Seit Februar ist Brigitte Bierlein Präsidentin des Verfassungsgerichtshofes. Im STANDARD-Interview rechnet Bierlein damit, dass sich das Höchstgericht bald mit den türkis-blauen Plänen eines Kopftuchverbots für Mädchen in Kindergärten und Volksschulen befassen wird. Das Vorhaben findet sie problematisch, wenngleich die Meinungen darüber auseinandergingen, inwieweit ein Verbot die Religionsfreiheit betreffe.

Kritisch äußert sich die Höchstrichterin zur Forderung nach einer Verschärfung des Strafrechts. Die bestehenden Normen seien ausreichend: "Gerade das Strafrecht sollte eine Gewisse Stabilität aufweisen."

STANDARD: Sie waren die erste Frau als Vizepräsidentin des Verfassungsgerichtshofs, jetzt sind Sie die erste Präsidentin. Wie stehen Sie eigentlich zu einer Frauenquote?

Bierlein: Ich bin grundsätzlich keine Freundin der Quote, weil Frauen das eigentlich nicht mehr brauchen sollten. Im öffentlichen Dienst ist eine Quote im Großen und Ganzen nicht mehr notwendig. Aber in der Privatwirtschaft schaut das dann doch noch etwas anders aus.

STANDARD: Der VfGH soll ein gesellschaftspolitisches Abbild sein, von 14 Richtern sind aber nur vier weiblich. Kürzlich wurden drei Posten nachbesetzt, alles Männer.

Bierlein: Das stimmt und ist natürlich bedauerlich. Man muss aber auch sagen: Es haben sich nur wenige Frauen als Verfassungsrichterin beworben.

"Manchmal wartet die Politik auch ab, was wir tun, und schiebt damit Verantwortung ab – etwa bei der Ehe für alle."
Foto: Heribert Corn

STANDARD: Das Hearing im Parlament war bloß Formsache. Wer Verfassungsrichter werden soll, hat Türkis-Blau sich vorher ausgemacht. Die Bestellungen haben dann für viel Wirbel gesorgt: Wolfgang Brandstetter hat ja vom Justizministeramt praktisch direkt an die Freyung gewechselt ...

Bierlein: ... was verfassungsrechtlich zulässig ist. Es ist das erste Mal in der Zweiten Republik, dass ein früheres Regierungsmitglied Höchstrichter wird. Eine Cooling-off-Phase gibt es nicht, sie gilt nur für Präsident und Vizepräsident. Brandstetters Wechsel bringt natürlich einen gewissen organisatorischen Aufwand, für den aber vorgesorgt ist: Er nimmt – wie wir alle – die Anscheinsbefangenheitsregelung sehr ernst. Wird ein Gesetz geprüft, achten wir strikt darauf, ob ein Richter mit der Sache auch nur am Rande etwas zu tun gehabt haben könnte. Ist das der Fall, nimmt er sich raus. Dafür gibt es die sechs Ersatzmitglieder.

STANDARD: Und die anderen beiden neuen Richter: Michael Rami, langjähriger Anwalt der FPÖ. Und Andreas Hauer, ein Burschenschafter, der den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte für "eine multikriminelle Gesellschaft" verantwortlich macht.

Bierlein: Es gibt drei Anwälte bei uns. Kollege Michael Rami hat schon einzelne Fälle benannt, bei denen er in Medienverfahren in irgendeiner Form beteiligt war, und hat sich in diesen für befangen erklärt.

STANDARD: Aber kratzt es nicht am Image des Höchstgerichts, wenn ein Verfassungsrichter eine europäische Institution diffamiert?

Bierlein: Das glaube ich nicht: Ich möchte hier nur auf die Aussagen von Bundespräsident Alexander Van der Bellen verweisen. Dieser hat anlässlich der Nominierung von Professor Hauer gemeint, dass einem Rechtsprofessor inhaltliche Kritik an einem Höchstgericht zusteht. Wie der Bundespräsident gehe auch ich davon aus, dass Hauer sein Amt in Zukunft verantwortungsvoll wahrnehmen wird.

STANDARD: Ihr Amtsvorgänger Gerhart Holzinger klagte über "stakkatoartiges Aufeinanderfolgenlassen von Novellen" im Asyl- und Migrationswesen. Das könne nicht funktionieren. Jetzt steht wieder ein Fremdenrechtspaket an. Hat die Politik nichts gelernt?

Bierlein: Der Befund stimmt. In manchen Rechtsgebieten werden sehr häufig Änderungen vorgenommen. Für die Rechtssicherheit ist das nicht gut, keine Frage – sowohl für die vollziehenden Organe als auch für die Betroffenen. Andererseits glaubt man, dadurch Gesetze treffsicherer zu machen.

STANDARD: "Treffsicher machen" ist eine freundliche Auslegung. Hat es nicht mehr mit Populismus zu tun?

Bierlein: Das hoffe ich nicht. Das wäre bedauerlich.

"Es braucht keine Korrektur. Gerade das Strafrecht sollte eine gewisse Stabilität aufweisen."
Foto: Heribert Corn

STANDARD: An den neuen Plänen von Innenminister Herbert Kickl (FPÖ) gab es schon viel Kritik. Er will, dass Asylanträge nicht mehr auf europäischem Boden gestellt werden können.

