In der Kommandozentrale für die Versorgung sitzen. Die Bilder der beiden Diskutantinnen wurden ins Ambiente der österreichischen Pensionsversicherungsanstalt im
2. Bezirk in Wien montiert. So sahen dort einst die Empfangsbereiche aus.

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Gesundheitsministerin Beate Hartinger-Klein: "Zum Umgang mit älteren Menschen auf Augenhöhe zählt auch, dass wir ihre Erfahrung mehr schätzen müssen."

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Geriatrie-Ärztin Katharina Pils: "Es heißt immer, die Anzahl der Pflegebedürftigen steigt eklatant an. Das stimmt so nicht. Wir beobachten, dass die Anzahl derjenigen, die Pflege benötigen, nur langsam zunimmt."

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STANDARD: Arbeit, Soziales, Gesundheit und Konsumentenschutz: Frau Bundesministerin, Sie leiten ein riesiges Ressort. Ist es nicht eine zu große Aufgabe?

Beate Hartinger-Klein: Ich bin froh über die Zusammenlegung, da Gesundheit so gesamtheitlich betrachtet werden kann. Der psychische Zustand von Menschen hängt beispielsweise stark von der gesellschaftlichen Einbindung und Teilhabe ab. Vor allem Arbeit hat hier einen großen Stellenwert. Ebenso die Pflege, die im Bereich Soziales angesiedelt ist. Insofern gibt es in meinen Ressorts mehrere Schnittstellen zum Gesundheitswesen.

STANDARD: Wächst damit der Gestaltungsspielraum?

Hartinger-Klein: Der Ärztekammerpräsident Thomas Szekeres hat einmal so lieb gesagt, ich sei mit 64 Milliarden Euro die mächtigste Frau Österreichs. Als Gesundheitsministerin ist es jedoch meine Aufgabe, weniger die Größe des Ressorts in den Mittelpunkt zu stellen, sondern die Menschen in all ihren Lebenslagen – von der Geburt bis zum Alter.

STANDARD: Was macht Ihnen die größten Sorgen?

Hartinger-Klein: Die größte Herausforderung ist sicher die Finanzierung im Bereich der Pflege und Sozialversicherung.

STANDARD: Ab welchem Alter wird statistisch gesehen Krankheit und Pflege ein Thema?

Katharina Pils: Es ist gefährlich, wenn Bevölkerungsgruppen zusammengefasst werden. Wir sprechen ja auch nicht von der Gruppe der Neugeborenen und 30-Jährigen. Die über 65- und 100-Jährigen sind ebenso heterogen. Ich arbeite seit 25 Jahren in der Geriatrie. Als ich begonnen habe, waren die Menschen mit 75 Jahren alt und unterstützungsbedürftig. Das hat sich maßgeblich geändert.

STANDARD: Inwiefern?

Pils: Der Pflege- und Betreuungsbedarf hat sich primär auf das Alter zwischen Ende 80 und Anfang 90 hinaufgeschoben. Wir leben also länger und gesünder als früher. Es heißt immer, die Anzahl der Pflegebedürftigen steigt eklatant an. Das stimmt so nicht. Wir beobachten, dass die Anzahl derjenigen, die Pflege benötigen, nur langsam zunimmt. Laut internationalen Erhebungen sind die Menschen am Lebensende im Schnitt rund 18 Monate pflegebedürftig. Allerdings wird die Gruppe der Babyboomer zu einem vermehrten Bedarf führen.

Hartinger-Klein: Die gesunden Lebensjahre sind sicher eine Herausforderung. Da sind wir in Österreich nicht sehr gut. Hier hat die Politik die Aufgabe, so lange wie möglich ein gesundes Altern zu ermöglichen.

Pils: Es kommt auch darauf an, wie ich Gesundheit definiere. Primäres Ziel sollte ein, die Selbstständigkeit zu erhalten. Wir müssen uns fragen, was eine Gesellschaft braucht, um möglichst lange autonom leben zu können. Wir wissen beispielsweise, dass über 75-Jährige noch ein Gesundheitspotenzial haben. Wir dürfen sie nicht als altes Wrack sehen, sondern als Menschen, die sich um ihre gesunde Lebenserwartung kümmern können.

STANDARD: Durch die Abschaffung des Pflegeregresses wird es dennoch zu einem erhöhten Bedarf an stationärer Pflege kommen. Wie kann dieser gedeckt werden?

Pils: Wir brauchen eine genaue Definition, wann ein Mensch stationär betreut und gepflegt werden muss. In den vergangenen Jahren wurde etwa die Zahl des hochqualifizierten Pflegepersonals reduziert. Dadurch kam es vermehrt zu einer Verlagerung weg von den Pflegeheimen hin zu den Krankenhäusern. Das ist der falsche Weg. Es zeigte sich auch, dass in Häusern, wo der Pflegeschlüssel relativ gut ist, es also genug qualifiziertes Personal gibt, die Menschen deutlich seltener in Akutspitäler überwiesen werden müssen.

Hartinger-Klein: Es ist ein personalisiertes System notwendig, das die Patienten an den richtigen Versorgungspunkt bringt – dort, wo sie am besten aufgehoben sind. Das heißt, dort Pflege bereitstellen, wo sie notwendig ist. Darüber, wie die Pflege zukünftig finanziert wird, werde ich mit Wissenschaftern verschiedene Modelle diskutieren. Eine Möglichkeit ist eine Pflegeversicherung im Rahmen der Sozialversicherungsbeiträge.

