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Vorab: Was war der Science-Fiction-Film des Jahres: "Blade Runner" oder "Star Wars"?

Diese Frage sollte eigentlich in die frühen 80er gehören, stattdessen stand sie 2017 im Raum – erstaunlich. Ob man das als Zeichen dafür werten darf, dass dem Genre-Kino die Ideen ausgehen, sei mal dahingestellt. Was die Phantastikliteratur anbelangt, gab es jedenfalls auch im vergangenen Jahr wieder jede Menge Originelles.

Im Folgenden eine subjektive Auswahl der besten SF- und Fantasybücher des Jahres, wie immer zweigeteilt: Zuerst einen Schnelldurchlauf durch Titel, die bereits vorgestellt wurden, samt Link zur Langrezension – daran anschließend noch einige Neuvorstellungen, die in derselben Güteklasse spielen. Wer den ersten Teil überspringen will, kommt mit diesem Shortcut gleich zu den neuen Titeln.

Foto: Sony, AP/Lucasfilm

Elan Mastai: "All Our Wrong Todays"

Gebundene Ausgabe, 577 Seiten, Thorndike Press 2017, Sprache: Englisch

Hach, morgens erfrischt aus der Schalldusche steigen und mit dem Raketenauto zum Vierstundenjob im Kernfusionslabor fliegen: Das Alltagsleben in der Zukunft, das uns einst Magazine wie "Popular Mechanics" verheißen haben, ist für Elan Mastais Protagonisten Tom die ganz normale Gegenwart. Bis er durch eine tollpatschige Zeitreise den Lauf der Geschichte ändert und das 21. Jahrhundert zu dem Elend macht, als das wir es kennen. Was als humorvolle Gegenüberstellung von Zukunftsentwürfen beginnt, entwickelt im Verlauf der Geschichte überraschenden Tiefgang: mein Lieblingsroman 2017 – und er erscheint bald auch auf Deutsch.

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foto: thorndike press

Matthias Oden: "Junktown"

Klappenbroschur, 400 Seiten, € 13,40, Heyne 2017

Mit dem Sprachdonner des jungen China Miéville fällt der deutsche Autor Matthias Oden über uns her, um uns mit einem ziemlich einzigartigen Roman zu erschlagen. "Junktown" ist sowohl ein Krimi als auch eine Dystopie Orwell'scher Prägung, in der Menschen zum Konsum harter Drogen verpflichtet sind, intime Beziehungen zu Maschinen pflegen und sich selbst zu Biomechanoiden umgestalten lassen. Man wäre ob der versammelten Düsternis erschüttert, käme man bloß mal eine Seite aus dem Staunen raus!

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Foto: Heyne

Daryl Gregory: "Spoonbenders"

Gebundene Ausgabe, 416 Seiten, Knopf 2017, Sprache: Englisch

Humorvoll, berührend, voller überraschender Wendungen und genial konstruiert: Die schönste Familiengeschichte 2017 kam von Daryl Gregory. Und es ist ja auch keine Durchschnittsfamilie: Die Mitglieder des Telemachus-Clans brachten es mal durch ihre übersinnlichen Fähigkeiten zu ein bisschen Berühmtheit, bis sie als Schwindler entlarvt wurden ... obwohl sie tatsächlich über ungewöhnliche Kräfte verfügen. Wie das zusammenpasst? Die Antwort gibt uns dieses raffinierte Puzzle um Psychokinese, Shortcuts durchs Raum-Zeit-Gefüge, ein geheimes Regierungsprogramm, die Mafia und sehr viel Herz erst ganz am Schluss.

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Foto: Knopf

Robert Jackson Bennett: "Die Stadt der tausend Treppen"

Klappenbroschur, 620 Seiten, € 11,30, Bastei Lübbe 2017 (Original: "City of Stairs", 2014)

State Building ist nicht gerade ein gängiges Fantasy-Motiv – aber dafür einer der Gründe, warum "Die Stadt der tausend Treppen" mein persönlicher Lieblings-Fantasyroman 2017 war. Robert Jackson Bennett schildert darin einen Clash der Kulturen: Die aufgeklärten Saypuri haben den Nachbarkontinent besetzt und dessen aggressiv-expansionistische Religion an der Wurzel zerstört ... indem sie die Götter töteten. Nun heißt es, aus den Trümmern eine neue Gesellschaft aufzubauen und die blutige Vergangenheit aufzuarbeiten. Und obwohl das sehr moderne Themen sind, betört uns Bennett doch mit all der Magie und Opulenz, die man sich von einem richtig guten Fantasyroman erwartet.

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foto: bastei lübbe

Tom Holt: "The Management Style of the Supreme Beings"

Broschiert, 400 Seiten, Orbit 2017, Sprache: Englisch

Eine zum Brüllen komische Religions- und Wirtschaftssatire von Tom Holt, auch bekannt als K. J. Parker: Gott ist der Welt überdrüssig geworden und hat sie an ein interplanetares Franchise verkauft. Das führt flugs ganz neue Regeln ein: Man darf jede Sünde begehen, vorausgesetzt man entrichtet die dafür festgelegte (hohe) Gebühr. In Rekordzeit bricht der Weltfrieden aus, und weil sich der bald schlimmer anfühlt als alles jemals Dagewesene, macht sich ein buntes Häuflein "Helden" daran, die alten Verhältnisse wiederherzustellen. Inklusive Gottes vergessenem Problemsohn Kevin.

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Foto: orbit

Ian McDonald: "Luna. Wolfsmond"

Broschiert, 496 Seiten, € 15,50, Heyne 2017 (Original: "Luna – Wolf Moon", 2017)

Die prunkvollste Soap Opera der aktuellen Science Fiction ist in die zweite Runde gegangen – und hat das Niveau gehalten. Band 1 endete mit der Auslöschung von Corta Hélio, einem der fünf Familienunternehmen, die den Mond unter sich aufgeteilt haben. Doch die überlebenden Cortas sammeln sich und machen sich bereit, zurückzuschlagen. Intrigen, Glamour und Gewalt galore, versehen mit Einschüben reinster Hard SF.

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Foto: Heyne

Martha Wells: "The Murderbot Diaries 1: All Systems Red"

Broschiert, 154 Seiten, Tor Books 2017, Sprache: Englisch

Hat man denn nicht einmal beim Binge-Watching seine Ruhe! Das menschlichste Kunstgeschöpf seit langem ist eigentlich als waffenstarrender Haudrauf konstruiert – möchte aber am liebsten den ganzen Tag lang nur TV-Serien glotzen. Als die Mitglieder einer planetaren Expedition, die er beschützen soll, angegriffen werden, sieht sich der Murderbot leider genötigt einzuschreiten. Auch wenn das bedeutet, dass sein größtes Geheimnis – er hat einen eigenen Willen! – auffliegen könnte. Teil 2 folgt im Mai.

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Foto: Tor Books

Stephen Baxter: "Das Ende der Menschheit"

Broschiert, 592 Seiten, € 17,50, Heyne 2017 (Original: "The Massacre of Mankind", 2017)

Für eine Hommage an H. G. Wells ist Stephen Baxter genau der Richtige: Er channelt den Altmeister der wissenschaftlich orientierten Science Fiction geradezu, stilistisch ebenso wie philosophisch. Den Rest hat die Sorgfalt erledigt, mit der er seine Hausaufgaben gemacht hat, um ein würdiges Sequel zu "Krieg der Welten" schreiben zu können. Die zahlreichen Querverweise aufs Originalwerk machen den Roman zum Lesevergnügen ... auch wenn die zweite marsianische Invasionswelle natürlich wieder zu einem Massaker an der Menschheit gerät.

