköchen. Heston Blumenthal, einer der bekanntesten Molekularköche der Welt, hielt 2005 einen Vortrag über seine Kochtechniken im Rahmen des Pangborn Sensory Science Symposiums, dem weltweit wohl größten Sensorikkongress. Mit seiner TV-Serie "Kitchen Chemistry" brachte er einer breiten Öffentlichkeit die Prinzipien der molekularen Küche näher. Er war es auch, der den Tod der Molekularküche verkündete, als die vielen exotisch anmutenden Techniken in den normalen Küchenalltag übernommen worden waren. 2011 schloss Ferran Adriàs El Bulli.

Alles was bleibt

In der gehobenen Küche ist molekular zu kochen weitgehend out. Ausnahme sind Spitzenrestaurants wie etwa El Celler de Can Roca in Girona oder das Alinea in Chicago. Ferran Adrià beschäftigt sich derzeit mit der Zusammenstellung einer Art Universallexikons der menschlichen Ernährung und Kochkunst. Archäologen, Kunsthistoriker, Mediziner und Kulturwissenschafter arbeiten in diesen Bereichen mit ihm zusammen. Wohin die Reise wirklich geht, kann man derzeit noch nicht sagen.

Kryo-Tonic-Water.
Foto: Geschmackslabor

Die Frage der Nachhaltigkeit kommt auf: Was hat die molekulare Küche denn nun gebracht? Ein Vergleich mit der Formel 1 ist sehr treffend: Da fahren erwachsene Männer um die 70 Runden mit nicht alltagstauglichen Autos im Kreis. Die Sinnhaftigkeit dahinter sei dahingestellt, solange das Zusehen Spaß macht. Manche der neuen Technologien wurden für PKWs adaptiert und machen uns das Fahren nun angenehmer, die Fahrsicherheit hat sich erhöht und vieles mehr. Ähnlich verhält es sich mit der molekularen Küche: Neben dem Wissensgewinn für die Wissenschaften wurden einige Techniken wie zum Beispiel Niedrigtemperaturgaren oder Espumas in die gehobene Küche beziehungsweise sogar in manchen Haushalt übernommen. Dem Sahnesiphon für den sonntäglichen Schlagobers zum Kuchen wurde plötzlich ein völlig neuer Aufgabenbereich zu Teil – der Rote-Rüben-Dijonsenf-Espuma konnte nun auch zu Hause zubereitet werden.

Der Schweizer Kreativkoch Rolf Caviezel arbeitete mehrere Jahre in einem Altenheim. Er begann die Speisenfolgen der Bewohner vermehrt mit Espumas und Gele zu bereichern und bekam viel positives Feedback. Zusammen mit dem führenden Geschmacksforscher im deutschsprachigen Raum, Thomas Vilgis vom Max-Planck Institut in Mainz, und der Ernährungwissenschafterin Ilka Lender, schrieb er ein Buch über den Einsatz von Espumas und Gelen in der Pflege. Fernab von hippen Gastrotempeln werden hier Techniken aus der Molekularküche eingesetzt, um Menschen mit Schluckbeschwerden das Essen zu erleichtern und wieder einen kulinarischen Genuss zu ermöglichen.

Molekulare Küche in einem Unilabor?

Begonnen hat alles bei der "Langen Nacht der Forschung" anno 2009, wo am Zentrum für Molekulare Biowissenschaften an der Uni Graz den Besuchern molekularer Kaviar kredenzt wurde. Das Interesse war riesig, ebenso der Wissensdurst, wie denn aus einer Flüssigkeit plötzlich ein festes Kaviarkügelchen werden kann. Eine intensive Beschäftigung mit molekularen Kochrezepten, die damals fast nur online zu finden waren, war die Folge. Die zu dieser Zeit noch raren Kochbücher zu diesem Thema waren oft zu ungenau, um reproduzierbare Ergebnisse in der Laborküche zu bekommen. Der nächste Schritt war die Zusammenarbeit mit Köchen vor Ort und die aufregende Erforschung der Welt der Küchenphysik und -chemie.

Das Geschmackslabor Graz ist ein "wissenschaftliches Kochlabor" der Karl-Franzens-Universität Graz und wurde von Helmut Jungwirth und Fritz Treiber ins Leben gerufen, mit dem Ziel, vermeintlich komplexe Wissenschaftsbereiche wie Molekularbiologie, Mikrobiologie, Chemie oder Physik einfach und verständlich zu vermitteln.

Jahre später – wieder bei einer "Langen Nacht der Forschung" – besuchte Harry Kouba mit seinen Schülern des Abendkollegs für Fotografie der Ortweinschule in Graz das Geschmackslabor. Die molekulare Küche und die dabei entstehenden Gerichte sollten der Abschlussklasse im Bereich Foodfotografie als Fotomotive dienen. Daraus entstand eine fruchtbare Kooperation, an deren Ende nun ein Kochbuch steht.

Kräutersphären.
Geschmackslabor

In der event- und unterhaltungsgetriebenen Gastronomie mag die molekulare Küche zwar tot sein, doch ihr Geist lebt nicht nur in Form von fruchtbaren Kooperationen zwischen Küche und Wissenschaft weiter, sondern vor allem in dem schier unendlichen Kreativitätspotential, die diese Art der Zubereitung in Punkto Gestaltung, Geschmack und Textur eröffnet. (Fritz Treiber, Helmut W. Klug, 18.12.2017)

Literaturhinweise

  • Science Schmankerl - Rezepte aus dem Reagenzglas, Amalthea Signum, 2017.

  • McGee: On Food and Cooking: Das Standardwerk der Küchenwissenschaft. Matthaes 2013.

  • Myhrvold, Young: Modernist Cuisine. Die Revolution der Kochkunst: 6 Bände. Taschen 2016.

  • This-Benckhard: Rätsel und Geheimnisse der Kochkunst: Naturwissenschaftlich erklärt. Piper 2013.

  • This-Benckhard: Rätsel und Geheimnisse der Kochkunst naturwissenschaftlich erklärt. Piper 2001.

  • Vilgis, Ilka, Caviezl: Ernährung bei Pflegebedürftigkeit und Demenz: Lebensfreude durch Genuss. Springer 2015.

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