Auszug aus der 42-seitigen Berufung der Grazer Staatsanwaltschaft gegen den Freispruch des Arztes L.

Widersprüchlichkeiten, Auslassungen, Stillschweigen und "unsachlich tendenziöse" Formulierungen in der Urteilsbegründung: Der umstrittene Freispruch des Grazer Richters Andreas Rom, den dieser im Herbst 2017 zugunsten des Arztes Eduard L. fällte, wird von der Staatsanwaltschaft Graz zerpflückt. Die nun dem STANDARD vorliegende Berufung weist auf 42 Seiten auf zahlreiche Ungereimtheiten und Sinnwidrigkeiten hin, die das Urteil aus Sicht der Anklagebehörde unhaltbar machen.

Dem steirischen Landarzt und Bruder eines prominenten Politikers wird von seinen vier heute erwachsenen Kindern vorgeworfen, sie über Jahre körperlich und psychisch gequält, teils medikamentenabhängig gemacht und ihnen damit nachhaltig psychischen Schaden zugefügt zu haben.

Arzt des Skiteams

Unter anderem soll L., der auch Teamarzt des österreichischen Skiteams war, sich einen Schraubenzieher in den Bauch gerammt haben, den eine der Töchter entfernen musste, sich Nägel in den Penis gehämmert haben und immer wieder mit Selbstmord – abwechselnd durch Erschießen oder Erhängen – gedroht haben. Die Kinder, die auch angeben, in der Kindheit Zigaretten, Alkohol und verdorbene Lebensmittel verabreicht bekommen zu haben, sollen aus Angst, der Vater tue sich etwas an, über Jahre geschwiegen haben.

Die Staatsanwaltschaft stellte "wegen vorliegender Nichtigkeitsgründe und des Ausspruchs über die Schuld" den Antrag, das Verfahren in die erste Instanz zurückzuverweisen und Beweise wie Tagebuchaufzeichnungen einer der Töchter sowie die Einvernahme von Sachverständigen zuzulassen. Der Richter hatte in seiner schriftlichen Urteilsbegründung konstatiert, die Kinder und die Ex-Frau des Mediziners seien nicht glaubwürdig, der Angeklagte selbst aber schon. Letzteres, weil er Katholik sei und in die Kirche gehe.

Widersprüche

Dass das Erstgericht den Angeklagten als glaubhaft einschätzte, ihn aber freisprach, ist einer der Widersprüche, die die Staatsanwaltschaft eingehend darstellt. Denn der Angeklagte selbst hatte am ersten Verhandlungstag im Jänner 2017 sowie bei Einvernahmen durch die Polizei Taten zugegeben, die ihm seine Kinder vorgeworfen hatten.

Zudem wurde das von der Familie geschilderte manipulative Verhalten des Vaters auch von der bekannten psychiatrischen Gutachterin Adelheid Kastner bestätigt. Kastner hatte ihm auch eine "masochistische Disposition" attestiert sowie Defizite in der "emotionalen Selbstwahrnehmung" und der "differenzierten Wahrnehmung anderer". Kastners Gutachten hatte der Richter selbst in Auftrag gegeben.

Zwischen Realität und Fiktion

In seiner Urteilsfindung spielte diese professionelle Beurteilung des Beschuldigten aber offenbar keine Rolle. Dafür wurden Gutachten, die den Kindern nachhaltigen Schaden attestierten, nicht ernst genommen. Vielmehr wurden sie gleichzeitig vom Richter als eiskalt "kalkulierend" dargestellt, an anderer Stelle sprach er ihnen aber die Fähigkeit ab, zwischen Realität und Fiktion unterscheiden zu können.

Wichtigen Zeugen sowie Transkripten von Tonbandaufnahmen, auf denen der Arzt selbst angibt, mehrfach am Tag an Suizid zu denken, "volldicht" durch gespritzte Medikamente durch den Alltag zu gehen und "krank" zu sein, wurde keine Beachtung geschenkt, wie in der Berufung, die der Leiter der Staatsanwaltschaft, Thomas Mühlbacher, unterschrieben hat, kritisiert wird.

Die Kinder von L. zeigten Richter Rom bei der Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft wegen Amtsmissbrauchs an. Auf STANDARD-Nachfrage bei der WKStA hieß es am Montag, dass die Einleitung eines Verfahrens gegen Rom noch nicht entschieden sei. (Colette M. Schmidt, 22.1.2018)