Als externe Unterstützungseinheit bekomme ich seit vielen Jahren alle Entwicklungen zu spüren, ohne dass ich darauf irgendeinen Einfluss hätte, noch diese Verhältnisse hätte gestalten können. Ich bin quasi ein Zuschauer geworden, der durch elterliches Geld immer wieder Plätze im Theater des (Schul-)Lebens finanziert bekommt und zuschauen darf und muss, was auf der Bühne so alles passiert.

Seit mehr als zehn Jahren bin ich als hauptberuflicher Nachhilfelehrer in Graz tätig. Da es im Mai 2018 zum wiederholten Mal zu einer schriftlichen Zentralmatura im Fach Mathematik kommen wird, möchte ich den Moment für eine persönliche Betrachtung nützen.

Aus Sicht des Nachhilfelehrers – Klappe die erste – war die alte Mathematik-Matura eine Vorbereitung auf eine mehr oder weniger überraschungsarme Routinearbeit. Es war grundlegend klar, welche fünf oder sechs "großen" Beispiele in einer AHS kommen würden. Das Ziel war ein reflexartiges Herunterrechnen. Deshalb galt es ja, vorher die klassische Sammlung an Maturabeispielen einmal durchzuüben. Dann könne ja nichts mehr schiefgehen.

Die Mathematik-Matura hat sich grundlegend verändert. Zum Positiven?
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Mathematik-Matura neu

Heutzutage liegt der Anteil an Rechnungen bei der schriftlichen Mathematik-Matura bei weniger als 20 Prozent. Um eine positive Note zu erlangen, müssen zwei Drittel der 24 Grundkompetenzen-Beispiele der ersten Hälfte erfolgreich gelöst – oder besser gesagt angekreuzt – werden. Diese 24 Beispiele setzen sich – grob vereinfacht gesagt – aus vier Bereichen zusammen: Algebra, Funktionen, Analysis und Wahrscheinlichkeitsrechnung.

In jedem der vier Bereiche gibt es wiederum eine Handvoll Themen, zum Beispiel innerhalb der Funktionen finden wir unter anderem die linearen und quadratischen Funktionen, wie auch die Polynom- und Exponentialfunktionen. Das Besondere beziehungsweise die Herausforderung dabei ist, dass jedes Thema auf unterschiedliche Arten abgeprüft werden kann. Alleine die linearen Funktionen können in Form von Graphen, Wertetabellen, Funktionstermen, modellierten Situationen gegeben oder gefragt werden. Darüber hinaus muss das Verständnis für diese Form der funktionalen Abhängigkeit auch in eigene Worte gefasst werden können. Klingt sportlich.

Was ist nun die Quintessenz dieser Analyse?

Aus Sicht des Nachhilfelehrers – Klappe die zweite – wird es zunehmend schwieriger, manchmal auch unmöglicher, die Schüler verlässlich mittels eines Crashkurses auf die nächste Schularbeit vorzubereiten. Wo früher in der Oberstufe schon ein paar Nachhilfestunden für eine positive Note gereicht haben, zeigt sich gerade in diesen paar Stunden erst, was alles an Rechen- und Verständnisfertigkeiten noch offen geblieben ist. Heutige Oberstufenschüler müssen zu jedem Thema eigentlich alles wissen. Es reicht ein "Ich kenn mich eh aus!" einfach nicht mehr.

Dazu kommt noch, dass aufgrund der typischen Blockpunkte-Bewertung gleich alle Punkte pro Beispiel verloren gehen, egal ob die Schüler ein bisschen oder sogar ein bisschen mehr gewusst hätten. Zusätzlich verschärft wird das Ganze noch dadurch, dass zu einer typischen Schularbeit in der Oberstufe regelmäßig meistens alle bisherigen Grundkompetenzen der früheren Schularbeiten auch am Stoffzettel zu finden sind. Ein "Ich lerne jetzt für diese Schularbeit" wird dadurch obsolet.

Matheunterricht als Doppelbelastung

Aus Sicht des Nachhilfelehrers – Klappe die dritte – stellen vor allem die technischen Hilfsmittel das nächste Corpus Delicti dar. Nicht nur, dass aufgrund der Kompetenzorientierung jedes Beispiel für eine richtige Antwort hundertprozentig gekonnt werden muss, sondern auch dadurch, dass die Rechenfertigkeiten quasi immer noch so beherrscht werden sollten wie im Jahre Schnee, wird der Mathematikunterricht in der Oberstufe zu einer Doppelbelastung. Und zwar mit Anlauf.

Es müssen Taschenrechner für jenseits der 100 Euro angeschafft werden. Zusätzlich wartet GeoGebra am PC als technisches Hilfsmittel. Und wofür? Damit quadratische Gleichungen händisch gelöst werden? Damit mehrfach verschachtelte Logarithmus-, Wurzel- und Potenzrechenbeispiele unter Angabe aller Rechenschritte "gelöst" werden müssen? Damit alles so bleibt, wie es war?