STANDARD: Was ist Ihre Vision für die Zukunft?

Pils: Wenn wir langfristig gute Pflege und Medizin für ältere Menschen anbieten wollen, muss die Geriatrie in Österreich einen höheren Stellenwert erhalten. Es geht darum, zu wissen, welche medizinischen Leistungen für diese Patienten überhaupt Sinn machen. Wir müssen lernen, welche Maßnahmen tatsächlich die Selbstständigkeit verlängern und den Pflegebedarf reduzieren, damit es zu keiner Fehlversorgung kommt. Dazu ist eine ausgezeichnete geriatrische Ausbildung notwendig.

Hartinger-Klein: Meine Vision ist Selbstverantwortung. Der Bürger soll lernen, selbst auf seine Gesundheit zu achten und sein eigener Gesundheitsmanager zu werden. Eine der Maßnahmen, um das zu erreichen, ist etwa die Ausweitung des Mutter-Kind-Passes bis 18 Jahre. Bereits junge Menschen sollen lernen, auf ihre Ernährung, auf ihren Lebensstil zu achten. Zudem müssen wir bereits im Kindergarten mit der Gesundheitsförderung ansetzen. Denn Kinder sind auch die besten Erzieher ihrer Eltern.

STANDARD: Was ist mit denen, die krank sind?

Hartinger-Klein: Wer aufgrund einer chronischen Erkrankung nicht mehr arbeiten kann, sollte von der Gesellschaft gestützt und getragen werden.

STANDARD: Politisch betrachtet könnte auch das Rauchverbot in der Gastronomie die Gesundheit fördern?

Hartinger-Klein: Ich habe nie geraucht, meine Eltern schon. Das hat mich so abgeschreckt, dass ich es nicht einmal probiert habe. Dass mir als Gesundheitsministerin die Aufhebung des Rauchverbots keine Freude macht, habe ich schon öfters kommuniziert. Lassen Sie sich überraschen, es werden noch ein paar Dinge kommen, die ich momentan verhandle.

STANDARD: Für einen gesunden Lebensstil braucht es Gesundheitskompetenz. Die ist in Österreich gering. Wie kann das geändert werden?

Pils: Dazu braucht es niederschwellige Angebote, besonders für ältere Menschen. Es geht darum, einen sogenannten One-Stop zu bieten. Das heißt, wer Hilfe braucht, sollte nicht im Gesundheits- und Sozialsystem herumgeschickt werden, sondern sich zielgenau an eine Stelle wenden können und dort Beratung erhalten. Besonders im häuslichen Pflege- und Betreuungsbereich ist es so, dass beispielsweise Frauen, die ihre älteren Lebenspartner pflegen und betreuen, ausbrennen und sich selbst nicht mehr finden. Es ist eine Ansprechstelle für alle Bürgerinnen und Bürger notwendig.

STANDARD: Wo sollte diese zentrale Stelle angesiedelt sein?

Pils: In sozialen Stützpunkten oder Primärversorgungszentren – also in jenen Bereichen, wo medizinische, pflegerische und sozialarbeiterische Kompetenz zusammentreffen. Von hier aus sollten auch Anträge für Pflegegeld, Hilfsmittel und Heilbehelfe gestellt werden können und die Kommunikation zwischen Hausarzt, Heimhilfe, mobiler Pflege, Therapeuten und Angehörigen möglich sein.

Hartinger-Klein: Zum Umgang mit älteren Menschen auf Augenhöhe zählt auch, dass wir ihre Erfahrung mehr schätzen müssen. Da haben Österreich und die mitteleuropäischen Länder noch viel zu lernen. In Japan etwa haben ältere Menschen einen weitaus größeren Stellenwert.

STANDARD: Bedeutet das auch Angleichung und Erhöhung des Pensionsantrittsalters?

Pils: Männer und Frauen sollten die gleichen Rechte, aber auch Pflichten haben. Was noch zu berücksichtigen ist: Unsere Lebenserwartung steigt kontinuierlich. Insofern wird es nicht möglich sein, dass wir weiterhin mit 60 oder 65 Jahren in Pension gehen. Vor allem Menschen, die intellektuelle Arbeiten verrichten – und deren Erfahrungsschatz genützt werden kann -, werden länger arbeiten können. Für körperlich belastende Berufsgruppen sollte es Sonderregelungen geben.

Hartinger-Klein: Es ist der falsche Ansatz, zu sagen, wir müssen länger arbeiten. Vielmehr sollte es heißen, wir dürfen auch im Alter noch arbeiten. Wir sollten die Voraussetzung dafür schaffen, dass Menschen eine Arbeit ausüben können, die ihnen Spaß macht. Für einen Industriearbeiter am Hochofen ist ein höheres Pensionsantrittsalter natürlich keine Option, doch da wird die Robotik uns helfen. Wir brauchen außerdem mehr Qualifizierung, allein schon durch die Digitalisierung. Denn die Industrialisierung 4.0 wird die Arbeitswelt völlig umgestalten.

STANDARD: Was ist mit jenen, die diesen Herausforderungen nicht gewachsen sind?

Hartinger-Klein: Da müssen wir diskutierten, ob es für diese Menschen eine Art Grundeinkommen gibt. (Günther Brandstetter, CURE, 8.4.2018)