Ein sanfter und diskreter Blick auf hinfällige, schwache und beschwerte Figuren: Milena Michiko Flasar.

Foto: Heribert Corn

Milena Michiko Flasar, "Herr Kato spielt Familie", € 20,60 / 176 Seiten, Wagenbach: Berlin 2018

Foto: Wagenbach

Wien – In Milena Michiko Flasars neuem Roman Herr Kato spielt Familie gibt es einen Pensionisten, der seine alten Arbeitskollegen jeweils in der ersten Monatswoche im Büro besucht, um ihnen zu erzählen, wie er mit dem Motorrad durch das Land braust. In die untergehende Sonne hinein, den Wind im Haar, hinter sich die Stadt, in der sich alle zu Tode strampeln. Wofür eigentlich?

Man ahnt als Leser, und auch die ehemaligen Kollegen des Pensionisten wissen es, dass es diese Reisen nie gab und nicht geben wird. Auch wegen einer schweren Krankheit, von der Ito, so der Name des vermeintlichen Teilzeitrockers, seinen Ex-Kumpeln allerdings nichts erzählt. Einer von ihnen ist Herr Kato, die Hauptfigur des vorliegenden Buches.

Möglichkeitsmenschen

Auch er ist mittlerweile pensioniert und geht mit seiner Lethargie und Selbstgerechtigkeit zu Hause der Frau auf die Nerven. Die Kinder sind erwachsen, in dem zu großen, auf einen Vorortshügel gebauten Haus, für das er so lange gearbeitet hat, ist es still geworden. Trügerisch still.

Die Reise mit der Gattin nach Paris, von der Kato träumt, ist immer noch nicht realisiert, was ihn jedoch nicht davon abhält, Bekannten in den schillerndsten Farben von dem gelungenen Trip zu berichten. Wie Ito ist auch Kato ein Kind von Traurigkeit mit einem Sprung im Herzen, doch als Möglichkeitsmensch im Musil'schen Sinne weiß er: "Auf gewisse Weise ist er in Paris gewesen."

Von der nicht besonders verlässlichen Geliebten namens Illusion hat schon Flasars letzter Roman Ich nannte ihn Krawatte gehandelt, in dessen Mittelpunkt die Träume und Albträume eines zwanzigjährigen Hikikomori standen, also eines jener jungen Männer, die sich in Japan in ihren Zimmern einschließen und den Kontakt zur Familie, zur Gesellschaft auf ein Minimum reduzieren. Mehr als 100.000 Mal wurde das formal und stilistisch überzeugende Buch verkauft.

Realitätskosmetik

Auch der neue Roman der 37-jährigen Autorin, die als Tochter einer Japanerin und eines Österreichers in St. Pölten aufwuchs und heute in Wien lebt, ist in Japan angesiedelt. Und wieder klingen die Themen Familie, Rückzug, Lebenssinnlosigkeit sowie Sehnsucht an. Diesmal aus der Perspektive eines älteren Mannes, der am liebsten die ganze Welt gegen die Wand werfen möchte.

Herr Kato ist nämlich ins Grübeln geraten, unter anderem darüber, was und vor allem wo es sein könnte, das Leben. Es kommt dann in Form einer jungen Frau, Mie, auf ihn zu, die der alte Schwerenöter auf einem Friedhof trifft. Sie ist Inhaberin der Firma Happy Family, die zahlenden Kunden sogenannte "Stand-ins" vermittelt, die für einen Tag freundliche Nichten, Tanten, Großväter, Brüder oder Chefs spielen, die es in dieser Form nicht gibt. Als Lüge will Mie derlei Realitätskosmetik keineswegs verstanden wissen. Nicht um Verfälschung der Wahrheit geht es, sondern um deren Berichtigung.

Der mimisch begabte Pensionist lässt sich breitschlagen und gibt unter anderem einen Nachmittag lang für einen kleinen Jungen den Großvater, der in der realen Welt seinen Enkel nicht sehen will, da er aus einer unerwünschten Beziehung der Tochter mit einem afroamerikanischen GI stammt. Für eine 60-jährige Frau, deren Mann sie so lange "regelrecht zutextete", bis sie psychosomatische Beschwerden entwickelte, die Wissenschaft erfand dafür den schönen Terminus Retired Husband Syndrome, spielt er einen Ehegatten – der kein Wort sagt.

Stilistische Leichtigkeit

Durch die gespielten Rollen und die mit ihnen verbundenen Begegnungen wird Kato nicht nur in andere Leben geführt, sondern auch aus dem eigenen gerissen. Letzteres auch, weil die Gattin plötzlich vom Lehrer im Tanzkurs schwärmt. Diesen Prozess schildert Flasar in dem in der dritten Person erzählten Roman präzis und mit stilistischer Leichtigkeit, wobei auf begrenztem Raum zahlreiche Lebensschicksale angetippt und in ihrem sozialen Kontext gezeigt werden.

Der Blick der Autorin auf ihre hinfälligen, schwachen und beschwerten Figuren ist stets sanft, diskret und nie humorlos. Das ist, wie die guten Dialoge, eine Stärke dieses Buches. Die Autorin hätte allerdings mehr auf sie vertrauen sollen, der mit "Nachher" betitelte Epilog nimmt dem Roman seine Offenheit und den Atem, er umschifft die Klischee- und Lebensratgeber-Klippe nur knapp. (Stefan Gmünder, 9.2.2018)