Leider ist nichts davon eine Vorbereitung auf die Zentralmatura, nie mehr wird diese Form von "Wissen" benötigt. Die Zeit, die dabei im Unterricht gespart werden könnte, wäre ja gut investiert in Richtung Analysieren, Modellieren, Interpretieren, Beurteilen und Entscheidungentreffen: Das sind alles gefragte Tugenden der neuen Matura, die plötzlich oder eben seit ein paar Jahren nebenbei im herkömmlichen Unterricht Platz haben sollten. Falls doch nicht, dann gibt es ja den Nachhilfelehrer.

Am Beispiel der quadratischen Lösungsformel lässt sich zeigen, wie wichtig es aktuell wurde, ein genaues Verständnis dafür zu haben beziehungsweise haben zu müssen: Welche Variable entscheidet dabei alleine oder im Verbund mit anderen Variablen, wie viele Lösungen welcher Zahlenmenge theoretisch am Ende herauskommen könnten oder nicht. Das Theoretisieren ist mindestens genau so schwierig und herausfordernd für unsere Schüler, wie das bloße Rechnen und Anwenden dieser Formel. Mit dem Unterschied, dass meine Generation (Maturajahrgang 1996) diese Beispiele lediglich herunterrechnen musste. Heute sollen unsere Kinder plötzlich beides und alles können.

Am herzerwärmendsten sind für mich dann die Rückmeldungen meiner Schüler, wenn ihnen in der Schule gesagt wird, dass das Lösen der Grundkompetenzen eh nur logisches Denken erfordert. Echt praktisch: Das bräuchte dann ja eh niemand zu üben.

Taschenrechner oder nicht?

Aus Sicht des Nachhilfelehrers – Klappe die vierte – werden mancherorts schon Veränderungen spürbar. Es gibt aber noch vieles zu tun. Für mich ist es immer wieder spannend zu sehen, wie unterschiedlich ein und derselbe Stoff gehandhabt wird: 

Während die einen in der 6. Klasse der Oberstufe die berühmten Wachstums- und Zerfallsbeispiele per Hand rechnen müssen, dürfen andere ihren teuren CAS-Taschenrechner benutzen, der den Wert jeder Variablen einer Exponentialgleichung ohne Wimpernzucken berechnet. Das wirklich Lustige/Schräge/Hinterfragenswerte daran ist ja, dass die Schüler im ersten Fall den selben Taschenrechner neben sich liegen haben, ihnen aber nie beigebracht wurde, ihn richtig zu benützen. Und obendrein beherrschen viele Lehrer – die den Kauf befürworten – die Benützung dieses technischen Hilfsmittels selber nicht. Möchten die Lehrer im ersten Fall das "Gute", also das händische Rechnen, bewahren? Sind die Lehrer im zweiten Fall "viel zu modern" und zu oberflächlich eingestellt? Diese Fragen ziehen sich für mich wie ein roter Faden durch den ganzen Oberstufenstoff. Und damit auch durch meine Arbeit.

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Anpassung an die neuen Gegebenheiten 

Aus Sicht des Nachhilfelehrers – Klappe die fünfte – ist es als systematisch anzuerkennen, dass die Mehrheit der Schüler durch die Nachhilfe an die Anforderungen der Schule angepasst werden: Die Anzahl der wöchentlichen Mathematik-Stunden blieb gleich. Die Prüfungsmodalitäten bei den Schularbeiten wurden aber komplett anders und das konkrete Verständnis für die Materie und deren Zusammenhänge wurden zur Pflichtübung. Viel zu wenig geändert haben sich auf der anderen Seite: Der faktische Unterricht, die lieblosen Schulbücher und die mancherorts fehlende Idee seitens der Lehrer zur Anpassung des eigenen Unterrichts an die neuen Gegebenheiten.

Aus Sicht des Nachhilfelehrers – Klappe die sechste und letzte – braucht es aber auch dafür ein neues Verständnis seitens der Eltern. Wenn das Kind eine Woche vor der Schularbeit den Stoffzettel bekommt und erst dann ein Nachhilfelehrer engagiert wird, wird sich das einfach nicht mehr ausgehen. Zum einen gibt es fast überall nur mehr zwei Schularbeiten pro Semester, womit die Stoffmenge jedes Mal deutlich umfangreicher wurde. Zum anderen gibt es keine isolierten Stoffgebiete mehr, sondern ein ständiges Abfragen aller bisherigen Grundkompetenzen zusätzlich zum aktuellen Stoff. In einer Woche will das kein Nachhilfelehrer in irgendein Kind "hineinunterrichten" müssen. Auch nicht für Geld. (Rainer Saurugg, 2.2.2018)