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Foto: Heyne

Pierre Bordage: "Die Sphären"

Broschiert, 443 Seiten, € 10,30, Heyne 2017 (Original: "Les Dames Blanches", 2015)

Den härtesten Schlag in die Magengrube hat uns 2017 wohl Pierre Bordage mit seinen "Sphären" beschert. Abertausende außerirdische Objekte landen auf der Erde und lassen nur Kinder in ihr Inneres. Es dauert nicht lange, bis jemand auf die Idee kommt, die Kinder als lebende Bomben einzusetzen ... In ernüchternder Weise beschreibt Bordage, wie eine Gesellschaft sukzessive verroht, weil sie glaubt, für ihr Überleben einen Massenmord in Kauf nehmen zu müssen.

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Foto: Heyne

Hao Jingfang: "Peking falten"

Broschiert, 84 Seiten, € 13,40, Elsinor 2017 (Englischsprachige Ausgabe: "Folding Beijing", 2016. Original: 2014)

Cixin Liu: "Spiegel"

Klappenbroschur, 189 Seiten, € 10,30, Heyne 2017 (Original: "Jingzi", 2004)

Zwei Novellen aus China, zwei Gedankenspiele: SF-Superstar Cixin Liu lässt die Protagonisten von "Spiegel" über die gesellschaftlichen Auswirkungen einer allsehenden Maschine philosophieren. Noch mehr beeindruckt Hao Jingfang mit ihrer visionären und wunderbar poetischen Erzählung "Peking falten". Hinter ihrer atemberaubenden Lösung für das Problem der Überbevölkerung verbirgt sich jedoch vor allem Kritik an den sozialen Missständen im heutigen China.

Zu den Langrezensionen:

Fotos: Elsinor, Heyne

Stephen Baxter: "Xeelee: Vengeance"

Broschiert, 432 Seiten, Gollancz 2017, Sprache: Englisch

Stephen Baxter hat sein beliebtes Xeelee-Universum rebootet und dafür denselben Trick aus der Truhe gegriffen wie die Macher der "Star Trek"-Filme: eine Veränderung der Zeitlinie. Trotz vieler vertrauter Akteure nimmt die Geschichte des Universums ab diesem Band also einen etwas anderen Verlauf als bisher gewohnt. Und das wird sich im nächsten, dem im Mai erscheinenden "Redemption", noch verdeutlichen. Dann werden wir einem neuen Super-Konstrukt der Xeelee im Herzen der Milchstraße begegnen und Baxter wird wieder einmal Gelegenheit haben, eine seiner großen Stärken auszuspielen: nämlich zu beschreiben, wie sich das Leben an eine physikalisch extrem exotische Umgebung anpasst.

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foto: gollancz

Jürgen Bauer: "Ein guter Mensch"

Gebundene Ausgabe, 224 Seiten, € 22,00, Septime 2017

Die erschreckendsten – weil glaubhaftesten – Zukunftsvisionen sind oft die, die nur ein paar Kalenderblätter von uns entfernt liegen und Entwicklungen weiterzeichnen, die wir jetzt schon sehen können. In Jürgen Bauers Roman hat der Klimawandel Mitteleuropa erreicht. Wer kann, flüchtet Richtung Norden – die, die zurückbleiben, müssen miterleben, wie ihr Leben Jahr für Jahr trostloser wird. Es ist ein stilles Untergangsszenario – still genug, um sich der Frage zu stellen, wie man sich trotz allem Hoffnung und Menschlichkeit bewahren kann.

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Foto: Septime

Sylvain Neuvel: "Giants. Zorn der Götter"

Broschiert, 480 Seiten, € 15,50, Heyne 2017 (Original: "Waking Gods. The Themis Files, Book 2", 2017)

Mancher Trick funktioniert doch tatsächlich zweimal. Auch den zweiten Teil seiner Saga um Riesenroboter, die vor langer Zeit von Außerirdischen auf der Erde zurückgelassen wurden, erzählt Sylvain Neuvel ganz im Stil von "World War Z": also ausschließlich in Form von Interviews, Protokollen und anderen Dokumenten. Und wieder ist das Ergebnis höchst unterhaltsam. In diesem Teil kehren die Aliens übrigens zur Erde zurück – mit nigelnagelneuen Robotermodellen. Auf in den Kampf!

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Foto: Heyne

Cory Doctorow: "Walkaway"

Gebundene Ausgabe, 379 Seiten, Tor Books 2017, Sprache: Englisch

Der Kapitalismus verliert seine Kinder: In einer nahen und nicht gerade besser gewordenen Zukunft ziehen immer mehr Menschen aufs verlassene Land und bauen dort eine ganz neue, egalitäre Gesellschaft auf. Als sich abzeichnet, dass diese tatsächlich funktioniert, schlagen die Vertreter der globalisierten "default reality" erbarmungslos zu – doch können sie die alte Weltordnung noch dauerhaft aufrechterhalten? "Walkaway" ist Cory Doctorows Abrechnung mit einem vermeintlich alternativlosen System, das immer mehr Ressourcen verschlingt, um sie an immer weniger Menschen zu verteilen.

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foto: tor books

Steve Rasnic Tem: "Ubo"

Broschiert, 320 Seiten, Rebellion 2017, Sprache: Englisch

Insektoide Wesen entführen Menschen an einen seltsamen Ort, wo sie – lost in time and lost in space – die Taten historischer Massenmörder nacherleben müssen. Immer und immer wieder. Bis das Rätsel gelöst ist, welcher Sinn hinter dieser Übung steckt, werden die Protagonisten viel Zeit haben, darüber nachzudenken, was einen Menschen ausmacht. Eine eigenwillige Erzählung, voller Überraschungen, düster und doch mit einem Schuss Hoffnung.

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Foto: rebellion

Jens Lubbadeh: "Neanderthal"

Klappenbroschur, 526 Seiten, € 15,50, Heyne 2017

Gut gemeint ist eben auch in der Politik das Gegenteil von gut: "Dank" Gentechnik hat sich im Deutschland der Zukunft ein bevormundendes Gesundheitssystem etabliert, das alle Züge einer Diktatur trägt. Doch in welchem Zusammenhang steht das mit einem Geheimprojekt, für das Neandertaler geklont – und später ermordet – wurden? Jens Lubbadehs zweiter Roman punktet sowohl als Thriller als auch als Beitrag zur Diskussion um die Grenzen der persönlichen Freiheit.

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Foto: Heyne

Mur Lafferty: "Six Wakes"

Broschiert, 400 Seiten, Orbit 2017, Sprache: Englisch

So einfach kann es gehen: Ein paar Mordopfer, ein abgeschlossener Tatort (in diesem Fall ein Raumschiff) und alle sind verdächtig – mehr braucht es nicht, um einen spannenden SF-Krimi abzuliefern, der bis zuletzt alles offenhält. Ab Juni auch auf Deutsch erhältlich.

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Fotos: Orbit, Heyne

Seth Dickinson: "Die Verräterin. Das Imperium der Masken"

Klappenbroschur, 557 Seiten, € 17,50, Fischer Tor 2017 (Original: "The Traitor Baru Cormorant", 2015)

Wer sagt, dass Fantasy nur etwas fürs Herz sei? "Die Verräterin" ist ein Buch, das man kaum lieben kann, aber umso mehr achten wird. Realpolitik über alles lautet die Devise, wenn sich Hauptfigur Baru Kormoran in der Hierarchie des Imperiums, das ihre Heimat besetzt hat, hocharbeitet. Wem Barus Loyalität eigentlich gilt, bleibt für uns Leser und möglicherweise auch für sie selbst aber lange Zeit offen. Und letztlich ist's doch ein Roman fürs Herz – wenn auch nur für das von Machiavelli.

