Alkiviadis Stefanis saß in einem großen Transporthubschrauber auf dem Weg von der kleinen Insel Ro nach Rhodos, als zwei türkische Kampfjets an den Kabinenfenstern auftauchten. Die Jetpiloten versuchten, den Hubschrauber des griechischen Armeechefs abzudrängen. In Brüssel versammelten sich in jenem Moment die Staats- und Regierungschefs der EU. Nach Jahren der Passivität verurteilten sie in ihrer Abschlusserklärung nach dem Gipfeltreffen am vergangenen Donnerstag die "illegalen Aktionen" der Türkei.
Denn in der Ägäis und im östlichen Mittelmeer steht die Uhr auf fünf vor zwölf. Ob der Zeiger vorrückt und Griechenland und die Türkei, die eigentlich Verbündete in der Nato sind, plötzlich gegeneinander Krieg führen, ist eine ernste Frage geworden.
"Dog fights" über der Ägäis
Den Zwischenfall auf dem Flug nach Rhodos klärte die griechische Luftwaffe schnell. Kampfjets stiegen innerhalb von Minuten auf und trieben die türkischen Maschinen aus dem griechischen Luftraum. Sogenannte "dog fights" über der Ägäis und Drohmanöver der türkischen Marine unten auf der See sind Routine. Sie haben nur erheblich zugenommen. Um 200 Prozent mehr Luftraumverletzungen im vergangenen Jahr und 600 Prozent mehr Vorfälle auf See mit der Türkei registrierte der Generalstab der griechischen Armee, gemessen am Durchschnitt der Jahre seit 2010.
Tayyip Erdoğan, dem autoritär regierenden Präsidenten in Ankara, passt die Landkarte nicht mehr. Er schiebt an den Grenzen in der Ägäis und im östlichen Mittelmeer herum, zu Luft und zu Wasser. Er greift nach den Öl- und Gasvorkommen, die vor der Küste Zyperns vermutet werden, und nach den Inseln der Griechen. Erdoğans Minister haben ebenso wie die säkulare sozialdemokratische Opposition begonnen, von "besetzten" Inseln in der Ägäis zu sprechen, die eigentlich der Türkei gehörten. Ihre Zahl schwankt wild zwischen 17 und 132.
Bohrschiff blockiert
Die Aggressionen haben in den vergangenen Wochen noch zugenommen. Türkische Kriegsschiffe drohten im Februar ein Bohrschiff des italienischen Mineralölkonzerns Eni vor Zypern zu versenken. Ein türkisches Patrouillenboot rammte mit voller Wucht ein Schiff der griechischen Küstenwache vor Imia, zweier unbewohnter Inselfelsen vor Bodrum. Ein anderes türkisches Schnellboot feuerte mit scharfer Munition vor der Insel Farmakonisi im Dodekanes. 21 Flüge türkischer Kampfjets im griechischen Luftraum, manche mitten über der Ägäis, zählte Athen am vergangenen Donnerstag. 56 waren es allein am 6. März.
Zu Beginn des Monats nahm die türkische Gendarmerie zwei griechische Soldaten an der Landesgrenze fest. Die beiden Offiziere, die bei einer Routinepatrouille auf türkisches Gebiet abgekommen sein sollen, sitzen seither in einem Gefängnis in Edirne und warten auf einen Prozess. "Geiseln" nennt sie die griechische Regierung bereits. Ihr Fall wird zur Sprache kommen, wenn sich die EU-Spitze an diesem Montag in der bulgarischen Hafenstadt Varna mit Erdoğan trifft.
Tiefpunkt seit 1996
"Erdoğans Rhetorik und Taten haben ein höchst unsicheres Umfeld geschaffen. Wir haben in unserer Region in der jüngeren Geschichte nichts Vergleichbares gesehen", sagt Nikolas Katsimpras, ein Professor für Konfliktforschung an der New Yorker Columbia Universität und ehemaliger griechischer Marineoffizier. Die griechisch-türkischen Beziehungen seien jetzt auf ihrem tiefsten Punkt seit 1996, als die beiden Länder wegen der Inselfelsen Imia beinahe einen Krieg begannen.
Die Zwillingsfelsen von Imia – Kardak heißen sie im Türkischen – sind auch jetzt wieder einer der Brennpunkte. Die heutige Krise mit den Türken sei jedoch weitaus gefährlicher als jene vor 22 Jahren, glaubt Ilias Iliopoulos, ein Marinehistoriker und Professor an den Hochschulen der griechischen Armee. "Sie könnten dieses Mal weitergehen und im Handstreich eine Insel besetzen. Keine große natürlich, nicht Lesbos oder Kos. Aber eine kleine wie Farmakonisi oder Pserimos, wohin Touristen von Kos im Sommer schnell einmal hinfahren, sonst aber nur wenige Menschen leben. Das halte ich jetzt durchaus für möglich."
Verhandlungen unter Druck
Ankaras Absicht sei nicht, eine griechische Insel zu kassieren, so erklärt Iliopoulos. Die türkische Führung wolle vielmehr die Griechen an den Verhandlungstisch zwingen. Athen soll eine neue Realität in der Ägäis akzeptieren: die Machtverschiebung zugunsten der Türkei. Achtmal mehr Einwohner hat die Türkei, die zweitgrößte Armee in der Nato nach den USA und – wie sich in Syrien erweist – auch einen neuen strategischen Bündnispartner in Gestalt Russlands.
Der Türkei geht es zum einen darum, dass Griechenland die laut UN-Seerechtskonvention von 1982 erklärte, aber bisher nicht umgesetzte Ausdehnung der Seegrenzen von derzeit sechs auf zwölf Seemeilen (11,11 km, respektive 22,22 km) zurücknimmt. Eine solche Ausdehnung kann gemäß Völkerrecht ohnehin nur nach dem Prinzip der Verhältnismäßigkeit und mit Rücksicht auf das Gewohnheitsrecht erfolgen. Sie bedarf also einer Verhandlung mit der Türkei.
Streitpunkt Kontinentalsockel
Ankara will andererseits aber auch eine Anerkennung des anatolischen Kontinentalsockels. Das könnte der Türkei Anspruch auf Gasvorkommen vor Zypern geben, aber auch die Forderung nach Übergabe griechischer Inseln stützen.
Dass den Griechen eine solche Paketlösung unter Druck aufgezwungen würde, dafür sorgen dann die Amerikaner. Davon ist Ilias Iliopoulos überzeugt. Er sieht den Film schon ablaufen: Die Griechen sind die Schwächeren, das Moment liegt bei den Türken, die Amerikaner mahnen zur gütlichen Einigung unter Verbündeten. Von der Nato in Brüssel sei keine Hilfe zu erwarten. Sie setze auf den "Geist des gegenseitigen Vertrauens und der Solidarität" zwischen Griechenland und der Türkei, wie es ein Sprecher der Allianz formuliert.
Die Militärexperten sind sich da nicht so sicher. Das Risiko eines militärischen Konflikts sei beachtlich, sagt Nikolas Katsimpras: von der Türkei entweder absichtlich herbeigeführt aus strategischen Überlegungen oder aber wegen eines Zwischenfalls, der außer Kontrolle gerät. Davor warnt auch Griechenlands Verteidigungsminister Panos Kammenos: "Wir sind sehr nahe an einem fatalen Unfall." (Markus Bernath, 25.3.2018)