Robert Winterstein (3. v. li.) als Justizminister bei einer Parade auf der Wiener Ringstraße 1935.

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Magda Winterstein, Ehefrau des Ministers Robert, mit ihren Söhnen Erich, Claus und Peter (v. li.), 1926, Jahre vor der Katastrophe.

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Werner Winterstein: "Würde meine Hand nicht ins Feuer legen."

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Wenn Werner Winterstein an die Villa seiner Großeltern im Währinger Stadtteil Pötzleinsdorf zurückdenkt, sieht er eine "große, schöne Treppe, die vom Erdgeschoß in den ersten Stock führte und dort im Wohnzimmer endete". Der heute 80-jährige Architekt sieht aber auch etwas anderes vor sich, wenn er an die Treppe des Hauses denkt: "Wie sie meinen Großvater die Stiegen hinuntertreten. Im Pyjama. So wie er war. Vor den Augen meiner Großmutter, der Köchin und der Haushälterin."

Es war der 14. März 1938, und noch bevor die Sonne an diesem Tag über Wien aufging, stürmten etwa ein Dutzend SA- und Gestapo-Männer die Villa Winterstein. Sie traten gegen die Tür, zerschlugen straßenseitig ein Fenster, warteten gar nicht erst ab, bis das Hausmädchen Hildegard sie einließ. Die Männer in den schweren Stiefeln brüllten "Wo ist er, der Saujud?!", während sie durch das Haus polterten.

März 2018: "Dieser Satz, er fasst die ganze Tragödie unserer Familie zusammen", erzählt Werner Winterstein 80 Jahre später im Gespräch mit dem STANDARD und rührt ernst in der Kaffeetasse, die vor ihm auf dem Tisch steht.

Er kann sich natürlich nicht aktiv an die dramatischen Szenen erinnern, war er zu jener Zeit doch noch ein Baby. Aber er lebte als Kind später in der Villa und hatte die Szenen wieder und wieder erzählt bekommen. Von der Oma und dem Hausmädchen, einer Frau, die heute 100 Jahre alt wird und am Rand von Wien lebt. "Sie regt sich immer noch so auf, wenn sie von diesem Tag erzählt", sagt Winterstein.

Aus einem "eben noch angesehenen, geschätzten Bürger wurde innerhalb von 24 Stunden der 'Saujud'. Das ging so schnell, das hätte er sich selbst nicht gedacht", sagt Werner Winterstein über seinen Großvater.

Robert Winterstein war in der Ersten Republik Jurist, machte eine steile Karriere als Justizminister, Generalprokurator, war Mitglied des Bundesrates und Stellvertreter des Vorsitzenden des Staatsrats (heute vergleichbar mit dem Zweiten Nationalratspräsidenten). Und: Er war Jude.

Das letzte Familienfest

Robert Winterstein war 64, als man ihn die Stiegen seines Hauses hinuntertrat. Er kam nie mehr nach Hause zurück. Er hinterließ seine Ehefrau Magda, eine geborene Brausewetter, und damit Spross einer ebenfalls angesehenen, allerdings protestantischen Familie, und die gemeinsamen drei Söhne Peter, Claus und Erich. Die drei Buben wurden innerhalb von drei Jahren von 1905 bis 1907 geboren.

Die Tragödie hatte für die Familie schon am 13. März ihren ersten Akt. An diesem Tag war die ganze Familie zum letzten Mal um einen Tisch in der Villa in Währing versammelt. Auch das Kleinkind Werner und seine Eltern – der älteste Sohn des Politikers Peter und dessen Frau Maria. Denn Peter feierte an diesem Tag seinen 33. Geburtstag.