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foto: fischer tor

China Miéville: "Dieser Volkszähler"

Gebundene Ausgabe, 173 Seiten, € 18,60, Liebeskind 2017 (Original: "This Census-Taker", 2016)

In einem unbekannten Land zu einer unbekannten Zeit (aber vermutlich in der Zukunft) rekonstruiert der Erzähler von China Miévilles vielleicht seltsamster Geschichte bisher ein traumatisches Erlebnis aus seiner Kindheit. "Dieser Volkszähler" dreht sich nicht nur in mehrfacher Weise um den Prozess des Erinnerns, sondern spiegelt diesen auch in seiner Erzählstruktur wider. Ein – ungewöhnlich für Miéville – mit sparsamsten Mitteln erzeugtes Rätsel, das vieles offen lässt.

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foto: liebeskind

Terry Pratchett unter hülfreicher Unterstützung des Discworld Emporiums: "Vollsthändiger und unentbehrlicher Atlas der Scheibenwelt"

Gebundene Ausgabe, 128 Seiten, € 27,70, Goldmann 2017 (Original: "The Complete Discworld Atlas", 2015)

Unsere letzte Rückkehr zur Scheibenwelt lässt uns Terry Pratchetts vielgeliebte Schöpfung noch einmal aus der Vogelperspektive sehen: In Form eines liebevoll gestalteten Reiseführers mit wirklich allen Schauplätzen der Romane, jeder Menge launiger Anmerkungen, Illustrationen und als Prunkstück einer klotzig großen Scheibenwelt-Karte für die Wand daheim.

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Foto: Goldmann

Marie Brennan: "Lady Trents Memoiren: Die Naturgeschichte der Drachen"

Klappenbroschur, 393 Seiten, € 14,40, Cross Cult 2017 (Original: "The Memoirs of Lady Trent 1: A Natural History of Dragons", 2013)

Und damit kommen wir zu den Neuvorstellungen. Neu heißt in diesem Fall aber auf alt getrimmt: Vom Setting über das ganze Handlungskonzept bis hin zum Stil und der optischen Aufbereitung durch eine Reihe von Schwarz-Weiß-Zeichnungen überzog US-Autorin Marie Brennan ihren Erfolgsroman mit einer historisierenden Patina, die ihn zu einem stimmigen Gesamtpaket macht. Und zu einer vergnüglichen Lektüre.

"Die Naturgeschichte der Drachen" lehnt sich an die Reise- und Abenteuerliteratur des 18. und 19. Jahrhunderts an: Damals, als viele wackere Männer und vereinzelte wackere Frauen in kaum erforschte Regionen der Welt aufbrachen, um deren Tierwelt zu studieren (zumeist in erschossener Form) und nach der Heimkehr durch Vorträge und Bücher über ihre Reisen reich und berühmt zu werden. Beziehungsweise natürlich um die Wissenschaft voranzubringen. Brennan überträgt dies nun auf eine von unserer leicht verschobene fiktive Welt, in der es Drachen, Wyrme, Seeschlangen und sonstiges Riesengeziefer tatsächlich gibt.

Patente Protagonistin

Als Hauptfigur fungiert Isabella Hendemore, zu diesem Zeitpunkt noch lange nicht die Lady Trent des Titels, sondern erst einmal ein Problemkind: Als Tochter aus gutem Hause und einziges Mädchen unter sechs Geschwistern zeigt sie schon früh höchst ungebührliches Interesse an der Naturwissenschaft. Dass Isabella im Stall tote Tauben seziert, könnte man ja noch vertuschen. Aber dass sie sich als Junge verkleidet, um sich bei einer Drachenjagd einzuschleichen, und dabei auch noch verletzt wird: Skandal! Mutter ist schockiert und die Kleine kommt unter strenge Aufsicht, bis man sie wegheiraten kann.

Doch die spezielle Mischung, die hinter jeder Erfolgsgeschichte steckt, kommt auch hier zusammen: nämlich die Entschlossenheit, Gelegenheiten beim Schopf zu ergreifen, und das notwendige Quäntchen Glück – hier in Form verständnisvoller Mitmenschen. Mit Jacob Camherst findet Isabella nicht nur einen Ehemann, der ihre "unweiblichen" Interessen akzeptiert. Es gelingt ihr sogar, ihn zur Teilnahme an einer wissenschaftlichen Expedition zu überreden ... und dazu, sie gegen jede gesellschaftliche Konvention mitzunehmen. So bricht die resolute Isabella also mit gerade einmal 19 Jahren zu ihrem ersten Abenteuer auf.

Amüsierter Blick zurück

Zur Freude der Leser ist es aber nicht wirklich dieses junge Ding, das zu uns spricht. "Memoiren" heißt es schließlich im Titel: Generell werden sich diese auf jene Expeditionen konzentrieren, die zu der Entdeckung führten, für die ich so berühmt wurde, doch gelegentlich wird es auch Exkurse zu persönlichen und unterhaltsameren und sogar (jawohl!) schlüpfrigen Angelegenheiten geben. Ein Vorteil daran, jetzt eine alte Dame zu sein, und noch dazu eine, die ein "nationales Kulturgut" genannt wurde, besteht darin, dass es sehr wenige Personen gibt, die mir sagen können, was ich schreiben darf und was nicht.

Isabellas Erzählung ist bereits gefiltert durch ihr älteres Ich, das über die Jahrzehnte und diverse historische Umbrüche hinweg auf die Vergangenheit zurückblickt. Dieser Filter ist mal stärker, mal schwächer ausgeprägt. Er verschwindet weitgehend, wenn gerade Action stattfindet und daher unmittelbares Erleben angesagt ist. Und kehrt später umso stärker zurück, wenn sich Lady Trent, inzwischen die weltweit angesehenste Koryphäe der Drachenforschung, direkt an uns wendet, über törichte Entscheidungen ihres jüngeren Ichs die Augen rollt und die damalige Gesellschaft im Rückblick aus der Moderne mit Witz und Biss kommentiert.

Der zeitenübergreifende Vergleich, der sich zwischen den beiden Isabellas ergibt, unterstreicht den Charakter von "Lady Trents Memoiren" als Emanzipationsgeschichte. Genauso sehr hat die Autorin damit aber auch eine Entscheidung zugunsten der Unterhaltung getroffen: Die coole alte Dame ist schließlich einer der dankbarsten Archetypen der Literatur.

Nur der Anfang

"Die Naturgeschichte der Drachen" ist in sich abgeschlossen, aber natürlich nur der Anfang von Isabellas wissenschaftlicher Karriere. In diesem ersten Abenteuer, das sich im Lauf des Geschehens übrigens immer stärker in einen Kriminalfall verwandeln wird, spielen Schmuggler, abergläubische Dorfbewohner und die Verständigungsprobleme zwischen "aufgeklärten" Besuchern und genervten Besuchten eine mindestens so große Rolle wie die Drachen selbst. Doch die nächste herpetologische Herausforderung wartet schon, denn es geht Schlag auf Schlag weiter: Anfang März folgt bei Cross Cult Band 2 der Memoiren ("Der Wendekreis der Schlangen"), im Juli Band 3 ("Die Reise der Basilisk"). Und auf Englisch liegen bereits zwei weitere Romane vor. Lady Trent hat glücklicherweise ein großes Nähkästchen, aus dem sie plaudern kann.

Foto: Cross Cult

Paolo Bacigalupi: "Water. Der Kampf beginnt"

Broschiert, 464 Seiten, € 10,30, Heyne 2017 (Original: "The Water Knife", 2015)

Schweiß ist die Form, in der das titelgebende Wasser in Paolo Bacigalupis aktuellem Roman als Erstes genannt wird – und das ist kein Zufall. Wie die meisten seiner Erzählungen ist auch "Water" in einer nahen Zukunft angesiedelt, in der sich der Klimawandel verschärft hat. Schauplatz ist diesmal der Südwesten der USA, der unter einer verheerenden Dauerdürre leidet, die zu annähernd bürgerkriegsartigen Konflikten zwischen den hauptbetroffenen Bundesstaaten geführt hat. Für die albtraumartige Hitze in den Wüstengebieten findet Bacigalupi ein bestechendes Bild: Wenn die Nationalgardisten durch ihre Infrarot-Zielfernrohre spähen, zeichnen sich die Menschen als dunkle Flecken vor dem Hintergrund ab – sie gehören inzwischen zu den kühlsten Objekten da draußen.

