Eins
Eine Illustration von Stefanie Sargnagel

Stefanie Sargnagel (32), Autorin und Künstlerin, studiert an der Akademie der bildenden Künste bei Daniel Richter, wurde 2016 beim Wettlesen um den Ingeborg-Bachmann-Preis mit dem BKS-Bank-Publikumspreis ausgezeichnet, war 2017 Klagenfurter Stadtschreiberin, publizierte unter anderem "Binge Living. Callcenter Monologe", "Fitness" und "Statusmeldungen". Sie ist Mitglied der "Burschenschaft Hysteria".
Illustration: Stefanie Sargnagel


Zwei
Ein Gstanzl von Attwenger

Attwenger: Markus Binder (54): Text & Percussion, Hans-Peter Falkner (50): elektronische Harmonika. Beide singen. Letztes Album: "Spot". attwenger.at
DER STANDARD


Drei

Der 100. Jahrestag der Gründung der Republik Deutschösterreich sollte ausgiebig gefeiert werden. Eine Feier zum 200. Jahrestag der Republik wird es nicht mehr geben.

Konrad Paul Liessmann (64), Philosoph, der an der Uni Wien lehrt, Essayist und Kulturpublizist.
Foto: APA / Neumayr / MMV


Vier

Die Schönheit der Dinge, der Werkzeuge, der Orte und der Städte wird in den nächsten hundert Jahren in Österreich wieder an Wichtigkeit gewinnen. Sie war durch die gesamte Geschichte unserer Region wichtig und hat nur in den letzten hundert Jahren stark abgenommen. Derzeit gibt es kaum österreichische Architekten, Gestalter oder Designer, die die Schönheit als ein Ziel ihrer Arbeit sehen. Da sie aber Teil unseres menschlichen Selbstverständnisses ist – wir haben schon in der Steinzeit vollkommen symmetrische Steinbeile gefertigt, ohne dass diese Tropfenform deren Funktion verbesserte -, wird die formale Intention dazu führen, dass wir vernachlässigte Orte – von Autobahnabfahrten bis zu Wohnblöcken, von Werkzeugen bis zu Webseiten – wieder lebenswert gestalten werden.
Wir werden uns wohler fühlen.

Stefan Sagmeister (55), Grafikdesigner, lebt und arbeitet in New York. Er hat u. a. für die Rolling Stones, die Talking Heads, Lou Reed und Aerosmith CD-Covers entworfen und wurde zweimal mit einem Grammy für seine Album-Designs ausgezeichnet. Im Herbst 2015 war "The Happy Show" im Mak in Wien zu sehen, "The Happy Film", eine filmische Suche nach dem Glück, lief 2016 beim Tribeca Film Festival.
Foto: Andy Wenzel


Fünf

2118 wäre unser Hof, wenn er weiter von Generation zu Generation vererbt wird, 404 Jahre in Familienbesitz. Vermutlich wird das Höfesterben unter den Kleinbetrieben stetig mehr werden. Immer neue Auflagen erschweren die Weiterführung und erzwingen immer neue Investitionen. Wir Kleinbetriebe können bei der Preisentwicklung unserer Güter nicht mit den "Großen" mithalten. Wünschenswert wäre ein Umdenken auf politischer Ebene und bei den Endverbrauchern – von Intensivtierhaltung und deren preiswerten Produkten zu extensivem Wirtschaften und bewussterem Konsum.

Birgit Wieser-Muigg (33, mit Sohn Andrä), Landwirtin, Sozialarbeiterin, aus Steinach am Brenner.
Foto: privat


Sechs

Foto: Ondrisek
Barbara Ondrisek (38), Softwareentwicklerin (electrobabe.at), entwickelte mit "Mica, The Hipster Cat Bot" den ersten Facebook-Chatbot aus Österreich, einen künstlichen Konversationspartner, der mit Lokaltipps aushilft. Ihr Beitrag ist ein Konfigurationsfile für ein futuristisches Internet 2.0 – mit ein paar IT-Insider-Jokes. Einen lösen wir auf – die erste Zeile heißt: "Wenn man 'Google' in Google eingibt, zerstört man das Internet" – ein Gag aus der TV-Serie "The IT Crowd".
Foto: ondrisek


Sieben

Kaufen Sie Ihren Kindern Wohnungen am Gürtel! Warum? Durch neue Organisationsformen verschmelzen in den Städten öffentlicher und privater Verkehr, z. B. durch ein alle Verkehrsmittel übergreifendes elektronisches Ticket und die gemeinsame Nutzung verschiedener Fahrzeuge. Weniger Autos bringen so mehr Menschen pünktlich und komfortabel an ihr Ziel, und Parkplätze werden eingespart. Neue Antriebstechnologien sorgen außerdem für leise Fahrzeuge ohne Abgase und die zunehmende Automatisierung für einen gleichmäßigeren Verkehrsfluss ohne quietschende Bremsen und ungeduldiges Hupen. Wenn Ihre Enkel dann 2118 die Fenster in ihrer frischrenovierten 200 Jahre alten Wohnung am Gürtel öffnen, blicken sie auf grüne Alleebäume, atmen frische Luft und hören nur noch ein leises Rauschen von wenigen Fahrzeugen.