Bierlein: Ich bitte um Verständnis: Für den Fall, dass der Aspekt im Gesetz steht und das auch bei uns angefochten werden könnte, möchte ich vorweg keine Meinung äußern.

STANDARD: Sie ahnen es also schon.

Bierlein: Wir prüfen auch von Amts wegen viel. Aber noch weiß man auch gar nicht, wie ein solches Gesetz genau aussehen soll.

STANDARD: Im Ministerrat hat die Regierung diese Woche nochmals ihr Vorhaben einer bundeseinheitlichen Mindestsicherung dargelegt. Darin enthalten sind Punkte, die das Höchstgericht beim niederösterreichischem Modell bereits aufgehoben hat: die Wartefrist für Asylberechtigte und die Deckelung. Ärgert Sie das?

Bierlein: Ohne Details zu kennen, hoffe ich, dass sich die Regierung nach unseren Erkenntnissen richtet. Ich will künftigen Entscheidungen nicht vorgreifen, kann mir aber nicht vorstellen, dass der Gerichtshof in diesen Punkten von seiner Entscheidung abgeht.

STANDARD: Ein anderes Vorhaben der türkis-blauen Regierung, das heftig diskutiert wird, ist ein Kopftuchverbot für Mädchen unter zehn Jahren. Wie stehen Sie dazu?

Bierlein: Auch das wird mit großer Wahrscheinlichkeit zu uns kommen. Daher nur so viel: Es ist sicher problematisch, wobei die Meinungen auseinandergehen, wieweit das die Religionsfreiheit betrifft oder nicht.

"Ohne Details zu kennen, hoffe ich, dass sich die Regierung nach unseren Erkenntnissen richtet." Die Höchstrichterin Bierlein mahnt Türkis-Blau, sich an vergangenen Sprüchen zu orientieren.

Foto: Heribert Corn

STANDARD: Gut, dann ganz grundsätzlich gefragt: Entspricht es den Grundrechten, eine Religion hervorzuheben – Kippa und Kreuz erlaubt, Kopftuch verboten?

Bierlein: Ich gehe davon aus, dass alle Religionsgemeinschaften gleich behandelt werden sollten.

STANDARD: Derzeit ist explizit die Kippa vom Verbot ausgenommen.

Bierlein: Warten wir ab, was die Regierung wirklich plant. Das sind doch alles noch Absichtserklärungen.

STANDARD: Sie kommen aus dem Strafrecht: Es wurde eine Taskforce Strafrechtsreform eingerichtet. Ein Argument dafür war, dass viele Menschen auf Facebook nach strengeren Strafen rufen. Braucht es die?

Bierlein: Aus meiner Praxis weiß ich, dass die Strafrahmen, die es gibt, in den seltensten Fällen ausgeschöpft werden. Das ist heute noch so. Es braucht keine Korrektur. Gerade das Strafrecht sollte eine gewisse Stabilität aufweisen.

STANDARD: Reichen die bestehenden Normen?

Bierlein: Großteils sicher. Und auf Internet-Kommentare würde ich überhaupt nicht bauen.

STANDARD: Warum nicht?

Bierlein: Das spiegelt nicht die Meinung der Bevölkerung wider. Außerdem bin ich gegen jede Anlassgesetzgebung. Einzelfälle können nie ein Grund sein, um ein ganzes System zu hinterfragen. Leider wird genau das immer wieder betrieben. Legistisch ist das der falsche Zugang.

STANDARD: Gerade wird ein Sicherheitspaket verabschiedet. Grundsätzlich gefragt: Schafft mehr Überwachung auch mehr Sicherheit?

Bierlein: Das ist natürlich ein sensibles Gebiet. Auf der einen Seite gibt es Kriminalitätsformen, die es früher nicht gab, für deren Bekämpfung es ein gewisses Instrumentarium braucht. Trotzdem muss immer die Balance gewahrt werden. Die Verhältnismäßigkeit zwischen dem Eingriff in die Grundrechte, also etwa die Freiheit der Person oder den Datenschutz, darf nicht zugunsten eines Bedürfnisses nach Sicherheit betroffen sein.

STANDARD: Und jetzt sagen Sie gleich: Das landet wohl bei uns ...

Bierlein: Wir haben schon einmal die Vorratsdatenspeicherung geprüft und aufgehoben. Dabei wurden Pflöcke eingeschlagen: Nur bei Verdacht auf schwere Kriminalität sind solche Maßnahmen zulässig, es müssen sofortige Löschungsmaßnahmen erfolgen, und es darf keine flächendeckende Überwachung der gesamten Bevölkerung geben.

STANDARD: Aber der Bundestrojaner steht jetzt wieder im Gesetz. Was sagen Sie zu dieser staatlichen Spionagesoftware?

Bierlein: Ich will die Details nicht beurteilen. Der Gerichtshof würde das auf jeden Fall genau prüfen.

STANDARD: Auffallend ist, dass die Regierung bei vielen Vorhaben die Grenze der Verfassung ausreizt. Ist das ein Delegieren an das Höchstgericht?

Bierlein: Es ist die Aufgabe des Gerichtshofes, diese Grenzen aufzuzeigen. Manchmal wartet die Politik auch ab, was wir tun, und schiebt damit Verantwortung ab – etwa bei der Ehe für alle. (Marie-Theres Egyed und Peter Mayr, 27.4.2018)