Zur Einordnung

Nach einigen Romanen für ein Young-Adult-Publikum ("Schiffsdiebe", "Versunkene Städte") hat sich Bacigalupi mit diesem Roman wie schon in seinem überragenden Erstling "The Windup Girl" ("Biokrieg") wieder an ein erwachseneres Publikum gewandt. Das äußert sich nicht nur in einer Sexszene und einer Reihe von brutalen Gewaltakten, die keine der Hauptfiguren verschonen werden. Vor allem kommt es in der Moral hinter der Geschichte zum Tragen: Für eine einfache Gut-Böse-Einteilung ist hier kein Platz.

Sowohl YA- als auch Erwachsenentitel führen uns in eine Welt des Niedergangs; möglicherweise gehören sie sogar alle derselben Near Future History an. "Water" ist kurz nach der Erzählung "The Tamarisk Hunter" (im Sammelband "Pump Six") angesiedelt, auf die im Text auch explizit verwiesen wird. Es muss aber – vorausgesetzt, es ist tatsächlich dieselbe Zukunft – noch deutlich vor "Windup Girl" liegen: Immerhin gibt es hier immer noch fossilen Brennstoff. Dafür fehlt es jedoch an allen Ecken und Enden an Wasser. Mehrfach bezieht sich der Autor auf Marc Reisners Sachbuch "Cadillac Desert", das die Wassermanagement-Probleme im amerikanischen Südwesten schon 1986 vorhergesagt hat.

Trio in der Hölle

Eine der Hauptfiguren von "Water" ist Angel Velasquez, ein ehemaliges Gangmitglied, das nun für die Wasserbehörde von Nevada arbeitet. Aber nicht als Bürohengst, sondern als Mann fürs Grobe (seine inoffizielle Berufsbezeichnung ist Waterknife, entsprechend dem Originaltitel des Romans). Wir befinden uns in einer Zeit, in der die US-Bundesstaaten ihre heute schon existierenden Wasserkonflikte auf eine neue Ebene gehoben haben: Da geht man nicht nur vor Gericht gegen Konkurrenten vor, sondern sprengt auch gleich mal deren Staudämme und Recyclinganlagen in die Luft. Angels Chefin Catherine Case ist in diesem Zusammenhang besonders skrupellos. Sie hat schon reihenweise Städten und ganzen Regionen das Wasser abgedreht, um es für ihr Nevada zu sichern.

Zu Angels Widerpart wird Lucy Monroe, eine Journalistin aus dem noch kühlen Norden, die seit Jahren den Niedergang von Phoenix, Arizona dokumentiert. Die beiden Hauptfiguren scheinen von unterschiedlichen Polen zu kommen, bewegen sich aber aufeinander zu: Angel wird als zynisches Arschloch eingeführt, zeigt später aber immer menschlichere Züge. Die Idealistin Lucy hingegen wird langsam in den Mahlstrom des Niedergangs hineingezogen und driftet in immer dunklere Gefühle ab. Die beiden werden sich in der Mitte treffen und eine Seelenverwandtschaft erkennen.

Ins Rollen gebracht wird die Handlung, als ein Bekannter Lucys damit prahlt, den Joker aller Joker im Wasserkrieg gefunden zu haben: etwas, das den Status quo komplett verändern wird. Als er kurz darauf auf bestialische Weise ermordet wird, beginnt eine verwickelte und brandgefährliche Suche nach der Wahrheit. Ein reiner Zufall zieht die dritte Hauptfigur ins Geschehen: Maria Villarosa, eine junge Frau, die mit ihrer Familie aus dem verwüsteten Texas nach Phoenix geflohen ist, sich mittlerweile allein durchschlagen muss und zur Verblüffung aller noch eine Schlüsselrolle spielen wird.

Dust Bowl Days

"Hörer rufen an bei KFYI ..." – "Wisst ihr, wie das da draußen aussieht? Wie in Pompeji." Staubstürme, verlassene Städte, Flüchtlingsströme und verelendete Massen: Speziell bei amerikanischen Lesern dürfte Bacigalupi Erinnerungen an die Ära der "Dust Bowl" wecken, eine verheerende Dürre in den 1930er Jahren, die in den Präriestaaten zu ähnlichen Szenen führte wie denen im Roman.

Nur dass im 21. Jahrhundert alles noch schlimmer ist. Eine Gesetzesänderung hat den einzelnen Bundesstaaten die Souveränität ihrer Grenzen zugesprochen – und an denen wird nun auf Klimaflüchtlinge aus Nachbarstaaten geschossen. Die Regierung in Washington hat weder die Macht noch den Willen, gegen die regelmäßigen Massaker an Flüchtlingen einzuschreiten. Texas ist bereits zerfallen, weiter im Süden hat sich Mexiko in die von Verbrechern regierten Kartellstaaten aufgelöst. Es gibt keine Hand mehr, die ordnend eingreift – nur das übliche Gewimmel von Hilfsorganisationen vor Ort. Pikant, wenn in den USA der Rote Halbmond und China tätig werden. Wobei sich das technologisch fortgeschrittene Reich der Mitte ohnehin darauf beschränkt, Arkologien für die Privilegierten zu bauen. Ähnlich wie in der unterschätzten TV-Serie "Incorporated" ist die Gesellschaft auch hier in zwei Welten zerfallen, zwischen denen es kaum noch Verbindungen gibt.

Es ist immer ein bisschen riskant, ein Buch beim Erscheinen noch ungelesen zur Seite zu legen, um es gleich für das Jahres-Best-of aufzuheben. Aber bei Paolo Bacigalupi geht dieses Risiko gegen null. Er findet die perfekte Balance zwischen spannender Handlung und detaillierter Beschreibung eines (leider scheußlichen) Systems. So soll Science Fiction sein.

Foto: Heyne

John Joseph Adams: "Cosmic Powers. The Saga Anthology of Far-Away Galaxies"

Broschiert, 352 Seiten, Saga Press 2017, Sprache: Englisch

Für viele Leser ist Science Fiction weitgehend identisch mit Space Opera und Sense of Wonder. Und auch wenn es sich dabei nur um eine Variante des Genres von vielen handelt, ist es doch eine überaus beliebte. Wer gerne mehr davon hätte, für den ist diese Sammlung ein ausgezeichneter Tipp: John Joseph Adams, der wohl anerkannteste Herausgeber von SF-Anthologien zur Zeit, hat eine beeindruckende Liste von Autoren versammelt, die seit langem beliebt, für ihre hohe Qualität bekannt oder gerade en vogue sind (das muss nicht unbedingt dasselbe sein ...). Das Ergebnis ist eine deutlich überdurchschnittliche Anthologie, die Appetit auf mehr weckt.

Einige der Beitragenden sind bereits Stars im englischsprachigen Raum, haben es aber noch nicht zu deutschen Übersetzungen gebracht. Die perfekte Gelegenheit also, sich auch mit Autoren, die man vielleicht noch nicht kennt, vertraut zu machen und sich dann – vorausgesetzt die jeweilige Schreibe spricht einen an – auf deren längere Werke zu stürzen.