Damit das funktioniert, wird es kompliziert einfach: kompliziert für die Menschen, die im Hintergrund am Verkehrssystem arbeiten, weil sie eine Vielzahl an unterschiedlichen Komponenten – von selbstfahrenden Autos über Fahrradleihsysteme bis zu Drohnen für Medikamententransporte – koordinieren müssen. Aber einfach für alle anderen, die routinemäßig Mobilität einfach als Dienstleistung nutzen und sich nicht darum kümmern müssen, dass es für sie und die Umwelt passt.

Katja Schechtner (44) ist Architektin, Stadtplanerin und Mobilitätsexpertin, die als Research Fellow am Massachusetts Institute of Technology Senseable City Labin Boston arbeitet sowie als Gastprofessorin an der Technischen Universität Wien lehrt und forscht.
Foto: Heribert Corn


Acht

Blicke und Prognosen, die Zukunft betreffend, sind per se sinnlos. Und sollte tatsächlich jemand recht behalten (zum Beispiel: ich), wäre der Ruhm dennoch nicht mehr einzuheimsen ... Vogelknochenwerfer, Kaffeesudleser, Wetterfrösche und sonstige Alchimisten der Zukunft ziehen den Profit aus ihrer Scharlatanerie ja immer nur aus dem Verhältnis ihrer Vorhersage zur unmittelbaren Gegenwart. Der Blick auf das Jetzt trübt den Blick auf das, was sein wird. Dadurch wird es zu etwas, was sein sollte. Und umgekehrt. Verwirrend? Ganz klar!

Ich habe absolut keine Ahnung, was im Jahr 2118 im Burgtheater auf dem Spielplan stehen wird! Aber wenn ich wollte, dass sich jetzt schon etwas ändert (und das will ich ausgewiesenermaßen), sehe ich mich zu folgender düsterer Prognose genötigt: In hundert Jahren steht das Burgtheater auf jeden Fall noch! Es wird allerdings ein sehr dunkles, schwarzes Gebäude sein, nur von Kerzen und Kienspänen beleuchtet. Karten wird es nur auf dem Schwarzmarkt zu horrend hohen Preisen geben (die staatliche Subvention wurde in den frühen 30er-Jahren komplett abgeschafft), und die Termine für die "Vorstellungen" werden als Grafittis in Geheimschrift auf die Wände gesprüht werden. Wer es also ins "Theater" geschafft hat, wird durch geheime Gänge und über nur mehr ahnbare "Feststiegen" in Räume geführt werden, wo jedem seltsame, fast mikroskopisch kleine Goldfische in die Venen gespritzt werden.

Im Zuschauerraum und in den Logen brennen Holzfeuer, die "Zuschauer" sind nackt und schwitzen wegen der Hitze und der Droge in ihrem Körper; die Fischlein haben mittlerweile den Weg bis zum Gehirn geschafft. Auf der Bühne stehen: echte Menschen aus Fleisch und Blut! Früher hießen sie "Schauspieler", aber Texte sprechen und Stücke spielen sie schon lange nicht mehr. Eine Zeitlang hatte man sich noch mit "Performance" über Wasser gehalten, später, in den 2040er-Jahren, hatte man mit den alten Gladiatorenkämpfen experimentiert, aber da waren die Hologramme dann doch viel schneller und blutrünstiger gewesen. Ein gewisser Martin Kusej hatte es 2041 noch geschafft, das Wagenrennen aus Ben Hur mit echten Pferden und Schauspielern im Burgtheater zu inszenieren – das war dann aber auch das Ende der großen Aufführungen gewesen.

Nein, in hundert Jahren werden die "Schauspieler" auf der Bühne nichts anderes mehr tun als: sein! Sie werden zum Beispiel weinen. Ja, sie werden echte Tränen produzieren, weil sie spielen, dass sie traurig sind, dass sie sich freuen, dass sie verliebt sind oder dass ein wichtiger Mensch verstorben ist. Sie werden echte Trauer erzeugen können, viel besser als die Computer und Emotionschips im Gehirn der Zuschauer, deren Funktion durch die kleinen Fische in der Blutbahn außer Kraft gesetzt wurden. Die Darstellerinnen und Darsteller haben alles drauf: Schwitzen, Lachen, Kopulieren, sie können sämtliche Körperflüssigkeiten immer noch erzeugen, ja, es gibt tatsächlich auch Szenen auf Toiletten, denn keiner der Zuschauer hatte je erlebt, dass seine automatisch gesteuerte Verdauung und Entleerung zurück in den Organismus nicht problemlos funktionierte.

Die Vorstellungen sind anstrengend und lange. Am Ende gibt es noch lustige "Satyr-Spiele", denn die beim Lachen erzeugten Tränen sind das Kostbarste und Teuerste, das es noch "leibhaftig" zu erleben gibt. Schließlich, wenn die Feuer und Kerzen heruntergebrannt sind, gehen alle leise und fast andächtig aus der Dunkelheit wieder nach draußen in die helle schöne, neue Welt.

