In meinem ersten Blogeintrag zum Thema Mathematik-Zentralmatura habe ich auf die wahrgenommene Doppelbelastung vieler Schüler Bezug genommen, die durch die Einführung der sogenannten Grundkompetenzen und den damit verbundenen Antwortformaten entstanden ist. In den vielen Kommentaren zu meinem Beitrag wurde auch diskutiert, es sei vollkommen normal, dass Schüler bisheriges und grundlegendes Wissen jeweils in die nächste Schularbeit mitnehmen würden. Zum Bespiel das Einmaleins. Oder Längenmaße. Oder Gleichungen lösen. Das wären ja auch Grundkompetenzen. Oder?

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Fassen wir kurz noch mal die wichtigsten Aspekte zusammen:

  • Die Hälfte einer jeden typischen Mathematikschularbeit, wie auch der schriftlichen Matura, besteht aus Grundkompetenzen.
  • Erst dann und nur dann, wenn zwei Drittel dieser Grundkompetenzen positiv beantwortet wurden, gibt es eine positive Note. (Die Kompensationspunkte lasse ich zwecks Vereinfachung weg.)
  • Die andere Hälfte dient der Vertiefung und Anwendung. Auf gut Deutsch: Dort werden Beispiele gerechnet.
  • Sobald also die Hürde der ersten Hälfte genommen wurde, kann die Note jetzt nur mehr besser werden.
  • Daraus lässt sich folgern, dass die zweite Hälfte für viele Schüler völlig uninteressant wurde, weil das Ziel einer positiven Note ja anderswo erreicht wird. Oder auch nicht.
  • Mein Nachhilfeunterricht konzentriert sich in neun von zehn Fällen immer nur auf die Grundkompetenzen. Das ist auch der Fokus der Eltern, die sich als Auftraggeber nicht erklären können, warum ihr Kind plötzlich negative Schularbeiten schreibt, obwohl es sich ja eh auskennt. Oft fehlt nur ein Punkt und schon wäre es eine "3" geworden.

Friss oder stirb

Grundkompetenzen und grundlegende Kompetenzen sind daher zwei Paar Schuhe. Niemand hat bestritten, dass das Einmaleins oder seinesgleichen nicht bei jeder Schularbeit automatisch präsent sein sollte. Es gibt grundlegende mathematische Fähigkeiten, die immer im Einsatz sind. War immer so und wird immer so bleiben.

Grundkompetenzen sind aber ein terminus technicus im Rahmen der neuen Oberstufe. Gemeint sind damit klar definierte Stoffgebiete, die in einem transparenten Grundkompetenzenkatalog zusammengefasst wurden. Aufgrund der neu eingeführten Antwortformate (siehe Link ab Seite 26) werden Grundkompetenzen auch in vielen Varianten und eben nicht nach Schema-F abgeprüft und sollten daher zu 100 Prozent beherrscht werden. 

Ich kann mir gut vorstellen, dass diese Antwortformate aus Sicht eines Erwachsenen nicht allzu großes Erstaunen hervorrufen werden. Aus Sicht von Schülern – die neben Mathematik auch noch mehr als zwei Handvoll andere Fächer haben – schon. Mathematische Zusammenhänge werden vernetzt und äußerst präzise abgefragt. Ein Beispiel: Man möge die richtige(n) Aussage(n) aus fünf möglichen anzukreuzen. Nur wer exakt die richtigen Aussagen wählt, bekommt die vollen Punkte. Friss oder stirb. Ein Kreuz zu viel oder zu wenig macht alles zunichte. Auch wenn man sich ja eigentlich eh auskennt ...

Beispiel für mathematische Grundkompetenzen. Schon in der 3. Klasse Unterstufe.
Foto: Rainer Saurugg

Kein Schema-F-Denken mehr

Ich möchte an dieser Stelle so ein typisches Antwortformat präsentieren, allerdings ohne mathematische Inhalte. Wir nehmen ein einfaches Stoffgebiet, nämlich Wochentage und Monate, und übertragen die Logik auf den Grundkompetenzen-Teil einer Schularbeit.

So könnte heute ein Beispiel aussehen. Zugegebenermaßen habe ich es etwas auf die Spitze getrieben, aber der Kern ist auf jeden Fall erkennbar.

Kreuzen Sie die zutreffende(n) Aussage(n) an:

  1. Es gibt mindestens zwei Wochentage, in denen ein "r" im Namen vorkommt.
  2. Wenn in einem Kalenderjahr der Monat Februar 28 Tage hat, dann ist dieses Jahr immer ein Schaltjahr.
  3. Genau ein Wochentag und genau zwei Monate beginnen mit den Buchstaben "M".
  4. Höchstens zwei Monate tragen den Buchstaben "l" im Namen.
  5. Juni, Juli und Oktober haben mehr als 30 Tage.