Die ersten zwei Appetithappen

Zwei gute Beispiele wären Yoon Ha Lee und Kameron Hurley: beide in SF-Blogs stark gehypt und für Preise nominiert, beide mit schreiberischer Substanz ausgestattet und beide bereits auf eine Reihe von Werken zurückblickend, auf Deutsch bislang aber nicht präsent. Dass sowohl Lees Anthologie-Beitrag "The Chameleon's Gloves" als auch Hurleys "Warped Passages" inhaltlich jeweils mit bereits vorliegenden Romanen verbunden sind, macht sie endgültig zu guten Appetizern.

Lee entspinnt ein Abenteuergarn um ein menschliches "Chamäleon", das einer desertierten Generalin eine Superwaffe abknöpfen soll, und demonstriert dabei dynamische Schreibe. Ein Blick auf Lees "Machineries of Empire"-Trilogie und deren Mix aus galaktischen Imperien, Intrigen, Action und vollkommen unverständlicher Hochtechnologie dürfte sich also lohnen. Hurley liefert hier eine ergänzende Episode zu ihrem Roman "The Stars Are Legion" ab, in dem eine Raumflotte im Nichts gestrandet ist und durch das rätselhafte Phänomen, das sie festhält, einer fortschreitenden Metamorphose unterzogen wird – Anflüge von Body Horror inklusive. Dass Hurley ausschließlich weibliche Figuren verwendet, liest sich zum Glück nicht so krampfig gewollt, wie es eigentlich ja ist.

Warum in die Ferne schweifen ...

Während sich Lee und Hurley in Sachen Technik mit Handwaving-Erklärungen begnügen, zeigt Linda Nagata nach ihrer famosen "Red"-Trilogie einmal mehr, dass man Sense of Wonder auch erzeugen kann, ohne die Gesetze der Physik zu verletzen und durch die halbe Galaxis zu fliegen. Die "Neuntausend Welten" ihrer Kurzgeschichte "Diamond and the Worldbreaker" kreisen nämlich allesamt um unsere gute alte Sonne. Eine Künstliche Intelligenz hat die Orbits der unzähligen Weltraumhabitate fein austariert ... ebenso wie die menschliche Gesellschaft als Ganzes. Denn Machina Overlord fördert kleine Terroristengruppen als Chaos-Elemente, damit das Zukunftsutopia nicht stagniert. Nagatas Protagonisten finden sich daher einmal mehr in einem faszinierenden und schwer zu durchschauenden Spiel wieder.

Auch Karl Schroeder bleibt in "Golden Ring" in der näheren kosmischen Umgebung und zugleich in der Welt seines großartigen Romans "Lockstep". In "Lockstep" hat man eine verblüffend einfache Methode gefunden, die galaktische Nachbarschaft zu kolonisieren, ohne schneller als das Licht zu fliegen (nachlesen, wer den Roman noch nicht kennt!). In "Golden Ring" erhält nun eine der Lockstep-Welten Besuch der besonderen Art: Die KI der fernen Sonnenstation, die den Planeten per Laser mit Energie versorgen sollte, hat einen Avatar geschickt, den das schlechte Gewissen plagt ... immerhin ist die KI ihrer Pflicht eine Zeitlang nicht nachgekommen und die Welt ist vereist.

Die Beschreibungen des nun langsam wieder auftauenden Planeten würden schon alleine reichlich Sense of Wonder verbreiten, aber das war Schroeder nicht genug. Die Arbeitsverweigerung der Kunstsonne war nämlich die Folge eines Schocks, als sie und ihre "Artgenossen" eine erschreckende Wahrheit über das Wesen des Universums entdeckten. Ein Highlight der Anthologie!

Oxymoron-Alarm: Seichte Tiefpunkte

Natürlich findet sich selbst in einer so gelungenen Geschichtensammlung wie "Cosmic Powers" auch das Gegenteil. Für Lowlights sorgen zwei zurzeit ebenfalls sehr gehypte Autorinnen. Charlie Jane Anders liefert mit "A Temporary Embarrassment in Spacetime" ein vielleicht als Parodie gemeintes plastikbuntes Stück Neo-Pulp ab, das mit seinem albernen Humor wohl auf das gleiche Teenie-Publikum abzielt wie "The Deckhand, the Nova Blade, and the Thrice-Sung Texts" von Becky Chambers. Deren Erzählstil Marke Highschool-Geplapper löst in mir einmal mehr nur Sense of Annoyance aus. Ihr Erfolgsroman "Der lange Weg zu einem kleinen zornigen Planeten" ist seinerzeit teilgelesen und unrezensiert im Altpapier gelandet (sollte ihn jemand in der Rundschau vermisst haben).

Während ich Chambers für die nächsten Jahre abgeschrieben habe, könnten zwei andere noch weitgehend unbekannte Autorinnen Potenzial haben. Caroline M. Yoachim entwirft in "Seven Wonders of a Once and Future World" in aller Kürze eine posthumane Future History, die Milliarden Jahre in die Zukunft reicht. Und Vylar Kaftan lässt in "The Sighted Watchmaker" ein – gemessen an Intelligenz und Technologie-Level – gottgleiches Wesen seinem Alltagsjob Evolutionslenkung nachgehen, während es darüber grübelt, warum es von seinen Schöpfern verlassen wurde: alte religiöse Fragen verquickt mit einem Uplift-Szenario.

Yoachim und Kaftan haben bislang nur ein paar Kurzgeschichten vorgelegt. Von Aliette de Bodard gibt es hingegen bereits ein umfangreiches Werk, für das ihr poetischer Anthologie-Beitrag "The Dragon That Flew Out of the Sun" recht repräsentativ ist. Die französisch-amerikanische Autorin entwirft gerne alternative Welten, in denen asiatische oder mesoamerikanische Kulturen vorherrschend sind. Das kann dann als Fantasy oder wie hier als Science Fiction umgesetzt werden, zumindest formal. Denn vom Gefühl her liest sich auch diese Geschichte, erzählt aus der Perspektive eines Kindes, eher fantasyesk. Pure Fantasy, Weltraum hin oder her, liefern übrigens gleich mehrere Autoren ab. Das wäre bei einer Anthologie mit einer solchen Prämisse vor zehn Jahren wohl noch nicht der Fall gewesen, und ein paar Hard-SF-Beiträge mehr hätten "Cosmic Powers" durchaus gutgetan.

Neue Seiten alter Hasen

Zu entdecken gibt es dafür noch etwas anderes: nämlich wohlbekannte und auch auf Deutsch vielfach verlegte Autoren, die sich einmal von einer anderen Seite zeigen. Das gilt weniger für Altspatz Alan Dean Foster, der mit "Our Specialty is Xenobiology" nicht unbedingt die Grenzen des Vorstellbaren sprengt (Typ: Prospektoren erkunden ein Alien-Raumschiff). Aber zum Beispiel für Dan Abnett: Bekannt hauptsächlich über Comics und "Warhammer"-Romane, liefert er hier mit "The Frost Giant's Data" eine süffig zu lesende Erzählung ab, deren Protagonist eine Festung stürmen muss, die er selbst konstruiert, dann aber eigenständiger Weiterentwicklung überlassen hat. Von Technikscheu keine Spur, das ist eine beeindruckende Materialschlacht.

Eine positive Überraschung beschert auch Jack Campbell, eigentlich Spezialist für Endlos-Abenteuerreihen wie "Die verlorene Flotte". Sein "Wakening Ouroboros" hat eine Dyson-Sphäre am Ende der Zeit zum Schauplatz. Nur noch zwei Menschen, beide Milliarden Jahre alt, bewohnen ihre gigantischen Weiten, der Rest der "Bevölkerung" wird nur noch als virtuelle Requisite eingespielt. An incredibly vast stage built by humanity, but empty of performers: Das erzeugt Sense of Wonder, neben dem Seanan McGuires durchschnittliche Abenteuergeschichte um eine Mini-Dysonsphäre ("Bring the Kids and Revisit the Past at the Traveling Retro Funfair!") gleich noch blasser wirkt.