Österreich wird dann übrigens nur noch eine Provinz in einem "Vizegrad" genannten Reich sein, das im Südosten Europas liegt. Das "Reich", zu dem auch die Ukraine, Weißrussland und Kasachstan gehören, hatte sich vom restlichen Europa abgetrennt, weil es seine Energie nach wie vor nur aus fossilen Brennstoffen gewinnen wollte und weiterhin Plastik produzierte. Es wird von einer reichen, elitären und gewaltbereiten Clique regiert, die sich übrigens permanent von Hellsehern und Wahrsagern beraten lässt. Nach außen hat sich das Reich mit einer Art Demarkationslinie aus Beton, Stacheldraht und Minen abgeschottet. An den Grenzen gibt es Lager, in denen ausreisewillige Österreicher viele Jahre "konzentriert" festgehalten werden.

Martin Kušej (56), Theater- und Opernregisseur, leitete 2005/06 den Bereich Schauspiel der Salzburger Festspiele und ist seit der Spielzeit 2011/12 Intendant des Residenztheaters in München. Im Juni 2017 wurde er ab der Saison 2019 zum Direktor des Burgtheaters in Wien bestellt.
Foto: APA / Hans Punz


Neun

Die Medizin der Zukunft wird personalisiert sein, also individuell zugeschnitten auf unsere genetischen Eigenschaften (die wir von unseren Eltern geerbt haben), unsere genetischen Erfahrungswerte (die wir im Laufe des Lebens ansammeln) und unsere immunologische Geschichte (die Begegnungen unseres Immunsystems). Zukünftige Therapien werden berücksichtigen, dass wir als Individuen das Resultat eines lebenslangen Dialogs zwischen unseren Genen und der Umwelt sind. Diese Umwelt erfahren wir in konzentrierter Form über die Nahrung: Was wir essen und trinken, wandert, mehr oder minder von Bakterien verarbeitet, durch unseren Körper, bis es schließlich unsere Zellen füttert und wäscht. Unsere Gene baden dabei in der "Brühe", die wir täglich aus der Umgebung gewinnen und die ihre Aktivität stark beeinflusst.

Es ist durchaus vorstellbar, dass wir unseren molekularen Zustand in Zukunft ständig über Ausscheidungen und andere nichtinvasive Methoden messen werden. Roboter könnten unsere Nahrung individuell kalibrieren und durch täglich errechnete Zusatzstoffe ergänzen. Das ermöglicht ein Leben, das uns mit molekular inspirierter Ernährung und weniger, dafür besser auf uns abgestimmten Medikamenten – gepaart mit körperlicher Aktivität – bis ins hohe Alter gesund halten wird.

Giulio Superti-Furga (55), Molekular- und Systembiologe, ist seit 2005 wissenschaftlicher Direktor des Forschungszentrums für Molekulare Medizin (CeMM) der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und lehrt als Professor für Molekulare Systembiologie an der Medizinischen Universität Wien.
Foto: Heribert Corn


Zehn

In hundert Jahren werden die Österreicher viel klüger, gesünder, wohlhabender und auch glücklicher sein als heute. Rund zehn Millionen Menschen werden urbaner und die Zuwanderer besser gebildet und besser integriert sein. Wir werden älter an Jahren, aber gleichzeitig länger gesund und geistig fit sein. Wir werden produktiver sein, weniger arbeiten und mehr Zeit für die Pflege von persönlichen Beziehungen, Sport und geistig anregenden Hobbys haben. Unser Konsum wird sich von material- und energieintensiven Produkten auf Dienstleistungen verlagern, die die Lebensqualität erhöhen, und mit grüner Technologie werden wir CO2-neutral leben und flexibel genug sein, die Folgen des bereits unvermeidlichen Klimawandels zu bewältigen.

Voraussetzung dafür ist, dass wir heute die Weichen richtig stellen und verstehen, dass das Gehirn das wichtigste Organ für eine bessere Zukunft ist. Wir brauchen es, um vorausschauend gut für uns selbst und andere sorgen zu können, freier Entscheidungen zu treffen und wirtschaftlich im globalen Wettbewerb gute Karten zu haben. Und das Gehirn als Sitz der kognitiven und emotionalen Fähigkeiten muss vom ersten Lebenstag an gepflegt und entwickelt werden. Gerade bei der frühkindlichen Entwicklung muss daher die Gesellschaft viel stärker als bisher in allen Schichten unterstützend eingreifen. Gute Schulen sind für die Realisierung dieses Szenarios extrem wichtig, aber entscheidende Grundlagen der Brain-Power werden schon beim Kleinkind gelegt.

Wir werden dann auch klug genug sein, um zu verstehen, dass Solidarität und sozialer Zusammenhalt für jeden Einzelnen besser sind als eine Ellbogengesellschaft mit großer Ungleichheit. Das wird mit gut gebildeten und fit gehaltenen Gehirnen besser gelingen.

Wolfgang Lutz (61), Demograf, hat nach der Verleihung des Wittgensteinpreises im Jahr 2010 das Wittgenstein Centre for Demography and Global Human Capital in Wien gegründet.
Foto: Heribert Corn