Feierstimmung wollte keine aufkommen, denn schon am Vormittag standen zwei Männer vor der Tür, die dem Politiker wohlbekannt waren: Seine beiden Jagdgehilfen, die plötzlich Parteiabzeichen der NSDAP angesteckt hatten, und ein Polizist, der bereits offen die Hakenkreuz-Armbinde trug. Man wollte wissen, ob Schusswaffen im Hause waren. "Aber das wissen Sie doch", sagte Winterstein zu seinem Jagdaufseher, "meine Jagdwaffen." Die seien konfisziert, hieß es dann.

"Meine Oma hat den Mann nach 1945 wiedergesehen", erzählt Werner Winterstein, "Frau Minister, hat er zu ihr gesagt. Sie hat die Straßenseite gewechselt." Wegen der Großmutter, die keine Jüdin war, wurde die Villa nicht arisiert, Enkel Werner lebte später als Kind dort.

Sein Großvater, der für den Enkel "eigentlich ein unpolitischer Mann war, ein Beamter, nie Mitglied einer Partei", hatte die Situation eindeutig nicht ernst genug genommen, so Winterstein. Kurz nach seiner Rede am 11. März, die im Radio übertragen wurde und mit "Gott schütze Österreich" endete, habe Bundeskanzler Kurt Schuschnigg in der Villa in Pötzleinsdorf angerufen und den Großvater eindringlich gewarnt.

Hitler habe ihm bei ihrem Treffen im Februar am Obersalzberg (siehe: "Ich bin entschlossen, dem ein Ende zu machen" angekündigt, dass er an Mitgliedern der österreichischen Justiz zuallererst Rache nehmen würde, sobald die Nazis in Wien seien. Es war die Rache für Otto Planetta und Franz Holzweber, die als Mörder von Bundeskanzler Engelbert Dollfuss 1934 nach dem gescheiterten Juli-Putsch der Nationalsozialisten verurteilt worden waren.

"In Aspern steht ein Flugzeug, das mich nach Prag bringen soll", soll Schuschnigg zu Winterstein am Telefon gesagt haben, "das stelle ich Ihnen gern zur Verfügung." Winterstein hielt das für übertrieben. "Der Seyß (Arthur Seyß-Inquart, am 15. März 1938 von Hitler zum Reichsstatthalter von Österreich ernannt, Anm.) wird mich schon nicht verhaften lassen", tat er die Warnung ab.

Nach seiner Verhaftung nur etwas mehr als zwei Tage später wurde der einstige Minister mit einem sogenannten Prominententransport in das KZ Buchenwald gebracht. Dort wurde er im Steinbruch im April 1940 erschossen. "Von hinten", betont sein Enkel. Seine drei Söhne flohen alle ins Ausland. Claus und Erich 1938 zunächst nach Frankreich. 1940 ging es weiter: für Erich, der Schauspieler und Regisseur wurde, in die Schweiz, von wo er 1945 zurückkehrte. Claus floh weiter nach Curaçao, das allerdings in holländischer Hand war – er wurde dort zwei Jahre interniert, überlebte und wurde nach 1945 österreichischer Diplomat.

Schweigen nach Mauthausen

Werner Wintersteins Vater Peter wurde 1941 in Holland verhaftet und in das KZ Mauthausen deportiert, wo er am 6. Mai 1945 schwerkrank die Befreiung erlebte. "Mein Vater hat nie über diese Zeit geredet", sagt Werner Winterstein. Er verbrachte nach der Befreiung drei Jahre in einer Lungenheilanstalt in Davos. In Wien wurde er vom selben Dienstgeber, der ihn 1938 entlassen hatte, wieder als Bankprokurist angestellt.

Nicht nur weil Schuschnigg versucht hatte, seinem Großvater das Leben zu retten, fällt die Beurteilung des Enkels Werner Winterstein in Bezug auf den damaligen Kanzler, den er in den 1950er-Jahren, als Schuschnigg wieder nach Österreich kam, bei Familienfeiern in St. Gilgen kennenlernte, auffallend milde aus. Dass er den austrofaschistischen Ständestaat mit aufbaute und autoritär regierte, ist für Winterstein kein Grund, ihn besonders kritisch zu sehen: "Dann müsste ich auch meinen Großvater verurteilen, er war Teil dieser Regierung."

