Es war der amerikanische Basketball-Star Earvin "Magic" Johnson, der vor beinahe 27 Jahren vor laufender Kamera erklärte, er sei HIV-positiv. Seine Pressekonferenz galt als Meilenstein in der öffentlichen Wahrnehmung der (potenziellen) Krankheit. Die Debatte über HIV war in der Mitte der Gesellschaft angekommen.

Seit 1991 ist viel passiert, der Virus ist medizinisch kontrollierbar geworden, das Thema aus dem Fokus der breiten Öffentlichkeit weitgehend verschwunden. Und doch ist das Interesse jedes Mal gewaltig, wenn sich ein Prominenter als HIV-positiv outet. Der Schauspieler Charlie Sheen machte es vor zweieinhalb Jahren in der "Today"-Show des Senders NBC – einem der wichtigsten Talkformate des amerikanischen Fernsehens –, Gery Keszler vor drei Jahren anlässlich der Eröffnung des Life Balls. Auch ihm hörte ein Millionenpublikum zu. Wie Conchita Wurst jetzt auf Instagram: Der Account ist das wichtigste Sprachrohr der Künstlerin, ihm folgen knapp 300.000 Menschen.

Jeder der drei wählte jenen Medienkanal, auf dem er oder sie das Herz der Öffentlichkeit am besten erreicht. Ihre Worte waren wohlüberlegt und – davon ist auszugehen – mit ihren Medienberatern abgesprochen. Sie warteten nicht, bis ein Erpresser das Geheimnis ausplauderte (Sheen und Conchita) oder bis der Boulevard das Gentlemen's Agreement aufkündigte, welches darin besteht, dass über private Details in den Medien nicht gesprochen wird, obwohl man davon weiß (Keszler).

Out and Proud

Das Bekenntnis wurde nicht hinter vorgehaltener Hand oder im medialen Schmollwinkel abgelegt – in der Hoffnung, es würde davon niemand Notiz nehmen. Es wurde in bester Tradition der Schwulenbewegung (Out and Proud) in die Welt hinausgeschrien.

Das ist bei HIV und Aids noch immer nicht selbstverständlich. Wie bei kaum einem anderen Thema gehen hier öffentlich bekundetes oder geheucheltes Verständnis und moralisches Stirnrunzeln Hand in Hand. Als Charlie Sheen seine Infektion öffentlich machte, war das für die Medien nur der letzte – und logische – Baustein eines von Ausschweifungen geprägten Lebens. Das "Bekenntnis" wurde als Schuldeingeständnis interpretiert – so wie es im Christentum seit jeher der traurige Fall ist.

Quält man sich durch die tausenden Reaktionen und Postings, die Conchitas Outing auf Medienplattformen und in sozialen Netzwerken hervorgerufen hat, schwappt einem ein Morast aus Moralismus und Schadenfreude entgegen. Wieder einmal kann sich das Ressentiment gegen die bärtige Künstlerin entladen – und findet dabei in der von Sexualfeindlichkeit und bigotten Moralvorstellungen aufgeladenen Geschichte im Umgang mit HIV und Aids reichlich Nahrung.

Und wieder einmal steht dem die offensive Haltung eines Medienprofis gegenüber, der die Ökonomie der Aufmerksamkeit zu Nutzen weiß: für seine eigenen Zwecke und für jene der Sache. Charlie-Sheen-Effekt nannte man den Umstand, dass sich nach dem Outing des Schauspielers vermehrt Menschen testen ließen. Jetzt kündigt sich ein Conchita-Effekt an. (Stephan Hilpold, 16.4.2018)