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Jedes Gehirn ist unterschiedlich, das bringt die bildgebenden Verfahren wie die Magnetresonanztomografie an ihre Grenzen.

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STANDARD: Das menschliche Gehirn ist ein unwahrscheinlich komplexes Organ. Biogen hat in seiner Forschung einen Schwerpunkt gesetzt. Warum?

Friedl-Naderer: Weil wir seit 40 Jahren in diesem Bereich tätig sind und Medikamente entwickelt haben, die dazu beitragen, die Lebensqualität der Patienten zu verbessern. Aber es gibt immer noch viele Patienten, die an neurologischen Krankheiten leiden und für die es keine Therapie gibt.

STANDARD: Zum Beispiel?

Friedl-Naderer: Multiple Sklerose ist ein Bereich, in dem wir seit langem aktiv sind. Als wir angefangen haben, gab es so gut wie keine Therapie für diese schubförmig verlaufende, chronische Erkrankung, die die Nervenleitungen zerstört und über die Jahre zu Behinderungen führen kann. Mittlerweile wissen wir, dass es unterschiedliche Verlaufsformen gibt, die jeweils eine andere Medikation erfordern. Therapien müssen individuell angepasst werden. Wir forschen in diese Richtung weiter.

STANDARD: Sie meinen die Therapie mit monoklonalen Antikörpern?

Friedl-Naderer: Antikörper sind hochspezifische, sehr effektive Medikamente. Wir brauchen aber auch eine gute Diagnostik, wie zum Beispiel die Bildgebung.

STANDARD: Der Kopf ist durch den Schädel gut geschützt. Es gibt 100 Milliarden Nervenzellen, an denen wieder unendlich viele Synapsen hängen. Das sind Hürden bzw. die Grenzen der Bildgebung.

Friedl-Naderer: Das Gehirn ist sehr komplex. Bis heute verstehen wir es nicht ganzheitlich. Die Anzahl der Synapsen verändert sich auch im Laufe des Lebens – so auch das neuronale Netzwerk. Bei neurologischen Erkrankungen wie zum Beispiel MS werden die Nervenzellen geschädigt. Welche Konsequenzen diese Schädigung für den Patienten haben, hängt jedoch davon ab, wo diese stattfindet

STANDARD: Inwiefern?

Friedl-Naderer: Entscheidend ist nicht der Schub an sich, sondern die Frage, wo die Läsionen im Gehirn entstehen. Die Bildgebung im Magnetresonanztomografen gibt uns darüber Auskunft. Die Fortschritte in der Radiologie führen zunehmend zu mehr Einblick. Wir können nicht nur die Krankheitsverläufe besser beobachten, sondern sehen auch, ob eine Therapie wirkt. Multiple Sklerose ist eine Erkrankung, die stark mit dem Immunsystem verbunden ist. Aus dieser Wechselwirkung ist auch das neue Forschungsfeld der Neuroimmunologie entstanden. Die Neurologie ist an einem Punkt, an dem die Onkologie vor 30 Jahren war. Wir stehen kurz vor großen Durchbrüchen.

STANDARD: Welchen genau?

Friedl-Naderer: Die spinale Muskelatrophie ist eine seltene Erkrankung, die genetisch bedingt ist. Betroffene können Babys, Kinder und Erwachsene gleichermaßen sein. Sie produzieren zu wenig von einem spezifischen Protein, das für Muskelaufbau und -funktion wichtig ist. Bei Babys kann diese Erkrankung auch tödlich verlaufen. Das Medikament, das wir entwickelt haben, regt die Produktion dieses Proteins an, ist damit lebenserhaltend und wird seit letztem Jahr in Europa auch für alle Altersgruppen zugelassen.

STANDARD: Wie steht es um die Gentherapien von neurodegenerativen Erkrankungen?

Friedl-Naderer: Das ist sicherlich die Zukunft, allerdings ist es noch zu früh, von einer klinischen Anwendung in unserem Bereich zu sprechen.

STANDARD: Die spinale Muskelatrophie ist eine seltene Erkrankung. Wie steht es um die Alzheimer-Forschung. Da gab es in den vergangenen Jahren eigentlich nur Rückschläge.

Friedl-Naderer: Das ist richtig und zeigt, wie komplex das Gehirn ist. Wir hoffen mit unserer Forschung den richtigen Ansatz zur Behandlung der Alzheimer-Demenz gefunden zu haben. Aktuell haben wir zwei große Medikamentenstudien im Bereich Alzheimer laufen. Wir erwarten die Resultate aber erst in einigen Jahren.

STANDARD: Oder vielleicht auch nicht – bei der amyotrophen Lateralsklerose hat Biogen einen schweren Rückschlag erlitten.

Friedl-Naderer: Das ist das Risiko in der Medikamentenentwicklung. Das Gehirn ist, wie gesagt, sehr komplex, da geht es darum, die Nerven zu bewahren, richtige Ansätze zu finden und konsequent zu verfolgen. (Karin Pollack, 22.5.2018)