Wie ist es Ihnen ergangen? Wie lang mussten Sie nachdenken, obwohl Sie bestimmt jahrelange Routine bei diesem Stoffgebiet besitzen?

Da Sie selber ein bisschen nachdenken mussten, verstehen Sie auch, wie es österreichischen Schülern seit der Umstellung geht. Wie Sie sehen, erreichen Sie bei diesem Prüfungsdesign mit Schema-F-Denken gar nichts mehr. Die sprachliche Kompetenz wird durch den Einsatz der Wörter "genau", "höchstens" und "mindestens" mit auf die Probe gestellt. Auch das logische Verständnis, dass die gesamte Aussage nur dann richtig sein kann, wenn alle Teile richtig sind, ist mit dabei. Teillösungen werden nicht honoriert. Auch falls Sie sich bemüht haben ...

Klassisches Rechnen, neue Herausforderungen

Nachdem jetzt ersichtlich ist, was Grundkompetenzen sind und welche Änderungen sie mitsichgebracht haben, wird auch die eingangs erwähnte Doppelbelastung verständlicher. Der frühere Mathematikunterricht fokussierte sich stark aufs Rechnen. Ein Verständnis für die Materie wurde noch am ehesten bei der mündlichen Mathematikmatura verlangt. Es hat also nur wenige betroffen.

Im Gegensatz dazu sind heute alle AHS-Maturanten davon betroffen. (Anmerkung: Die schriftliche BHS Matura ist auch zentral, hat aber bei dieser Grundkompetenzen-Challenge nicht mitgemacht. Die haben anscheinend den Ball flach gehalten.)

Der heutige Unterricht soll nun zum einen mehr Zeit für diese Herausforderungen einräumen und zum anderen immer noch das klassische Rechnen vermitteln. Für mich, der beruflich bedingt Einblick in die schulische Praxis hat, ist es aber schleierhaft, wie dieser Spagat vollbracht werden soll. Und von wem. Irgendwas bleibt auf der Strecke, da die Unterrichtszeit seit je her gleichgeblieben ist. Und echte schulische Fördermaßnahmen sind nicht einmal Thema. Da fehlen der politische Wille und natürlich das Geld.

Mathe als ganzheitliches Verständnis

Schlussendlich möchte ich anmerken, dass ich ein Befürworter der neuen Zentralmatura bin. Es erscheint mir für die Zukunft junger Menschen sinnvoller, wenn mathematische Kompetenzen in unterschiedlichen Kontexten und mit unterschiedlichen Methoden angewandt werden. Vor allem das Darüber-Auskunft-geben-können ist eine Bereicherung im Sinne eines ganzheitlichen Verständnisses. Im besten Fall werden seit Einführung der Zentralmatura nun ein paar hirnlose Ellipsen weniger rotiert, in die ein volumsgrößter Kegel einzuschreiben wäre. Falls sie zukünftigen Studenten auf der TU tatsächlich fehlen sollten, bin ich voller Zuversicht, dass Sie trotzdem damit klarkommen werden. Dem großen Rest der Maturanten werden sie bestimmt nicht fehlen. (Rainer Saurugg, 2.3.2018)

P.S. Natürlich bekommen Sie die Lösungen zur Verfügung gestellt. Die Antworten 1 und 4 sind richtig. Warum die anderen drei Aussagen falsch sind, kann ich jetzt aus Zeitmangel leider nicht erklären. Am besten Sie fragen jemanden, der sich auskennt.

P.P.S. Das Bild mit den Aussagen zu Vierecken ist übrigens aus einer 3. Klasse Unterstufe eines Grazer Gymnasiums. Zu diesem Zeitpunkt werden üblicherweise Umfänge und Flächeninhalte von ebenen Figuren berechnet. Anscheinend beginnt dort bereits die Vorbereitung auf die Oberstufe, die wiederum als Vorbereitung auf die Matura dient. ALLES KLAR???

+++ 6.3.2018 NACHTRAG: Aufgrund der vielen Kommentare wurde ich aufmerksam gemacht, dass in meinem Beispiel Aussage 4 falsch sei. Danke an dieser Stelle! Mir ist hier als "Aufgabensteller" ein Fehler unterlaufen! Das tut mir leid. Auch das kann Lehrern passieren ;-)

Die Wahl eines kleinen "L" war natürlich suboptimal, da es optisch nur schwer zu unterscheiden ist. Sorry! 

Bin als Blogger erst jung im Geschäft. Werde daher zukünftig auf mögliche Inkonsistenzen achten.