Geschichte(n) der Zukunft

Zu guter Letzt sei noch Tobias S. Buckell genannt, der in den vergangenen Jahrzehnten zumindest sporadisch ins Deutsche übersetzt worden ist. In seinem "Zen and the Art of Starship Maintenance" hat ein Raumschiffschwarm gerade die feindliche Übernahme eines anderen vollzogen (es wird wirklich halb kriegerisch, halb wirtschaftlich beschrieben), als ein Angehöriger der Siegerseite ungebetenen Besuch von einem Verlierer erhält. Mit diesen beiden treffen zugleich zwei Paradigmen aufeinander: auf der einen Seite posthumane Existenzen mit veränderten Körpern und kopierten Bewusstseinsinhalten, auf der anderen einer, der an der alten und seiner Meinung nach wahren Form des Menschen festhält. In der Erzählung klingen also nicht zuletzt grundlegend unterschiedliche Herangehensweisen innerhalb des Science-Fiction-Genres an.

Abschlussbemerkung: Yes! Endlich mal wieder ein Titelbild von Chris Foss. Seine Raumschiffe, die eher nach Korallenfischen oder philippinischen Jeepney-Taxis aussehen als nach den blitzblanken Dingern, die durch "Star Trek" oder "2001" flitzen, haben mich schon als Kind begeistert. So sieht etwas aus, das im Weltraum wirklich lebt und arbeitet.

Foto: Saga Press

Jeff Vandermeer: "Borne"

Gebundene Ausgabe, 250 Seiten, € 22,70, Verlag Antje Kunstmann 2017 (Original: "Borne", 2017)

Jeff Vandermeer: "The Strange Bird"

Broschiert, 128 Seiten, MCD x FSG Originals 2017, Sprache: Englisch

In the city, the line between nightmare and reality was fluid ... Dieser Satz aus "Borne" gilt eigentlich für so gut wie alle Erzählungen von Jeff Vandermeer. Seine Welten mögen auf sehr unterschiedliche Entstehungsgeschichten zurückblicken, doch alle resultieren in einer Atmosphäre des Irrealen. In "Borne" haben wir es mit einer Zukunft zu tun, die zeitlich recht nah ist, sich aber Jahrtausende, wenn nicht gar Jahrmillionen entfernt anfühlt, so tiefgreifend war die Metamorphose der Welt.

Schauplatz des Romans ist eine namentlich nicht genannte Stadt in der Ära nach dem Kollaps der globalen Zivilisation. Giftiger Regen prasselt auf die Ruinen nieder, zwischen denen sich genetisch veränderte Tiere und Banden von Chimären-Kindern bewegen: Produkte der "Firma", die der Stadt mit ihren Biotech-Entwicklungen eine letzte Blüte bescheren wollte, es letzten Endes aber nur geschafft hat, dass der Untergang bizarrer als notwendig abgelaufen ist.

Das Ensemble

Hauptfigur Rachel lebt wie alle noch verbliebenen Menschen davon, in den Ruinen nach Brauchbarem zu stöbern. Sie stammt aus einer Familie von Klimaflüchtlingen, ist nun aber verwaist und hat keine Erinnerung mehr daran, wie sie in die Stadt gekommen ist. Rachel und Wick, ein ehemaliger Angestellter der Firma, haben ihren Zufluchtsort gegen Plünderer abgesichert, indem sie ihn zu einer Art Geisterbahn ausgebaut haben. Fallen, bedrohliches Inventar, Halluzinationen auslösende Drogen und gezüchtetes Ungeziefer sollen Eindringlinge abschrecken.

An potenziellen Feinden gibt es nicht nur die gefährlichen Kinderbanden und sonstige Monster, sondern auch die sogenannte Magierin: ebenfalls eine ehemalige Firmenangehörige, die Gentechnik praktiziert. Von alkoholhaltigen Fischen, die man "trinkt", über heilende Würmer bis zu "Kampfkäfern" wird uns im Roman allerlei verblüffendes Getier über den Weg laufen. Die in jeder Beziehung größte Schöpfung freilich ist Mord, ein intelligenter Bär in Kaiju-Ausmaßen, der die Stadt inzwischen mit seiner schieren Urgewalt beherrscht. Ein gigantischer Grizzly, der fliegen kann und einmal ein Mensch gewesen sein soll, klingt hochgradig lächerlich – Vandermeer als Meister des traumhaften Grusels versteht es aber, uns selbst dieses völlig absurde Bild zu verkaufen.

Game-Changer

Das brisante Gleichgewicht in der Stadt gerät ins Wanken, als Rachel eines Tages ein seltsames Ding aus Mords Fell klaubt. Borne sieht wie eine Seeanemone aus (angesichts von Vandermeers bekannten Vorlieben müsste man eigentlich auf einen Pilz tippen), wächst zuhause bei Rachel und Wick zunächst wie eine Zimmerpflanze heran und entpuppt sich schließlich als intelligentes Wesen, das seine Gestalt verändern kann.

Während Wick skeptisch bleibt, entwickelt sich zwischen Rachel und Borne eine komplizierte Beziehung: ein bisschen freundschaftlich, ein bisschen wie Mutter und Kind, ein bisschen sogar fast flirtend. Ausgelassen ziehen die beiden durch die Stadt und albern herum – inmitten allgegenwärtiger Gefahr und Düsternis ist dann sogar Platz für Situationskomik. Als die beiden von einem Raubtier verfolgt werden, formt sich Borne in einen Felsen um und schließt Rachel in seinem Inneren ein. Während sie draußen den Bären am Schutzkokon kratzen hört, bildet sich vor ihren Augen ein Telefon aus Bornes Fleisch und sie hebt ab: "Hello," I whispered. "This is Borne. This is Borne calling you."

Das Grauen kommt auf leisen Sohlen

Aber Borne hat auch weniger anheimelnde Seiten. Er wird immer größer, und mit ihm wächst auch sein ständiger Hunger – vielleicht hat Wick ja doch recht, dass der Findling eine Gefahr bedeutet. Der Roman rührt damit an sehr alte Motive an, ob Frankensteins Monster (es gibt vor allem einige Parallelen zum SF-Film "Splice") oder den Wechselbalg. Eingebettet werden diese allerdings in einen modernen Biotech-Kontext und in die typisch Vandermeer'sche Erzählweise eines Fiebertraums, die jede Genre-Zuordnung hinfällig werden lässt. "Borne" ähnelt von seiner Atmosphäre her stark Vandermeers erfolgreicher und inzwischen mit Natalie Portman verfilmter "Annihilation"-Trilogie. Der Hauptunterschied ist, dass hier wesentlich mehr gezeigt wird. Eigentlich sogar so viel gezeigt, dass man daraus eine großartige Graphic Novel machen könnte.

Da capo

"Borne" ist – wohl aufgrund des "Annihilation"-Erfolgs – so schnell übersetzt worden, dass ich das Original noch gar nicht gelesen hatte, als schon die deutschsprachige Version auf den Markt kam – sonst hätte ich gleich die rezensiert. Auf Englisch gibt es allerdings noch eine Zugabe: Die Novelle "The Strange Bird" ist gewissermaßen eine Auskoppelung, eine Geschichte-in-der-Geschichte, die in "Borne" erwähnt und hier ausformuliert wird. Zugleich schildert sie in der zweiten Hälfte die Ereignisse des Romans noch einmal aus einer gänzlich anderen Perspektive, in märchenhaftem Ton und mit viel Innenschau.

Protagonist ist ein Vogel, der in einem Labor aus verschiedenster DNA – unter anderem menschlicher – zusammengebastelt wurde. Nach gelungener Flucht zieht er über ein verwüstetes Land, das von geisterhaften Relikten der Hochtechnologie und allerlei gefährlichen Wesen geprägt ist – am schlimmsten von allen die Menschen. Niemand von denen schert sich um das wahre Wesen des Vogels, alle projizieren lediglich ihre Wünsche und Interpretationen auf ihn. Ein bisschen gilt für den seltsamen Vogel also dasselbe wie für Vandermeers nicht minder seltsame Erzählkunst ...