Schuschnigg habe "ungemeine Haltung bewahrt", sagt Winterstein im STANDARD-Gespräch, er habe sich "Hitler entgegengestellt, wie das keiner der Anzugträger der heutigen Regierung schaffen würde, und er hat einen Patriotismus gezeigt wie nur wenige".

Er habe den ehemaligen Bundeskanzler in der Nachkriegszeit auch "nie als gebrochenen Mann erlebt. Dass nicht alles optimal gelaufen ist, war ja evident, aber es gab keine selbstkritischen Töne."

Politik als Start-up

Wesentlich härter geht der Architekt, der selbst jahrzehntelang für die ÖVP Bezirksrat im ersten Bezirk war und nach dem Tod seines Vaters an dessen Stelle in den Vorstand der ÖVP-Kameradschaft der politisch Verfolgten nachrückte, mit dem heutigen Bundeskanzler und dessen Regierungsteam ins Gericht: "Diese Dressman-Politiker sehen Politik als Start-up, als Castingshow. Sie verstehen sich nicht als Diener des Staates, sondern machen das für die Karriere. Wenn es nicht hinhaut, machen sie morgen etwas anderes." Politiker "vom Format eines Schuschnigg, Raab, Figl oder auch Kreisky sind ausgestorben", glaubt er.

Werner Winterstein ist alles andere als ein Linker, hat aber mit der ÖVP nichts mehr zu tun. "Wenn Sebastian Kurz das Beste ist, was die Partei zu bieten hat, mache ich mir wirklich Sorgen", sagt er, "aber ich kenne die ÖVP gut, diese ganze Nibelungentreue, die man zur Schau trägt, bröckelt ohnehin schon in den Bundesländern. Wenn er einen Fehler macht, werden die ihn fallenlassen wie eine heiße Kartoffel."

Nach der Empörung über das rechtsextreme Medium "Aula", das ehemalige Häftlinge aus dem KZ Mauthausen unter anderem als "Kriminelle" und "Landplage" bezeichnet hatte – ein Ermittlungsverfahren gegen die Zeitung war von der Staatsanwaltschaft Graz eingestellt worden -, meldete sich Winterstein Anfang 2016 in einem offenen Brief an den damaligen ÖVP-Justizminister Wolfgang Brandtstetter zu Wort. Immerhin hatte sein eigener Vater Mauthausen schwer gezeichnet überlebt. Das Verhalten der Justiz war für ihn nicht hinnehmbar.

Eines sei für Winterstein, der schon 2008 das Buch "Anmerkung: Prominent" (Böhlau-Verlag) über die Geschichte seiner Familie geschrieben hatte, heute sicher: "Ein Schuschnigg hätte sich nicht mit einem H.-C. Strache auf einen Regierungspakt geeinigt."

Der heutige Bundeskanzler Kurz müsse "endlich seine künstliche Aura, die ihm PR-Manager verpasst haben, durchbrechen und sprechen. Zu den antisemitischen Umtrieben in Burschenschaften nichts zu sagen, die finanzielle Unterstützung der "Aula" durch den Koalitionspartner zu dulden, das geht einfach nicht", empört sich der Nachfahre von Opfern der NS-Diktatur.

"Vor zehn Jahren noch sicher"

Wie hat Winterstein die eigene Familiengeschichte geprägt? Sieht er die Zukunft durch das Schicksal seines Großvaters und Vater pessimistischer als andere?

"Ich war mir vor zehn Jahren noch sicher, dass es nicht möglich ist, dass sich die Geschichte wiederholt. Sie wiederholt sich auch nicht ganz gleich. Aber jetzt würde ich meine Hand nicht mehr ins Feuer legen. Ich kann meinen Kindern und Enkelkindern nicht mehr sagen: Macht euch keine Sorgen." (Colette M. Schmidt, 11.3.2018)