Wien – Die erhobene Faust schmerzt. Trotzdem hält ein junges Mädchen beharrlich an der symbolischen Geste des Arbeitskampfes fest; nur kurz reibt sie den schmerzenden Arm, bevor sie die geballte Hand wieder gen Himmel reckt: dem Freund die Hand, dem Feind die Faust!

Videostill aus der Arbeit "Gleitzeit" von Anna Witt aus dem Jahr 2010
Foto: Courtesy Anna Witt, Wien und Galerie Tanja Wagner, Berlin

Wie viel identitätsstiftende Kraft steckt noch in dieser politischen Geste, dem Zeichen internationaler Solidarität und antifaschistischen Widerstands? Das hat sich Anna Witt gefragt. Die 37-jährige, in Wien lebende Künstlerin bat daher Passanten vor Büro- und Gewerbekomplexen, diese Geste für ihre Kamera zu vollführen. Die Dauer ihrer Performance sollte sich danach richten, was sie selbst als angemessen erachteten.

Aber wie viel Zeit räumt der Einzelne einem Symbol ein, das zwar die Kraft des solidarischen Kollektivs beschwört, deren Qualität allerdings unter neoliberalen Maximen dem Begriff der "Eigenverantwortung" geopfert wurde? Was ist adäquat für jemanden, der im Postfordismus selbstbestimmt über seine Arbeitszeit verfügt? Ist die Ausdauer von Witts Symbolträgern – im Wissen um die konkurrierende Präsentation ihrer Videoperformances – womöglich nur dem Wettbewerb geschuldet oder vielleicht doch dem Wunsch, der eigenen Überzeugung Nachdruck zu verleihen?

Schöne neue Arbeitswelt

Gleitzeit heißt diese simple, aber deshalb nicht minder ausdrucksstarke Videoarbeit Anna Witts, die aktuell im 21er-Haus (offiziell nun "Belvedere 21") zu sehen ist. Es ist Teil eines Solos, das sich den drastischen Veränderungen in der schönen neuen Arbeitswelt widmet. Somit widmet es sich auch einer Zeit, in der Ethik, wie Witt sagt, oft nicht mehr Resultat einer gesellschaftlichen Übereinkunft ist, sondern mehr und mehr von Unternehmen definiert und gelenkt wird. Die Science-Fiction ist gegenwärtig. Dieser Umstand darf einen gern ein wenig gruseln.

"Wir müssen effizienter, schneller, flexibler werden." Zitat aus "Körper in Arbeit" (2018) von Anna Witt.
Videostill: Courtesy Anna Witt / Galerie Tanja Wagner

Erfolgreich ist heute, wer – nonstop – kreativ, spontan, mobil und plurikompetent ist, netzwerken kann und sich im Job selbstverwirklicht. Der Geist, der den Ideen der 68er entsprungen ist und in der selbstbestimmten Künstlerexistenz eine Flasche gefunden hat, er hat sich nun paradoxerweise einen anderen, neoliberalen Dienstherren gesucht.

"Wir wollen glückliche Mitarbeiter. Nur dann hat man Produktivität", heißt es demnach auch in Witts neuestem filmischem Werk Körper in Arbeit. Oder: "Selbstkontrolle ist Selbstverantwortung – die wollen wir fördern." Witt hat eine Textcollage aus langen Gesprächen gefügt, die sie mit der Personal- und Managementebene eines Hotels und einer Bank, aber auch deren Mitarbeitern in Housekeeping, Gebäudemanagement und Bankgeschäft sowie mit Bauarbeitern rund um den neuen Hauptbahnhof geführt hat.

Videostill aus "Körper in Arbeit" (2018)
Foto: v

Aus vielen Stimmen wird hier eine, die über die neue Freiheit, die Arbeit auch auf der Toilette erledigen zu können, sinniert, vom Sich-selbst-Adaptieren und -Transformieren, von den Herausforderungen des Change und dem Leben als Projekt. Was aber, wenn im optimierten Großraumbüro noch kein optimiertes Selbst sitzt? Sondern eines, das sich fragt, wie viel von ihm noch sichtbar ist, wenn alles Persönliche im Spind verstaut ist?

Allzeit zur Leistung bereit

Es ist eine Atmosphäre des Unbehagens, die Witt entstehen lässt und der sie eine subtile, als Verstärker wirkende Bildebene schenkt: Ihr Videomosaik aus Büropflanzen, -accessoires und Atrien der neuen Arbeitstempel durchsetzen trainierte Körper, die, allzeit zur Leistung bereit, den Schritt zu Selbstoptimierung schon vollzogen haben. Es sind Calisthenics-AthletInnen, die nichts als ihre Körper und architektonische Strukturen (Treppen, Geländer, Säulen) für Kraftübungen nutzen. Stemmt sich ein angespannter Leib horizontal von einer Stange weg, heißt das Human Flag.

Human Flag, der Mensch als wehende Fahne, gab der Schau auch den Titel. Witts Arbeit ist nicht allein durch ihre politische Brisanz, die sich durch den Fokus auf Individuum, Arbeit und Gesellschaft ergibt, sondern wegen ihres partizipativen Charakters so eindringlich. Das Gegenüber ist nicht nur Thema, sondern Mitgestalter an ihren Arbeiten. Anna Witts Eröffnen von Handlungsräumen für eine andere mögliche Welt hat emanzipatorische Kraft. (Anne Katrin Feßler, 28.2.2018)

Weiterlesen: "Unbequemes Denken reaktivieren" – anlässlich der Verleihung des BC21-Kunstpreises 2013 an Anna Witt