Beim Deeskalationstraining lernen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer von den Trainern Ronald Stampf (Bildmitte) und Patrick Lintner (2. von rechts), wie sie aggressiven Patienten begegnen sollen.

Foto: WIL / Martina Cerny

Befreiungs- und Abwehrtechniken wollen geübt sein, auch auf dem Boden.

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Vor allem Pflegebedienste nehmen an den Kursen teil, künftig will man auch mehr Schalterpersonal erreichen. Im Wilhelminenspital haben bisher drei Ärzte das Training absolviert.

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Wien – In ihrer ersten Arbeitswoche begann ein alkoholisierter Patient im Wartebereich laut zu werden und zu schimpfen. Diplomkrankenschwester Theresa Führer fühlte sich überfordert. "Man lernt in der Diplomschule nicht, wie man damit umgehen soll", sagt die 24-Jährige. Sie hielt sich bei dem Vorfall in der Unfallambulanz des Wilhelminenspitals in Wien-Ottakring im Hintergrund, ihr passierte nichts. Es hätte auch anders ausgehen können: Die Begleitperson eines Patienten brach einer Kollegin vor einigen Monaten das Nasenbein. Als Theresa Führer die Teilnahme an einem Deeskalationstraining angeboten wurde, sagte sie sofort zu.

Aggressive Patienten sind "zunehmend ein Thema für uns", sagt Günter Dorfmeister, Pflegedienstdirektor im Wilhelminenspital, der sich wissenschaftlich mit dem Problem befasst und die Kurse initiiert hat. Allein in der Unfallambulanz wurden bis Ende November mehr als 100 Attacken dokumentiert, rund 150 in der Notaufnahme und ein Dutzend in der Kinderabteilung. 118-mal wurden Patienten allein in der Notaufnahme körperlich übergriffig – teilten Schläge aus, traten oder bespuckten Spitalspersonal.

Kameras und Securitys

Zusätzlich werden weitere Sicherheitsmaßnahmen getroffen: Demnächst sollen Kameras die Notaufnahme überwachen. Der Haus-Security-Bedienstete erhielt bereits Verstärkung: Seit Frühjahr sind rund um die Uhr zwei Sicherheitsmänner im Spital unterwegs.

Mehr als drei Viertel der Mitarbeiter der Gesundheitseinrichtungen gaben in einer Erhebung von Dorfmeister im Jahr 2010 an, schon verbal angegriffen worden zu sein. 44 Prozent hatten tätliche Übergriffe im Beruf erlebt. Mit Abstand die meisten – und die gefährlichsten – Fälle ereignen sich in der Psychiatrie, viele auch in der Geriatrie und in Notfalleinheiten, also Unfallambulanzen und Notaufnahmen, ergab die Erhebung anhand von Fragebögen aus 138 Abteilungen von Spitälern des Wiener Krankenanstaltenverbunds (KAV) und sieben Geriatriezentren.

Meist trifft es Pflegepersonal

Die größte Wahrscheinlichkeit, Opfer eines tätlichen Angriffs zu werden, besteht – zu 80 Prozent – für den Pflegedienst. Die meisten Vorfälle ereignen sich an Dienstagen. Meist wird versucht, durch ein Gespräch zu beschwichtigen. Aggressionsauslöser Nummer eins sind laut Dorfmeisters Erhebungen lange Wartezeiten.

Manche Jahreszeit erscheint dem Personal zudem besonders herausfordernd. "Der Dezember ist ein heißer Monat. Da vergeht kein Nachtdienst ohne Patienten, die sehr, sehr viel über den Durst getrunken haben", sagt ein Arzt.

Patrick Lintner und Ronald Stampf kennen sich mit all dem aus. Die beiden diplomierten Krankenpfleger im Wilhelminenspital sind Kurstrainer für Deeskalations- und Sicherheitsmanagement. "Den Leuten fehlen die Geduld und das Verständnis dafür, dass Notfälle vorgereiht werden", sagt Lintner, der seit 19 Jahren in der Pflege tätig ist. "Jeder ist sich selbst der Nächste."

Im Spital im Ausnahmezustand

Für Mitarbeiter neuralgischer Abteilungen dauert ein Kurs fünf Tage, für andere drei. In den Theorieblöcken geht es zum Beispiel darum, Beweggründe hinter aggressivem Verhalten zu verstehen. "Im Spital sind die Menschen oft im Ausnahmezustand und angespannt", sagt Lintner. "Viele kommen mit Schmerzen, aber auch mit Ängsten, die gar nichts mit der Situation zu tun haben. Zum Beispiel, dass ihr Parkschein gleich abläuft oder ihre Kinder nicht versorgt sind", sagt Stampf. Es sei wichtig "herauszufinden, wo der Schuh wirklich drückt" und, wenn möglich, zu helfen.

In Praxiseinheiten üben die Kursteilnehmer dann auch die Abwehr tätlicher Angriffe, Befreiungs- und Abwehrtechniken sowie die richtige Körpersprache – Hände offen, Blickkontakt halten. Das könne auch bei Sprachbarrieren deeskalierend wirken. "Die sind grundsätzlich ein Problem", sagt Dorfmeister. Jede Situation lasse sich aber nicht lösen. "Wir sind alle nur Menschen. Wir können nicht alles endlos deeskalieren", gibt Lintner zu bedenken.

Von hinten gewürgt

Vor ein paar Jahren hat ein "schreiender, tobender, alkoholisierter Patient" den Pfleger von hinten gewürgt. "So jemandem werde ich nie wieder den Rücken zudrehen", sagt Lintner heute. Auch Fußtritte und Bisse musste er schon abwehren. Ronald Stampf wurde mehrmals beschimpft und bedroht.

Vor allem Pflegemitarbeiter belegen die seit fünf Jahren angebotenen Deeskalationskurse, die laut Dorfmeister auch in anderen KAV-Einrichtungen laufen. Am Wilhelminenspital nahmen bisher drei Ärzte daran teil, darunter Reza Bakhshandeh, Facharzt für Orthopädie auf der Unfallchirurgie. "Mich schützt der weiße Mantel etwas. Die Pflege ist an der Front", meint er und fordert ein Pflichttraining für alle. Bald – Ziel ist ab erstem Halbjahr 2018 – soll im KAV zumindest die Dokumentation von Aggressionsereignissen einheitlich IT-gestützt laufen. (Gudrun Springer, 29.12.2017)