Man muss auch die Stärken des gegenwärtigen Systems sehen.

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Karl Heinz Gruber hat meine pragmatischen Zweifel an der Sinnhaftigkeit einer flächendeckenden gemeinsamen Schule der Zehn- bis Vierzehnjährigen in Frage gestellt (DER STANDARD, 6.2. 2018). Es war nicht meine Absicht, Gruber "braun anzupatzen". Ich erinnere mich an den Vorschlag einer Referentin eines bildungswissenschaftlichen Kongresses, die aus Gründen der Pietät alle ersucht hat, auf den Begriff der "Selektion" zu verzichten. Sie sprach sich übrigens für die Gesamtschule aus, hatte aber – wenn ich mich richtig erinnere – wie meine Familie Angehörige im Holocaust verloren. Ich halte ihren Vorschlag bis heute für sinnvoll.

Grubers Polemik gegen Minister Heinz Faßmann war unnötig. Tatsächlich können manchmal Fachwissenschaftler über ein und denselben Gegenstand mit jeweils vernünftigen Argumenten unterschiedlicher Meinung sein. Etwa bei der Frage nach den Ursachen: ist das differenzierte Schulsystem wirklich "ein Hauptgrund" für das Auseinanderdriften der Gesellschaft in Subkulturen, wie das Gruber behauptet? Hier kann es in der Ursachenforschung "reasonable difference" geben. Das Beispiel USA legt jedenfalls eine andere Interpretation nahe, denn es gibt dort eine gemeinsame Schule der Zehn- bis Vierzehnjährigen und offensichtlich ein massives Auseinanderdriften der Gesellschaft.

Lehrer schaffen das schon

Gruber wirft mir Unwissenheit vor und betont, dass die Einführung der Gesamtschulsysteme "durchwegs begleitet waren von Reformen der Lehrerbildung, von Lehrerfortbildung, mit der die Lehrerschaft für den aufwendigeren Unterricht einer heterogeneren Schülerschaft 'umgeschult' wurde". Ich bestreite das nicht, sehe aber genau diese Umschulung als Problem. Aus langjähriger eigener Erfahrung als Lehrer, Seminarleiter für fachdidaktische Ausbildung an der Universität Wien und als Betreuungslehrer sowohl von Studierenden als auch von Unterrichtspraktikanten weiß ich, wie sehr noch so gut gemeinte Reformen, die eine Verbesserung der Unterrichtsqualität anstreben, in vielen Fällen völlig wirkungslos bleiben. Es gibt sogar Studien, die die weitgehende Wirkungslosigkeit der Lehrerausbildung für den späteren Beruf vermuten. Deshalb begegne ich der These von Bildungswissenschaftern (manche meinen: jener, die im Elfenbeinturm sitzen), die Lehrkräfte "würden das schon schaffen", mit Skepsis. Am Ende steht doch wieder nur die Überforderung, vor allem in den Ballungsräumen wie Wien, wo die soziale und sprachliche Heterogenität viel ausgeprägter ist als in ländlichen Regionen.

Durch die Hintertür

Zugestanden: Gruber hat offensichtlich recht, dass in England keine "Massenflucht aus dem öffentlichen Gesamtschulwesen in den privaten Sektor" stattgefunden hat. Ich habe aber auch geschrieben, dass es das Phänomen gibt, entweder in eine Privatschule oder in einen wohlhabenden Bezirk mit den besseren Schulen zu wechseln.

Gruber hat die von mir genannten Hauptprobleme einer Umstellung nicht angesprochen: Die hohen Kosten, die wahrscheinlich nicht finanzierbar sind und die De-facto-Segregation wie in vielen Ländern mit Gesamtschulsystemen "durch die Hintertür". Sinnvoller scheint es mir, Geld für die Basics und für ein Supportsystem an den so genannten "Brennpunktschulen" zur Verfügung zu stellen – mit Sozialarbeitern, Therapeuten und Supervision für die Lehrkräfte, auf die – siehe John Hattie – es vor allem ankommt.

Gruber schreibt über das "Ärgernis der sozialen Selektion mit zehn Jahren". Ich vermute, dass die Segregation schon viel früher, nämlich spätestens mit der Volksschule und vielleicht schon im Kindergarten beginnt. Auf dem Papier handelt es sich bei der Volksschule um eine "Gesamtschule", de facto ist sie das schon lange nicht mehr. Wenn Gesamtschule gelingen soll, dann geht das nur, wenn sehr viel Geld investiert wird und dieses sinnvoll eingesetzt wird. In beiderlei Hinsicht habe ich große Zweifel, dass das passieren wird.

Stärken im System

Ich halte es für zweckmäßiger, auch die Stärken des gegenwärtigen Systems zu sehen. Derzeit gibt es immerhin eine hohe Mobilität innerhalb der Schultypen, etwa beim Wechsel in die gymnasiale Oberstufe. Eine Kollegin an meinem Gymnasium erzählte mir unlängst, ihre Kinder werden die NMS ("Neue Mittelschule") in der Nähe – in Niederösterreich – besuchen, weil sie ihrer Meinung nach die bessere Ausstattung, die besseren Lehrkräfte und die netteren Familien hat – und nicht das Gymnasium, das viel weiter entfernt liegt.

Auch hier wird mit den Füßen abgestimmt. Genutzt wird diese Freiheit und das ist wohl sinnvoller, als einen jahrzehntelangen ideologischen Kampf für die gemeinsame Schule – und damit gegen das Gymnasium – immer wieder aufzuwärmen. (Georg Cavallar, 22.2.2018)