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Proteste der Palästinenser zum 63. Jahrestag der Staatsgründung Israels im Jahr 2011 führten zu Ausschreitungen. Sieben Jahre später kann Israel sich immer noch nur als Staat im Zustand des Dauerkrieges vorstellen und "beschwört damit einen permanenten Ausnahmezustand herauf", sagt die Soziologin Eva Illouz.

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Eva Illouz vergleicht die Besatzung mit dem Rauchen: "Wir sind nicht fähig, über unsere eigene Sterblichkeit, unseren Tod nachzudenken. Und das, obwohl wir wissen, dass Zigaretten uns töten können. So ist es auch beim Nachdenken über die Besatzung."

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STANDARD: Israel wird 70 – ein Grund zum Feiern, oder um etwas furchtsam in die Zukunft zu blicken?

Illouz: Man muss schon sehr selbstgefällig sein, um nur feiern zu können. Nach jüdischer Tradition soll man bei der Hochzeit ein Glas zerbrechen, in Erinnerung an den Tag, als der Tempel zerstört wurde. Trauer muss Freude stören. Und ich denke, genauso sollten wir bei dieser freudigen Feier ein Glas zerbrechen, nicht in Erinnerung an den gefallenen Tempel, aber aus Angst davor, was die Zukunft bringen mag. Und das ist die Konsolidierung eines undemokratischen Staates mit einer jüdischen Mehrheit, der das Leben eines anderen Volkes kontrolliert. Das war in keinster Weise die ursprüngliche Intention des Zionismus. Das heutige Israel scheint die Kritik am Zionismus zu bestätigen, jene, dass er ein koloniales Unterfangen war. Dabei war es ein gerechtes Projekt, um ein Zuhause für ein mittelloses Volk zu finden.

STANDARD: Worin zeigen sich diese undemokratischen Tendenzen?

Illouz: Erstens im Versuch, oppositionelle Stimmen zu delegitimieren, sie Verräter zu nennen, Unterstützern der BDS-Bewegung (Boykott, Desinvestition und Sanktionen, Anm.) die Einreise zu verweigern. Das ist das Erste, was autoritäre Regime tun. Netanjahu hat das in den vergangenen Jahren mit großem Talent getan. Zweitens, indem Gruppen, die früher am Rande der israelischen Politik standen, heute ziemlich nah an oder an der Macht sind. Stimmen des pragmatischen Realismus konkurrieren mit Messianismus.

STANDARD: Sie meinen die Siedlerbewegung?

Illouz: Ja, teilweise, jene mit messianischen Ansichten über Israel, mit der Vorstellung, dass die militärische Eroberung des Landes eine göttliche Mission ist, dass wir die Projekte biblischer Figuren vollbringen müssen. Drittens werden Gesetze verabschiedet, welche die Legitimität der Recht sprechenden Gewalt und des Obersten Gerichtshofs unterminieren, die den jüdischen Charakter des Staates stärken – als ob es den nicht schon in überwältigender Weise gäbe.

STANDARD: Blickt die israelische Gesellschaft genauso sorgenvoll in die Zukunft, denkt sie über all das nach?

Illouz: Oh ja, ständig sprechen wir darüber, denken darüber nach. Aber was heißt "denken"? Man kann denken, ohne wirklich zu denken. Nehmen wir vielleicht als Analogie das Zigarettenrauchen. Du liest Studien, die beweisen, dass Zigaretten Krebs erregen. Und dennoch rauchst du weiter. Wir sind nicht fähig, über unsere eigene Sterblichkeit, unseren Tod nachzudenken. Und das, obwohl wir wissen, dass Zigaretten uns töten können. So ist es auch beim Nachdenken über die Besatzung: Manche Menschen hoffen, dass sie am Ende die Einheimischen besiegen, wie die Amerikaner und Australier gesiegt haben. Andere sind wie der Raucher, sie sind sich nicht vollständig darüber im Klaren, was das alles bedeutet. Einzelne wissen es zwar, aber als Kollektiv ist Israel sich nicht der drohenden Gefahr bewusst. Israel raucht seine selbstgedrehten Zigaretten einfach eisern weiter.

STANDARD: In einem Ihrer Essays schreiben Sie, in Israel gebe es ein nationales Leugnen der Besatzung und der Unterdrückung der Palästinenser. Gab es dieses Leugnen nicht immer schon?

Illouz: Das findet man in allen möglichen nationalen Bewegungen: Der Sieger erzählt seine Geschichte und unterdrückt die Geschichte der anderen. Aber in Israel haben die illiberalen Stimmen zugenommen. Sie haben die Sicht der anderen Seite mehr und mehr delegitimiert. Israel sieht sich als Staat im ständigen Kriegszustand – und ist das auch. Dauerkrieg und Demokratie passen nicht gut zusammen. In einem Zustand des dauerhaften Krieges verhalten sich die meisten Staaten sogar noch viel schlimmer als Israel. Das große Problem Israels ist, dass es sich selbst nur im Zustand des Dauerkrieges vorstellen kann und damit einen permanenten Ausnahmezustand heraufbeschwört.

STANDARD: Sie sagen, die gegenwärtige Regierung sei extrem rechts und autoritär. Wie konnte es dazu kommen?

Illouz: Der große anfängliche Fehler war, dass die Misrachim, die jüdischen Einwanderer aus dem Nahen Osten, 30 Jahre lang diskriminiert und ausgesondert wurden, während der Zeit, als die Arbeiterpartei an der Macht war. Die Aschkenasim, die Einwanderer aus Europa, kontrollierten das politische, wirtschaftliche und kulturelle Establishment. Die Arbeiterpartei beherrschte Israel, errichtete die wirtschaftlichen und politischen Institutionen. Es war eine Elite, wenn auch eine sozialistische. Sie häufte Macht an, schloss alle anderen aus und schuf so Groll und Ungleichheit. Sie hat die Linke für immer diskreditiert. Als die Misrachim verstanden, dass sie betrogen wurden, hörten sie auf, die Linke zu wählen. Die Linke ist langfristig zu einer unverlässlichen Option für die Arbeiterklassen dieses Landes geworden.

STANDARD: Steht Israel nun an einem Wendepunkt? Gewinnen die Misrachim jetzt nicht an Macht? Politiker wie Kulturministerin Miri Regev, selbst Marokkanerin, kämpft sehr für die Misrachim ...

Illouz: Sie gewinnen mehr Macht überall dort, wo sie nicht vom Urteil der Aschkenasim abhängen, also dann, wenn sie direkt von der Öffentlichkeit gewählt werden oder von Marktmechanismen abhängen. Wo sie aber von der Auswahl eines Komitees abhängen, in der Wissenschaft oder im kulturellen Bereich, werden sie noch immer ausgegrenzt. (Lissy Kaufmann, 18.4.2018)