Vom ersten Moment an habe sie sich im Frauenhaus unterstützt, sicher und geborgen gefühlt, erzählt Anna, die nach mehr als 20 Jahren in einer Gewaltbeziehung Hilfe suchte. Der Rückhalt sei enorm, Mitarbeiter und andere Frauen stets füreinander da.

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Die kleine Tasche stand bereits seit mehreren Tagen im Büro. Ganz langsam sollte sie voll werden. Jeden Tag brachte Anna ein paar Kleidungsstücke dafür von Zuhause mit – ihr Mann sollte auf keinen Fall Verdacht schöpfen, sie könnte ihn verlassen und Hilfe suchen. Schlussendlich ging es schneller als gedacht. "Die Tasche war fast leer", erinnert sich Anna an jenen Tag, an dem sie den entscheidenden Schritt wagte und in eines der vier Wiener Frauenhäuser ging.

Man muss dabei wirklich von wagen sprechen, denn Anna habe bis zu jenem Tag der Mut gefehlt, die gewohnte Umgebung zu verlassen. "Ja, es war schlimm. Aber das war mein Leben, wie ich es kannte. Ich war lange Zeit einfach zu niedergeschlagen, zu müde, um mich zu trauen."

Anderen Frauen Mut machen

Gerade deswegen will Anna ihre Geschichte erzählen: Jahrelange Angst, das Warten auf Veränderung – all das sei nicht notwendig. "Hier im Frauenhaus sind alle gleich. Jede hat ihre Geschichte und man ist füreinander da. Der Rückhalt ist enorm. Ich möchte, dass das andere Frauen in ähnlichen Situationen wissen."

Die Worte kommen Anna, die eigentlich anders heißt, nicht leicht über die Lippen. Die Stimme zittert, ihre Finger graben sich in ihren Oberarmen ein, sie spricht schnell. Und als sie sich an jenen Tag erinnert, an dem sie aufgewühlt und besorgt im Frauenhaus ankommt, kommen ihr die Tränen. "Ich wurde ab der ersten Sekunde so unglaublich warmherzig empfangen, ich habe sofort gewusst, hier bin ich sicher. Hier kann ich wieder atmen."

Mehr als 20 Jahre lebte Anna in einer Gewaltbeziehung, das kriegen auch die erwachsenen Kinder mit. Sie warnen die Mutter, schlagen ihr vor, Schutz in einem Frauenhaus zu suchen. "Aber das kam mir so komisch vor. Ich wusste nichts über Frauenhäuser und fragte mich, ob das so ähnlich ist wie in einem Obdachlosenheim, man lebt am Rande der Gesellschaft."

Anna überlegte sich stattdessen ein eigenes Ausstiegsszenario, besuchte eine Therapeutin – zweimal, dann erfuhr es ihr Mann. "Er hat mir verboten wieder hin zu gehen und gemeint, ich sei selber Schuld an der Situation. Wenn ich mich besser verhalten würde, dann würde es nicht so weit kommen."

Immer neue Abgründe

Die Geschäftsführerin der Wiener Frauenhäuser, Andrea Brem, hat neben Anna Platz genommen. "Atmen Sie durch, nehmen Sie einen Schluck Wasser" – Brem merkt, dass Anna eine kurze Pause gut tut. Sie hat bereits unzählige solcher Geschichten gehört. "Da denkt man eigentlich, man kennt sämtliche Gewaltformen und Dinge, die Männer Frauen antun können. Aber das Arge ist, dass auch ich immer wieder in neue unfassbare Abgründe blicke", sagt Brem.

Die Beratung, die Frauen – auch vor oder nach dem Aufenthalt im Frauenhaus – in Anspruch nehmen können, wird deswegen immer wieder adaptiert. In den letzten Jahren sei beispielsweise das Thema Soziale Medien dazugekommen. Verfolgung, Kontrolle, Erpressung – all das können Smartphones erleichtern.

Das Thema spielt auch in der Geschichte von Anna eine Rolle. Als sie nach langer Überlegung eines Tages eine Beratungsstelle aufsuchte, wies man sie dort an, sofort ihr Handy auszuschalten. "Das hat mich zunächst gewundert", sagt Anna. Als ihr Mann am gleichen Abend zu ihr sagt sie solle aufpassen, wo sie in ihrer Arbeitszeit überall hingeht und man könne so etwas heutzutage ganz leicht elektronisch nachvollziehen, lief es ihr kalt den Rücken hinunter.

Wie viele Frauen in Wien Schutz fanden

Zu einer neuerlichen Beratung kam es nicht mehr. Als es an einem Tag bereits in der Früh zu heftigem Streit kam und ihr Mann ständig in der Arbeit anrief, war der Moment gekommen. "Ich hatte plötzlich eine undefinierbare Angst vor dem Nachhausegehen." Anna handelt schnell, verständigt zuerst eine Freundin und ruft dann im Frauenhaus an. Sie schaltet das Handy aus und macht sich auf den Weg. Minuten später sei ihr Mann in der Arbeit gestanden.

Letztes Jahr wurden in Wien 624 Frauen wie Anna und 640 Kinder in Frauenhäusern betreut. Vor 20 Jahren waren es 390 Frauen und 419 Kinder. Über alle 40 Jahre verteilt wurden 17.371 Frauen und 17.071 Kinder erreicht – 36,5 Prozent davon im letzten Jahrzehnt.

Eine Warteliste gibt es nicht mehr. Wenn eine Frau in einer Notsituation ist, dann werde ein Platz gefunden, auch wenn eigentlich schon alles voll sei. "Jeder Tag Wartezeit kann einer zu viel sein", sagt Brem.

Anna ist sich sicher, dass sie keinen Moment mehr länger hätte warten können. Im Frauenhaus angekommen weint sie zuerst viel. "Ich war meistens im Raucherzimmer, weil ich die anderen nicht stören wollte. Ich konnte nicht schlafen." Sie habe sich eine Art Kokon gebaut, Gefühle und Gedanken geordnet. Nach zweieinhalb Wochen traute sie sich zurück an ihren Arbeitsplatz, weil das Kontaktverbot schriftlich ausgesprochen war. Nach zweieinhalb Monaten bezog Anna dann eine neue Wohnung und reichte die Scheidung ein.

Für sie ist klar: Es gibt kein zurück und das ist gut so. Das Frauenhaus sei für sie nicht das Ende, sondern der Anfang von etwas. Im Vorbeigehen könne man das alles aber nicht schaffen, fügt Anna hinzu. "Es braucht viel Kraft. Kraft von der man nie wusste, dass man sie überhaupt hat."

Verbesserungen beim Thema Obsorge

Obwohl sich im Bereich Gewaltschutz rechtlich seit Gründung der Frauenhäuser sehr viel verbessert habe, etwa das Betretungsverbot oder das Kontaktverbot, sieht Brem in vielen Bereichen nach wie vor Verbesserungsbedarf, etwa beim Thema gemeinsame Obsorge. "Wenn Gewalt im Spiel ist, sollte es diese Möglichkeit nicht geben, denn Kinder werden oft zum Erpressungsmittel." Auch dass sich Obsorgeverfahren teilweise über Jahre ziehen würden, sei dabei nicht hilfreich, Frauen und Kinder seien während dieser Zeit oft ständigem Psychoterror ausgesetzt.

Ganz vorbei ist es auch bei Anna noch nicht. Die Scheidung bringt noch einige heikle Situationen mit sich. "Ich bin vorbereitet und weiß, dass ich es schaffe." (lhag, 26.4.2018)