Vater, Mutter, Kind: Familie ist mehr.

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Familiensoziologin Ulrike Zartler forscht zu den vielfältigen Formen des Zusammenlebens mit Kindern.

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Vater, Mutter, Kind. Zwei Mütter oder zwei Väter mit Stiefkind. Patchwork- oder Pflegefamilie. Mutter mit Kind, alleinerziehend. Familiäres Flickwerk gehört in der Gesellschaft schon lange zum Leben. Von künstlicher Befruchtung bis Polyamorie: Unterschiedliche Beziehungs- und Kindkonstellationen haben das traditionelle Familienmodell nachhaltig ins Wanken gebracht. Was die Begriffe "Vater" und "Mutter" bezeichnen, ist längst nicht mehr eindeutig.

Familie als soziales Gebilde

"In der Soziologie nennen wir das Differenzierung von Elternschaft", sagt Ulrike Zartler. Sie arbeitet zu Familiensoziologie, Kindheitssoziologie, Familien nach Trennung oder Scheidung sowie Familien und Recht am Institut für Soziologie der Universität Wien. Elternsein, das umfasst genetische, biologische, soziale und rechtliche Elternschaft, erklärt sie. Diese Aspekte können jeweils gemeinsam auftreten, müssen aber nicht: wenn etwa die genetische Elternschaft durch Samen und Eizellenspende begründet wird oder die biologische Elternschaft durch Leihmutterschaft ausgelagert wird.

Bisweilen kümmern sich nicht nur Personen mit Verwandtschaftsverhältnis um ein Kind, in Patchwork- und Regenbogenfamilien spricht man von sozialer Elternschaft – ebenso wenn Stiefeltern oder Taufpaten die Elternrolle übernehmen. Und auch was die rechtliche Elternschaft betrifft, müssen die Erziehungsberechtigten nicht zwingend die leiblichen Eltern sein. "Historisch haben sich diese vier Bereiche häufig gedeckt. Heute gibt es Konstellationen, wo alle oder einzelne dieser vier Aspekte der Elternschaft auseinanderfallen", so die Soziologin.

Die traditionellen Vorstellungen von Vater und Mutter stehen sowohl von reproduktionsmedizinischer als auch von sozialer Seite zunehmend auf unsicheren Beinen. Doch statt die Vielzahl existierender Familienverhältnisse in den Blick zu nehmen, orientieren sich Politik und Recht noch immer am Konzept der bürgerlichen Kernfamilie bestehend aus Mutter, Vater und ihren gemeinsamen Kindern, sagt Zartler. Sei es im Steuerrecht, Pensionsrecht oder die Sozialversicherung betreffend: "Die Politik hat ganz klar das Bild der Kernfamilie vor Augen, wenn sie an Familie denkt." Das hätte auch die jüngste Diskussion rund um den Familienbonus nahegelegt.

Alleinerziehende von Politik vernachlässigt

Dass die Politik der Realität der unterschiedlichen Familienmodelle nicht ausreichend gerecht wird, zeigt sich deutlich am Beispiel der Alleinerziehenden. Fünfzehn Prozent der Familien mit Kindern unter 18 Jahren sind alleinerziehend. 90 Prozent der Alleinerziehenden sind Frauen. "Gerade Alleinerziehende werden von der Politik sehr stark vernachlässigt", stellt die Soziologin klar. Dabei wären viele Maßnahmen vorstellbar, die Ein-Eltern-Haushalten das Leben erleichtern würden.

Schon die Tatsache, dass zur Berechnung dessen, wie viel Geld ein Kind benötigt, mit Zahlen einer Kinderkostenanalyse auf Basis der Konsumerhebung von 1964 operiert werde, ist für die Wissenschafterin unfassbar. Auch wenn diese Zahlen an den Index angepasst wurden, "entspricht der Warenkorb nicht den aktuellen Lebensbedingungen von Kindern in unserer Gesellschaft", sagt sie.