Fotos: Antje Kunstmann, MCD x FSG Originals

Dietmar Dath: "Der Schnitt durch die Sonne"

Gebundene Ausgabe, 363 Seiten, € 24,70, S. Fischer 2017

In der ersten Folge von "Sherlock" ist der serienmordende Taxifahrer Jeff Hope erleichtert, in Holmes endlich einen ebenbürtigen Geist gefunden zu haben – und sinniert darüber, wie es wohl sein mag, so dumpf im Kopf zu sein wie der Rest der Menschheit. So manches Mal, wenn ich einen Text von Dietmar Dath lese, erkenne ich mich als einen dieser Dumpfen wieder. It's that certain neanderthal feeling ...

Auf Personalsuche

Von der Zugänglichkeit seines Romans "Pulsarnacht" hat sich Dath in den darauf folgenden Werken wieder schrittweise entfernt, auch wenn er der Form nach bei der SF geblieben ist. Als Handlungsprämisse serviert er uns diesmal ein Volk von Intelligenzwesen, die in der Atmosphäre der Sonne leben respektive in ihrer eigentlichen Gestalt als Energiewirbel Teil dieser Atmosphäre sind. Als eines Tages ein Kind geboren wird, das etwas aus der Norm fällt und Anzeichen für ungeahntes Potenzial zeigt, entwickelt sich ein ideologischer Streit um das Wesen dieses sogenannten Koronakinds. Um den Streit zu entscheiden, holt man sich schließlich Hilfe bei diesen rückständigen Winzlingen, die auf Planet 3 herumkrabbeln.

Teils durch Überredung, teils mit etwas rabiateren Methoden werden ein paar Menschen engagiert: Aykut, ein Geschäftsmann mit Feinschmeckerzunge, der Musiker Bernhard, Oma Marianne, eine Altlinke aus dem Pflegeheim, der Ex-Forscher und jetzige Finanzspezialist Karel und schließlich Vera, eine studierte Mathematikerin, die im Verkauf arbeitet und dafür offenbar reichlich überqualifiziert ist, wie uns ihre Fachexkurse im weiteren Romanverlauf noch zeigen werden. Im Großen und Ganzen also Menschen wie du und ich – oder wie es Teiresias, Abgesandter der Sonne, formuliert: "Eine ziemliche Gurkentruppe eigentlich."

Wachtelschachtelsätze

Solche flapsigen Formulierungen werden sich öfter mal finden und den insgesamt stark theorielastigen Text auflockern – eben noch ein wissenschaftlicher Vortrag, plötzlich ein Zitat aus "Terminator", ganz postmodern. "Wenn du leben willst, komm mit mir", wird sich der eine oder andere ohnehin schon gedacht haben, wenn ihm früh im Roman das Prinzip von Ursache und Wirkung anhand von Hauptmahlzeiten "veranschaulicht" worden ist:

Es war die Wachtel, oder: Es war das Rind. Eine entsprechende Gleichung, das Verfahren von Bayes, sagt uns: Die Wahrscheinlichkeit, dass es bei einer gegebenen Bedingung eine bestimmte Ursache war, die Wachtel von mir aus, ist gleich der Annahme, dass diese Bedingung im Fall der Wachtel gegeben ist, multipliziert mit der Wahrscheinlichkeit der Wachtel an sich, dividiert durch die Wahrscheinlichkeit der betreffenden Bedingung, sagen wir: Anwesenheit von Schalotten, Rosmarin und so weiter, wobei Rosmarin ja in beiden Mahlzeiten vorkommt. Und solche – nichtsdestotrotz hochpräzisen – Wachtelschachtelsätze sind nur kleine Vorbeben der Dinge, die da noch kommen werden. Sprachlich macht Dath wirklich keiner was vor.

Der Sonne entgegen

Da die Menschen ebenso wenig direkt zur Sonne reisen können wie deren Bewohner zur Erde, lässt man sich als Bewusstseinsprojektion ans Ziel schicken. Aykut & Co werden damit in eine für sie zurechtgeschneiderte virtuelle Umgebung versetzt, die mal nach dem Gemälde eines Surrealisten aussieht, mal höchst banal, mal nach einer Luxusversion dessen, was uns Esoterik-CDs flüsternd vors geistige Auge projizieren wollen. Da die Sonnenbewohner in Avataren und Teilaspekten eines größeren Ganzen agieren, ist auch ein Schuss hinduistischer Götterhimmel mit dabei.

Unter diesen Bedingungen sollen unsere wackeren Fünf nun das Wesen des Koronakinds ergründen, jeder aus der Perspektive seines Fachgebiets. Speziell die Passagen um Vera geraten da zum mathematisch-philosophischen Essay. "Nehmen wir mal Sprache als eine Kategorie von, na gut, Graphen. Dann sind die Punkte von mir aus Hauptwörter, und die Pfeile sind transitive Verben, dann haben wir als Quelle oder Domain oder Definitionsmenge jeweils ein Subjekt, als Ziel oder Codomain oder Wertemenge jeweils ein Objekt, nicht im mathematischen Sinn von Objekt natürlich, sondern im grammatischen. So weit, so schön, aber was für Kalküle kann ich mit Wörtern veranstalten, wenn es nicht einfach ganz banale Sätze sind, wie man sie eben redet? Menschliche Sätze, in meinem Fall: deutsche Sätze?"

Das Teilende und das Verbindende

Ironischerweise beschäftigt sich Dath in "Der Schnitt durch die Sonne" hauptsächlich mit Disziplinen, in denen es um Meta-Betrachtungen geht – ob nun Semiotik oder Kategorientheorie –, findet dafür aber keine Meta-Sprache. Er schreibt über Physik wie ein Wissenschafter, über Kulinarik wie ein Gourmetkritiker und so weiter. Jede Passage über ein Teilgebiet liest sich so, als drehe sich der ganze Roman um ebendieses Teilgebiet. Da fehlt die ordnende Hand, die aus den in alle Richtungen spektakulär abstehenden Einzelsträhnen eine Frisur macht.

Das ist noch ironischer, wenn man bedenkt, dass das Zusammenfügen des Zersplitterten das wichtigste Motiv des Romans ist. Vom ersten, zu diesem Zeitpunkt noch unverständlichen, Bild im Prolog über die Lagerbildung des Sonnenvolks bis hin zu den unterschiedlichen sinnlichen und intellektuellen Fähigkeiten der Protagonisten, die sie zur Wahrheitsfindung verknüpfen müssen: Alles in "Der Schnitt durch die Sonne" scheint sich um das Miteinanderteilen, das Verknüpfen und Verbinden zu drehen. Erst durch diesen Prozess finden die anfangs tendenziell einsam und haltlos beschriebenen Figuren – stellvertretend für die Menschheit an sich – wieder zu sich selbst und zu Sinn.

... soll übrigens nicht heißen, dass das der Generalschlüssel für "Der Schnitt durch die Sonne" wäre. Aber mit dem Triumphgefühl, wenigstens etwas verstanden zu haben, habe ich mir anschließend einen Knochen ins Haar gesteckt und bin glücklich grunzend zur Mammutjagd aufgebrochen.

Foto: S. Fischer

William Gibson: "Archangel"

Graphic Novel, gebundene Ausgabe, 128 Seiten, € 22,70, Cross Cult 2017 (Original: "Archangel", 2016)

2017 brachte uns auch William Gibson zurück – und das in doppelt ungewohnter Form. Zum einen, weil das Szenario von "Archangel" nicht in der Zukunft oder einer nach Zukunft aussehenden Gegenwart angesiedelt ist, sondern ein gutes Stück in der Vergangenheit. Vor allem aber, weil es sich dabei um Gibsons ersten Ausflug ins Comic-Biz handelt, nachträgliche Romanadaptionen ohne seine unmittelbare Beteiligung einmal ausgenommen.

