Der Marlboro-Mann im Plüsch: Wolfgang Bauer, 1999 zu Gast im Wiener Hotel Sacher.

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1. Weil Wolfgang Bauers posthumer letzter Streich zugleich auch sein erster abendfüllender war. Die Wiedergewinnung von Der Rüssel – Eine Tragödie in elf Bildern gleicht einem Rätsel. Der Grazer Dramatiker dürfte diesen metaphysischen Bauernschwank 1962 geschrieben haben. Erstaunlich bloß, dass Bauers (damals) bestes Stück so lange spurlos verschollen blieb.

Wie Der Rüssel seinem Verfasser abhandenkam, bleibt ein ungelöstes Rätsel. Bauer selbst würdigte sein Jugendwerk kaum einer Erwähnung. Posthum fand sich ein Durchschlag des Typoskripts im Nachlass des Komponisten Franz Koringer. Wie dem auch sei: Das Stück, das seit 2015 wieder vorliegt, verrät frühe Meisterschaft. Es wird, nach Verstreichen einer Schicklichkeitsfrist, am Freitag im Wiener Akademietheater uraufgeführt (Regie: Christian Stückl, 19.30 Uhr).

2. Weil niemand anderer als Wolfgang Bauer solche Fabeln schreiben konnte. Der Inhalt stellt ein Musterexemplar des in unseren Breiten stark vernachlässigten Absurden Theaters dar. Auf einem sturmgepeitschten Bergesgipfel siedeln drei Generationen einer dysfunktionalen Bergbauernsippe, die auf den Namen Thilo hört.

Florian, der jüngste Spross, hilft einem tosenden Wildbach dabei, einen waschechten Elefanten zu gebären. Damit nicht genug, verändern sich auch Fauna und Flora. Meterlange Riesenschnecken wandern in die Pfannen der Älpler, Palmen wuchern anstelle von Gipfelkreuzen.

3. Weil jedem Bühnenausstatter angesichts von Bauers Bilderfindungen das Herz in der Brust lachen muss ("Am Wildbach. Tropische Flora überwuchert die alpine"). Die Dörfler bewirten den furchtbar laut trompetenden Elefanten mit Eierspeisen und Bananenbündeln. Angespornt von der problematischen Autorität Florians, bringen sie dem Tier und dessen Geburtshelfer zunächst kultische Verehrung entgegen.

Alle hoffen inständig auf einen Aufschwung des lokalen Tourismus. Leider verklemmt sich der Rüssel des zutraulichen Dickhäuters im Fenster des Bauernhauses der Thilos. Lange bevor Bauer mit der Uraufführung von Magic Afternoon (1968) in den Augen vieler Österreicher zum Bürgerschreck avancierte, nahm er als 21-Jähriger Maß an den großen absurden Autoren seiner Epoche: an Samuel Beckett, Eugène Ionesco, Jean Genet oder Jacques Audiberti. Der Rüssel fällt somit komplett aus der Entwicklungsgeschichte der heimischen Dramatik heraus. Bauer-Biograf Thomas Antonic stellt "Magic Wolfi" sogar in einen weltliterarischen Kontext:

"Tatsächlich war das Theater des Absurden, das sich hauptsächlich in Frankreich und England abspielte, für Bauer sehr viel wichtiger als Nestroy, Grillparzer, Raimund, Schnitzler oder Hofmannsthal." Der Rüssel sei das einzige abendfüllende "absurde" Stück in deutscher Sprache, abgesehen von einigen (völlig zu Recht) vergessenen Beispielen aus den Federn von Max Frisch oder Günter Grass in den 1950er-/1960er-Jahren.

4. Weil Bauer alle Spießer bis aufs Blut gereizt hat. Bauers Theater rief seit Magic Afternoon verlässlich kulturkonservative Protestierer auf den Plan. Am Hyperrealismus dieses und der nächsten Stücke etwa bis Magnetküsse (1976) entzündete sich eine Kritik, die die Darstellung des antibürgerlichen Milieus – seine Langeweile, die ostentative Maulfaulheit, die Gewaltbereitschaft – für ein Selbstbekenntnis Bauers hielt. Privat war der Grazer ein ebenso geselliger wie umgänglicher Mensch. Elfriede Jelinek und Peter Handke wurden posthum nicht müde, "Wolfis" Genialität zu betonen.

Gegen Florian, den Elefantenzüchter, bildet sich in der aufgeheizten Bergluft eine Hetzmeute, die von einem Kaplan namens "Wolkenflug" angeführt wird. Florian landet prompt am Galgen. Davon erfährt der Zuschauer allerdings schon zur Mitte des Stückes, da eine entsprechende Totenszene vom Autor an die Stelle der sechsten Szene – von insgesamt elf – gesetzt wird. Nicht die einzige Provokation, die gegen die Wölbungsform des Spannungsbogens gerichtet ist. Bauer bedient sich etlicher Verfremdungseffekte, um das konventionelle Theater zu desavouieren.

5. Weil das Theater Bauers Spielvorlagen nötiger hat denn je. Bauer (1941–2005) entstammt der Tradition der Wirklichkeitszertrümmerer. Er schrieb nach 1980 Stücke, die jegliches Geschehen "aus dem Kopf des Protagonisten heraus darstellen" (Antonic). Einerseits setzte sich Bauer mit Stoffen auseinander, die der Entwicklung vorgriffen und virtuelle Realität (Café Tamagotchi) oder Klonen (Die Menschenfabrik) verhandelten. Der allmähliche Zerfall personaler Identität scheint das Leitmotiv. Andererseits nehmen zahlreiche Spiegeleffekte und Binnenreferenzen das Kino von David Lynch oder David Fincher vorweg.

Im Rüssel wird übrigens das kolossalste Kartenspiel der Welt praktiziert. Gespielt wird es von drei Personen, die 900 Karten aufnehmen müssen. Die Szenenanweisung verrät Mitgefühl: "Alle tun sich furchtbar schwer beim Halten ihrer 300 Karten." (Ronald Pohl, 19.4.2018)