Wien – Eine Praktikantin steht im Labor von "Psychasec" und ist kurz davor, ihren ersten Beutel zu öffnen. Sie reißt die Vakuumverpackung auf, heraus rinnt grauer Schleim. In dem Plastikbeutel beginnt ein nackter Mann, wild zu zucken. Ob das normal sei, fragt die Praktikantin. "Keine Panik", sagt der Laborkollege, "die zappeln wie Fische. Insbesondere wenn sie gewaltsam ums Leben gekommen sind."

Joel Kinnaman spielt den Elitesoldaten Takeshi Kovacs in seinem zweiten Leben.
Netflix

Der Mensch im Plastikbeutel ist der Elitesoldat Takeshi Kovacs, der vor 250 Jahren in einem Kugelhagel starb. In der Welt der neuen Netflix-Serie Altered Carbon kein Problem. Denn sterben ist dort höchstens lästig, aber nicht mehr tödlich.

Bewusstsein und Persönlichkeit sind auf einem blau funkelnden Chip gespeichert, der in die Wirbelsäule implantiert wird. Solange der sogenannte "Stack" unbeschädigt bleibt, spricht nichts gegen ein zweites, drittes oder zehntes Leben.

Zumindest theoretisch. Denn auch wenn das ewige Leben grundsätzlich jedem offensteht, altern Körper weiterhin. Klone oder "Sleeves", wie gut erhaltene Leichen genannt werden, sind Mangelware – und damit teuer. Ohne das notwendige Kleingeld kommt man also auch mit der Unsterblichkeit nicht weit.

Unsterblich reich

"Meths" heißen die Angehörigen der Oberschicht, wie Methusalem, der ja, glaubt man dem Alten Testament, fast 1000 Jahre alt wurde. Einer der unsterblich Reichen ist Laurens Bancroft (James Purefoy), der schon mehr als 300 Jahre auf unterschiedlichen Buckeln hat. Er finanziert Kovacs' Wiederauferstehung, im Gegenzug soll er einen Mord aufklären – und zwar jenen an Bancroft selbst.

Kovacs soll für Laurens Bancroft (James Purefoy, rechts) seinen eigenen Mord aufklären.
Foto: Netflix

In seinem alten Leben war Kovacs Halbasiate (gespielt von Will Yun Lee). Dass sein Bewusstsein jetzt im Körper von Joel Kinnaman (The Killing, House of Cards) steckt, scheint ihn zunächst wenig zu kümmern. Nur beim genauen Hinsehen merkt man die leichte Unsicherheit und Ungelenkheit – Körper und Geist wollen einfach nicht recht zusammenpassen. Angesichts der Tatsache, dass Kinnaman ja mit seinem "richtigen" Körper spielt, durchaus eine schauspielerische Leistung.

Später plagen Kovacs aber zunehmend Flashbacks. In seinem früheren Leben gehörte er einer Widerstandsbewegung an, die gegen die Herrschaft der Meths ankämpfte – für sie war die neue Technologie künstliche Selektion der Korruptesten und Schlechtesten. Dass Kovacs jetzt für den "Klassenfeind" arbeitet, scheint an seinem Gewissen zu nagen.

In seinem alten Leben war Kovacs (hier als Will Yun Lee, links) in einer Widerstandsbewegung, die gegen die "Meths" und die "Stack"-Technologie ankämpft.
Foto: Netflix

Ein Hotel (ja, ein Hotel) hilft Kovacs, seine Gedanken zu ordnen. Eine künstliche Intelligenz in Form einer Inkarnation von Edgar Allen Poe betreibt die schmuddelige Unterkunft, in der Kovacs als einziger Gast wohnt. Unterstützung bei der Detektivarbeit erhält er außerdem von der Polizistin Kristin Ortega (Martha Higareda), welche nicht von Kovacs' Seite weicht – wohl auch, weil er im Körper ihres verstorbenen Freundes steckt.

Die künstliche Intelligenz Poe (Chris Conner) ist eine Inkarnation des Schriftstellers Edgar Allen Poe und betreibt ein Hotel.
Foto: Netflix

"Blade Runner"-Charme

Nach der soften Science-Fiction-Welt von Black Mirror, die sich nur durch kleine technische Feinheiten von der Wirklichkeit unterscheidet, erschafft Netflix mit Altered Carbon jetzt eine Blade Runner-artige Neo-Noir-Kulisse. Dort, wo früher San Francisco war, ragt jetzt "Bay City" in die Höhe. Während die reichen Meths in Luftschlössern leben, fristen die "Grounds" in den mit Wer- bebildschirmen zugepflasterten Hochhausschluchten ihr trauriges Dasein mit Glücksspiel, Drogen und Virtual-Reality-Eskapismus. Vor fast 15 Jahren sicherte sich Showrunnerin Laeta Kalogridis die Filmrechte an dem 2002 von Richard Morgan veröffentlichten Roman. Sie hat schon Avatar und Shutter Island mitproduziert, Altered Carbon sollte eigentlich ein Kinofilm werden.

Während die Superreichen in ihren Schlössern über den Wolken da ewige Leben feiern, fristeten die "Grounds" in Hochhausschluchten ihr trauriges Dasein.
Foto: Netflix

Die Geschichte zur Serie zu machen war eine gute Entscheidung. Denn auch mit zehn Stunden Spielzeit ist das Tempo hoch genug. Die verzweigte, unlineare Handlung stoppt nur für Ballereien und Sexszenen, die so austauschbar sind wie die Körper in Altered Carbon.

Die Serie zeigt eine düstere Vision einer von Superreichen und Technologiekonzernen kontrollieren Welt. Gleichzeitig deutet sie an, was passieren könnte, wenn durch wechselndes Äußeres Alter, Geschlecht und Ethnie an Bedeutung verlieren. Mit schriller Ausstattung, solidem Plot und überzeugenden Hauptdarstellern ist Altered Carbon jedenfalls ein würdiger Ersatz für die eingestellte Netflix-Serie Sense8. (Philip Pramer, 2.2.2018)