Indessen sind Scheidungen für viele Familien Realität. 2007 hatte die Scheidungsrate in Österreich mit fast 50 Prozent ihren Plafond erreicht, seither sinke sie wieder langsam. Auch die Art und Weise, wie man noch in den 1970er-Jahren Scheidungen wahrgenommen hat, hat sich grundlegend verändert, erzählt Zartler. In der Forschung habe man damals zahlreiche ursächliche Zusammenhänge hergestellt: "Als naheliegende Scheidungsfolgen für Kinder galten schlechte Leistungen in der Schule, Verhaltensstörungen, psychische Probleme, Drogenkonsum, Teenagerschwangerschaften, verfrühte sexuelle Kontakte, also ein ganzes Bündel an problematischen Entwicklungen." Mittlerweile zeigen Studien deutlich, dass sich Kinder mittelfristig zumeist gut an die Situation nach einer Scheidung anpassen können, sofern das elterliche Konfliktniveau nicht zu hoch ist und es den Eltern gelingt, die Paarebene von der Elternebene zu trennen.

Die prägende Schablone

Wer oder was Familie ist, hat sich im Laufe der Jahrzehnte stetig verändert. In den 1950er-Jahren waren Familienstrukturen für kurze Zeit sehr einfach. Konservativ und klassisch in der Rollenaufteilung war der Vater Oberhaupt und Ernährer der Familie, während sich die Mutter um Kinder und Haushalt kümmerte. "Das war historisch der erste Moment, wo es für einen großen Teil der Bevölkerung auch finanziell möglich war, das Familienmodell der bürgerlichen Kernfamilie zu leben", sagt Zartler. Historisch betrachtet ein extrem kurzer Zeitraum: "Schon 1968 bröckelte wieder, was hier an heiler Welt produziert wurde." Die Schablone, die sich ab dem 18. Jahrhundert als Idealbild einer bürgerlichen Kernfamilie entwickelt hatte, prägte dennoch die nachfolgenden Jahrzehnte wesentlich.

In manchen Bereichen verlaufe gesellschaftlicher Wandel eher zäh. Zartler forscht unter anderem zum Familienbegriff aus Kinder- und Elternperspektive. Das Bild, das Kinder von ihrer Umwelt als ideale Familienform vermittelt bekommen, sei nach wie vor vom Modell der bürgerlichen Kernfamilie bestimmt. "Das sind oft Kleinigkeiten: ein Werbeplakat im Vorbeigehen, ein Halbsatz des Lehrers, der andeutet, dass bei Alleinerzieherhaushalten etwas fehlen würde, dass sie nicht komplett seien", so die Wissenschafterin. Das spiegelt sich auch in den verwendeten Begrifflichkeiten wider. "Unsere Interviewpartner – Kinder wie Erwachsene – verwenden Begriffe wie 'normale', 'vollständige', 'komplette' oder 'intakte' Familie." Diese Begrifflichkeiten seien auch immer mit Wertigkeiten verbunden.

Alternative Modelle selten Werbesujets

Dass sich das Bild der Kernfamilie so hartnäckig in den Köpfen halte, liege auch an der medialen Vermittlung. Die bürgerliche Kernfamilie, "das ist die Folie, vor der Familie gedacht wird, wann immer man eine glückliche Familie sehen möchte". Alleinerziehende, Regenbogenfamilien oder andere alternative Familienmodelle würden in Österreich nur selten als Sujet großangelegter Werbekampagnen herangezogen. "Das passt eher schlecht zum fortschrittlichen Bild, wonach Familie viele unterschiedliche Formen haben kann", sagt die Soziologin.

Eines ist für Zartler sicher: Gedeihliches Miteinander, das kann in unterschiedlichen Familienkonstellationen gelebt werden – und hat nichts mit bürgerlicher Kernfamilie zu tun. "Es gibt nicht die einzig wahre, allein seligmachende Familienform." Was eine Familie aber braucht? Zartler zitiert Urie Bronfenbrenner. Der US-amerikanische Entwicklungspsychologe hat einmal gesagt: "Every child needs at least one adult who is irrationally crazy about him or her." Dieses Verrücktsein nach einem Kind, diese bedingungslose Liebe, ist nicht notwendigerweise mit einem Verwandtschaftsverhältnis verbunden. Ein Kind brauche jemanden, der sich wirklich darum kümmert, wie es diesem Kind geht, und der dieses Kind bestmöglich durchs Leben begleitet. Und: "Eine Kernfamilie ist keine Garantie dafür, dass ein Kind eine solche Person hat", so Zartler. (Christine Tragler, 11.3.2018)