Und genau genommen ist "Archangel" auch einen krummen Weg geflogen: Gibson entwickelte das Konzept ursprünglich zusammen mit dem Drehbuchautor Michael St. John Smith für eine TV-Serie. Erst als die Idee abgelehnt wurde – angeblich recht vehement –, wurde daraus Gibsons erste Graphic Novel. Ironischerweise könnte über diesen Umweg aber doch noch eine Serie draus werden, wie Gibson im Sommer 2016 ankündigte. Nachdem es mit "The Man in the High Castle" und "SS-GB" allerdings jetzt schon zwei Alternate-History-Serien mit Bezug zum Zweiten Weltkrieg gibt, bleibt abzuwarten, ob der TV-Markt nicht schon gesättigt ist.

Anpassung der Geschichte

"Archangel" zählt zu der Variante von Alternativweltgeschichten, die mit einer Zeitreise verbunden sind. Und Gibson lässt sich den Gag nicht nehmen, die Mutter aller Zeitreiseklischees – nämlich die Ermordung des eigenen Großvaters – vergnügt in die Handlung einzubauen. Die ist hier übrigens kein Unfall, sondern erstes Ziel der Mission: Junior Henderson, im Jahr 2016 Vizepräsident der USA, lässt sich ins Jahr 1945 zurückbeamen, um dort Opas Stelle bei der Army und damit eine Position einzunehmen, von der aus das eigentliche Ziel verwirklicht werden kann: nämlich die Zeitlinie zu verändern.

Eine kurzer Rundblick zu Beginn hat uns eine atomar verwüstete Welt gezeigt. Wir müssen also zunächst annehmen, es handle sich um das gängige Szenario von der dystopischen Zukunft, die sich selbst durch einen Zeiteingriff korrigieren will – denken wir etwa an den Film "12 Monkeys" oder an George R. R. Martins "Belagert". Aber weit gefehlt: Die Strahlenhölle ist Henderson und seinem Vater (= dem US-Präsidenten) relativ egal, solange die Macht in ihren Händen bleibt. Mit einer Splitter genannten Maschine wollen sie Zugang zu alternativen Quantenrealitäten schaffen, um die Entwicklung auch dort in ihrem Sinne zu lenken. Und das 1945, auf das sie abzielen, ist das, das zu unserer Gegenwart führen würde.

Zum Glück sabotiert eine widerständisch gesinnte Majorin das Projekt und schickt ihr eigenes Kommando hinterher. Und auch wenn von diesem nur einer die Zeitreise überlebt, reicht das doch, um Gegenkräfte zu mobilisieren. Auf der Heldenseite stehen neben dem namenlosen Marine aus der Zukunft die britische Geheimagentin Naomi Givens (die gerne "Astounding" liest und die Begegnung mit einem Zeitreisenden daher ganz gut wegsteckt) und der US-Captain Vince Matthews. Dass diese beiden eine verhatschte Liebesgeschichte verbindet, schreit ganz laut nach TV-Serienmustern – dito die Handlung, die zu weiten Teilen aus Verfolgungsjagden und Schießereien besteht. FFFTTT BLÄM FFFFTTTTT BADDA BADDA BADDA.

Die Umsetzung

Der Großteil des Geschehens spielt sich im Berlin des Sommers 1945 ab, zwischen ausgebombten Ruinen (die diejenigen von 2016 widerspiegeln), Schwarzmarkt, Geheimdienstumtrieben und Undergroundclubs. Die Kolorierung unterstreicht das Feeling mit trüben Farben, zumeist wird pro Panel auch nur eine verwendet. Eher durchschnittlich finde ich die Qualität der Zeichnungen von Jackson "Butch" Guice, der zwar jahrzehntelang für DC und Marvel gearbeitet hat, dem die Proportionen und Gesichtszüge seiner Protagonisten aber immer wieder entgleiten. Dass beispielsweise Naomis dubioser Fahrer Fritz "jung" sein soll, konnte ich erst dem Nachwort entnehmen. Ist aber vielleicht nur eine Geschmacksfrage – optische Samples gibt es hier.

"Archangel" ist sicher nicht Gibsons komplexestes Werk, spielt aber geschickt mit einigen Stereotypen des Genres und hat eine nette Schlusspointe. Tatsächlich Schlusspointe übrigens: Die Geschichte war als Fünfteiler konzipiert und ist daher im Gegensatz zu vielen Graphic Novels mit diesem einen Band abgeschlossen. Als Nächstes wird uns Gibson wieder in vertrauterem Metier (wieder)begegnen: Im September wird sein Roman "Peripherie" bei Knaur neuaufgelegt erscheinen, die deutschsprachige Ausgabe von "The Peripheral". Auch darin wird es um alternative Zeitlinien gehen – diesmal aber wieder in der Zeit, in der Gibson lebt: der Zukunft.

Foto: Cross Cult

Lavie Tidhar: "Central Station"

Broschiert, 352 Seiten, € 10,30, Heyne 2018 (Original: "Central Station", 2016)

Das literarische Jahr setzt sich traditionell eher träge in Bewegung. Bis es den Arsch hochgekriegt hat, ist so ein Rückblick aufs Vorjahr also die ideale Überbrückung. Es soll hier aber auch nicht untergehen, dass im Niemandsland des Jänners dieser höchst empfehlenswerte Titel auf Deutsch erschienen ist.

Für das, was der israelische Autor Lavie Tidhar hier gemacht hat, liest man im Englischen zumeist irgendeine Formulierungsvariante von intricately woven tapestry. "Central Station" ist kein eigentlicher Roman, sondern eine Sammlung unabhängig entstandener Kurzgeschichten, die aber auf vielfache Weise miteinander verbunden sind und sich zu einem stimmungsvollen Gesamtbild zusammensetzen. Sie zeichnen das Bild einer multikulturellen Gesellschaft, die sich rund um den Weltraumfahrstuhl von Tel Aviv angesiedelt hat. Digitale Existenzen gehören ihr ebenso an wie Menschen, die noch mit dem Eselskarren herumziehen, autonome Roboter oder Cyborgs, die für Ersatzteile betteln gehen. Es ist eine Welt, in der auf wundersame Weise Zukunft und Vergangenheit aufeinandertreffen, und als solche eine Metapher auf das Israel von heute.

Und so geht es weiter

Damit ist der Rückblick für heuer abgeschlossen. Und schon tauchen am Horizont jede Menge neuer Titel auf. Im März beispielsweise – wenn die Rundschau aus dem traditionellen Semesterurlaub zurückkehrt – wird die deutschsprachige Ausgabe von Andy Weirs ("Der Marsianer") zweitem Roman "Artemis" herauskommen. Falls den im Rückblick jemand vermisst hat: Da habe ich mich zurückgelehnt und gleich auf die Übersetzung gewartet, so schnell ist die in Angriff genommen worden.

Ebenfalls im Frühling werden unter anderem Romane von Kim Stanley Robinson, Andreas Brandhorst (könnte es ein Jahr ohne neuen Brandhorst geben?) oder Annalee Newitz erscheinen – und nicht zu vergessen Fortsetzungen von Cixin Liu, Marie Brennan und Robert Jackson Bennett. Später im Jahr folgen unter anderem Übersetzungen von N. K. Jemisin, Dmitry Glukhovsky und William Gibson. Da wird für jeden was dabei sein! (Josefson, 27. 1. 2018)

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Weitere Titel
Überblick über sämtliche bisher rezensierten Bücher

Foto: Heyne